Das Virus als Wille und Vorstellung
An die Freundinnen und Freunde der körperlosen Gesellschaft
Was fällt, das soll man stoßen! war schon immer der Wahlspruch aller Apologeten des falschen Fortschritts. Die Krise als dessen Vehikel braucht heute nicht einmal mehr in ihren negativen Konsequenzen wahrgenommen werden. Wer oder was ein anachronistisches Überbleibsel der alten Gesellschaft ist, wissen alle eigentlich ganz genau. Einzelhandel und Gastronomie? Waren vorher schon angezählt und können sich nun auch nicht beklagen. Flugreisen? Haben der Umwelt geschadet. Rauchen? Der Gesundheit. Alte und Kranke? Kommen weiterhin nur als Objekt plump inszenierter Empathie vor. Keineswegs ist die Gesellschaft in der Corona-Krise eine humanere geworden. Alle Anstrengungen haben vielmehr gemein, dass sie im Resultat darauf hinauslaufen, den menschlichen Körper unsichtbar zu machen, weil er der Wertvertwertung nach wie vor eine Schranke setzt. Welches Ausmaß dieser Prozess angenommen hat, zeigt sich daran, wie selbst so einstmals unveräußerliche Dinge wie ein Studium in leiblicher Präsenz dabei sind, zu verschwinden. Jetzt schon ist klar, dass kein Student vor April 2021 wieder einen Seminarraum von innen sehen wird. Generell gilt: Je mehr kreative Lösungen gefunden und je länger sie durchgehalten werden, desto weniger Grund besteht zu der Annahme, sie könnten irgendwann wieder zugunsten des alten schlechten Zustandes zurückgenommen werden.
Allerorts werden gerade Selbstverständlichkeiten reihenweise und höchst freiwillig einkassiert. Massenmedien sind zu Lebensratgebern geworden, die Nachhilfe geben in Sachen Home-Office und Home-Schooling, anstatt mit gegebenen Ernst über die Folgen der Wirtschaftskrise zu berichten. Vielerorts ist die eigene Lebensgrundlage dauerhaft in Frage gestellt, überall werden wie natürlich enorme Einschränkungen hingenommen; und das alles, ohne dass diese schleichenden Veränderungen in der Öffentlichkeit angemessen zur Sprache gebracht werden könnten. Die aktuellen Rationalisierungsmaßnahmen treten mit einem qua Natur gerechtfertigten, sprich: göttlichen Selbstbewusstsein auf. Alles, was sich vorher noch schüchtern gegen die Umwälzung der Verhältnisse gewehrt hatte, kann nun unter dem Vorwand der Virusbekämpfung sauber abgeräumt werden. Hatten frühere Phantasmen vom Neuen Menschen noch wenigstens auf der Oberfläche eine Befreiung vom Joch der Geschichte versprochen, ist die Durchsetzung der Brave New World mit Corona zum reinen Abwehrgefecht geworden. Die Gewalt der Natur bräche ein – und Gesellschaft vermag nichts dazu, als sich vorsätzlich tot zu stellen. Dass Menschen ihre eigenen Verhältnisse noch selbst machen könnten, ist mit der aktuellen Krise in noch weitere Ferne gerückt. Unter Strafe des politischen wie sozialen Untergangs darf dem eisernen Sachzwang des naturwissenschaftlich-technischen Denkens nicht widersprochen werden. Handlungsfähigkeit, hinter dessen Schein sich politische Macht verschanzt, kann nur noch bewiesen werden, wenn der Missstand permanent beschworen, man möchte fast sagen: selbst produziert wird. Denn die Vernichtungsdrohung, die man im Virus meint erkennen zu können und die sich bei den Individuen als allgemein akzeptierte Panik Bahn bricht, entspringt nicht der Natur, wohl aber einem gesellschaftlichen Zustand, der dem survival of the fittest wieder immer ähnlicher wird. Je deutlicher also den Einzelnen kommuniziert wird, dass sie nichts weiter sein sollen, als ein hochtechnifizierter Arbeitskraftbehälter, desto größer ist die allgemeine Bereitschaft, die Bedrohung der eigenen Existenz in einen äußeren Feind, in die Natur zu projizieren.
Mittlerweile ist klar, was schon Anfang des Jahres zu wissen war: das Massensterben durch das neue Killervirus findet glücklicherweise nicht statt. Rückkehr zur Normalität, wie erbärmlich auch immer, ist trotzdem nicht in Sicht. Was einmal angestoßen wurde, purzelt dann von allein weiter. Die Frage ist jetzt, wie die neue, also die alte Normalität aussehen wird? Nicht unwesentlich dafür scheint, dass dort, wo die gesamte Riege der Geistes- und Büro-Menschen ansonsten horrende Anstrengung darauf verwenden muss, sich um die Erkenntnis der eigenen Überflüssigkeit herum zu drücken, mit dem Wiederaufbau der Corona-Gesellschaft ein schier unendliches Betätigungsfeld gefunden ist. Neben einem Diversity- braucht nun auch die letzte Start-Up-Klitsche noch einen Hygiene-Beauftragen, der die kniffelige Aufgabe löst, die von der Bundesregierung ausgeheckte Formel: AHA (Abstand halten – Händewaschen – Alltagsmasken) bedürfnisorientiert neu zu interpretieren. Fußball, Theater, Stammtisch, selbst der Städtetrip – alles kann online und in der eigenen Wohnung stattfinden. Alles stellt eine Herausforderung dar, die ihren Problemlöser sucht. Wo die aktuell aus dem Boden gestampften Konzepte dann nicht gleich beibehalten werden, stehen sie zukünftig für den nächsten Regulationsexzess bereit – irgendein Anlass wird sich schon finden. Es sind gute Zeiten für alle, die gar nicht genug vorgeschrieben bekommen können, wie ihr Leben bis hinunter zur Verrichtung von kleinen Alltäglichkeiten aussehen soll. Corona befriedigt ein tiefsitzendes Bedürfnis, sich den Widersprüchen zu entledigen, mit denen ein jeder schon beim minimalsten Weltkontakt konfrontiert ist. Wer sich dem Verhaltenskodex unterwirft, erntet nicht nur ein Gefühl moralischen Überlegenheit, sondern kann sich gleichzeitig einbilden, dass es endlich wieder auf ihn ankäme. Das Angebot, das Corona macht, ist verlockend, und es wird dankend angenommen.
Die bereits zuvor bestens in die virtuelle Parallelrealität intrigiert waren, hatten nur darauf gewartet, dass die Kanzlerin ihnen sagt, wann sie sich die Hände waschen sollen – und fleißig hält man sich noch immer daran. Die Identifikation mit der Macht geht auch bei scheinbar kritischen Zeitgenossen wieder als notwendiges Eintreten für Vernunft und Sachlichkeit durch. Lieber als mit der Fraktion der alten Männer vom Kaliber eines Frank Castorf zusammengeworfen zu werden, schließt man sich stolz dem Team Merkel an. Lieber als die notwendig als Pose erscheinende, vulgäre Kritik am Untertanentum ist einem der gedankenlose Konformismus, der als neutrales Realitätsbewusstsein auftreten kann. Selbst stille Verweigerung, die kleinen und großen Absurditäten mitzumachen, zu denen der Alltag zusammengeschrumpft ist, wird als pubertärer Trotz verlacht, als wäre das eifrige Maske-Tragen nicht das eigentlich Entwürdigende. Wo es für die fundamentalen Einschnitte vorher doch noch eine politische Rechtfertigung brauchte, kann jetzt jeder Blödsinn durchgesetzt werden, weil alle sich fataler Weise darauf verlassen, es werde schon alles einmal wieder wie zuvor. Indem man einerseits die eigene Ohnmacht geradewegs herausschreit, kann man andererseits umso emsiger daran teilhaben, die große Maschinerie neu zusammenzusetzen. Rädchen möchten die Menschen sein, funktionieren können ohne den lästigen Einspruch eines bedürftigen, nur mühsam unterdrückten Körpers. Corona zeigt, wie einfach es auch ohne ihn geht.
Basisbanalitäten, wie die Erinnerung daran, dass die formelle Betriebsgrundlage eines jeden demokratischen Staates in der unbedingten Kritik seitens des Staatsvolkes läge, werden mit souveräner Geste abgeschmettert. Wie fadenscheinig und irreal die Verteidigung des freien Westens geworden ist, kann daran abgelesen werden, wie verbissen man jede Debatte darüber abwehrt, wie freiheitlich dieser freie Westen denn eigentlich noch ist. Wer auf den Komplettausfall jeglichen republikanischen Widerspruchs, die temporäre Selbstgleichschaltung der Medien und die Aussetzung bürgerlicher Freiheitsrechte hinweist, dem wird von selbsternannten Kommunisten entgegengehalten: Das alles habe nichts mit Staatshörigkeit zu tun und auch die höchstselbst betriebene Isolation von der Welt sei bloß die eben notwendige Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz von Menschenleben, der sich kein klar denkender Mensch erwehren könne. Wer dagegen ganz undialektisch darauf beharrt, dass Herrschaft keinesfalls abgeschafft ist, ergo ein zutiefst herrschaftliches Gebilde wie der bürgerliche Staat nicht von heute auf morgen zum menschenrettenden Philanthropen-Verein mutieren kann, der wird in völliger Entleerung dieses Begriffes den verschwörungstheoretischen Spinnern zugeschlagen. Selbst wenn die westlichen Gesellschaften noch ein Minimum an individueller Freiheit bewahren, zeigt das Spektakel um Corona, wie bereitwillig man auf Knopfdruck zum volksgemeinschaftlichen Modus überzugehen bereit ist. In Deutschland, das mal wieder als Bewältigungsweltmeister dasteht, ist dafür nicht einmal eine staatliche Machtdemonstration von Nöten.
Zu bedenken wäre ganz grundsätzlich, dass jene Bestimmung des Menschen, sowenig man darüber auch sagen kann, zumindest darin liegen müsste: kein Rädchen zu sein – so freimütig er sich auch jedem neuen Verwaltungsreglement unterwirft. Zu bedenken wäre weiter, dass jegliche Restwürde, das menschliche Antlitz unweigerlich gebunden ist an die persönliche Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Gegen die Installierung einer vollkommen gesichts- und körperlosen Realität hätten selbst so total verbrannte Begriffe wie jener der Begegnung wieder ihr gutes Recht. Mehr Eigentlichkeit zu wagen, das ließe der allseits beschworenen Vernunft schon eher Gerechtigkeit widerfahren als die nun überall aufkeimende Forderung, die neue digitale Wirklichkeit doch jetzt möglich schnell, reibungslos und aggressiv zu etablieren. Die eigene Visage, die jetzt immer häufiger begeistert in die Webcam gehalten und in der sogenannten Öffentlichkeit in vorauseilendem Gehorsam gleich komplett vermummt wird, ist längst kein Träger mehr von Individualität und Erfahrung. Deswegen macht es für die Meisten auch keinen Unterschied, ob sie als ausdruckslose Fratze digital angestarrt wird oder „irl“ (in real life). Wo solche Ausdrücke unter der Hand in den ganz normalen Alltagssprachgebrauch eingesickert sind, versteht es sich von selbst, was in den Köpfen als eigentliche Realität gesetzt ist.
Was die westlichen Gesellschaftlichen einmal vom Rest der Welt abhob, war nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit und relativer individueller Freiheit im Rahmen der Kapitalverwertung, sondern auch die Möglichkeit von Glück. Glück aber, und was sollte das anderes sein als leibliche Erfüllung?, ist dort unwiderruflich verloren, wo die Angstträume des Einzelnen, endlich den eigenen Körper abzuschaffen zu können, gesellschaftliche Normalität geworden sind. Glück, das hatte beispielsweise ein Houllebecq verzweifelt zu zeigen versucht, ist selbst in seiner wie auch immer partikularen und zufälligen Form auch in der westlichen Gesellschaft illusorisch geworden. Diesen Zustand hat zwar die andauernde Corona-Hysterie nicht zu verantworten – eine Antwort auf ihn ist sie aber allemal: Wer lebt, braucht keine Angst vor dem Tod zu haben; wo aber niemand mehr lebt, braucht’s um jeden Preis ein Surrogat für die Angst.
25.5.2020