Corona – Umsichtig, freundlich, gesund
Nebst Nachspiel mit dem megafon
Folgend ein Beitrag aus der Schweiz: eine Bestandsaufnahme des Infektionsgrads einiger sich links nennender Publikationen aus diesem Land, nachdem auch diese mit dem Corona-Virus geimpft wurden. Verbunden damit eine kleine Montage aus der Kommunikation der Autorin mit einer dieser Publikationen (megafon), nachdem diese den Text abgelehnt hatte.
In Reaktion auf die Corona-Krise hat die linke Schweizer Presse jeglichen emanzipatorischen Anspruch von vornherein zugunsten der Angst aufgegeben. Eine Abrechnung in drei Akten.
Gesundheitspolitik ist unpolitisch
Auch in einer Gesellschaft ohne Staat, in einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft, hätte man weitgehend auf Social-Distancing-Massnahmen zurückgreifen müssen, um die Pandemie einzudämmen. (1)
– M. Lautrèamont im
Ajour-Magazin, 29. Mai 2020
Journalismus mit linkem Selbstverständnis möchte auf der Seite der Unterdrückten stehen. So war in den vergangenen Monaten oft zu lesen, dass marginalisierte Gruppen unter den Corona-Massnahmen besonders zu leiden hätten: Menschen mit psychischen Problemen traf der Lockdown hart (2) (Woz vom 13. August), Frauen mussten überdurchschnittlich viel Mehrarbeit auf sich nehmen, vor allem im Gesundheitswesen und im Detailhandel, oder aber zugunsten von Hausarbeit und Kinderbetreuung beruflich zurückstecken (3) (Woz vom 25. Juni). In den jeweiligen Artikeln beschränkte sich die Wochenzeitung auf die leere Forderung nach Schadensbegrenzung, statt die Massnahmen angesichts ihrer üblen Folgen grundsätzlich in Frage zu stellen. Auf derselben Linie stehen die Kommunistinnen vom Funken, denen der nächste Lockdown gar nicht bald genug kommen kann, wobei sich die Lohnabhängigen in der Zwischenzeit noch rasch die Produktionsmittel aneignen sollen (4); man darf damit rechnen, dass von dieser Seite demnächst ein Hygienekonzept für die Revolution vorgelegt wird. Selbst die Anarchisten (siehe das Eingangs-Zitat) fügen sich achselzuckend in ihr staatlich verordnetes Schicksal. Die drastischen Einschränkungen von Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, die Schliessungen von Kneipen, Schulen und Clubs und die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche erscheinen so je länger, desto mehr als nackte Naturgewalten, ebenso unpolitisch wie das Virus selbst. Staatskritik, gar radikale, sucht man unter Linken vergeblich.
Jedes Bier tötet
«Hey ihr Menschen, das ist unsolidarisch, was ihr da treibt.» Denn coucou: jetzt ist curve-flattening angesagt. Das funktioniert logischerweise nicht, wenn draussen alle miteinander rumhampeln. Was ist denn los? (5)
– xrg im
megafon, April 2020
Jede Krankheit, die durch körperliche Nähe übertragen wird, ist auch eine sexuell übertragbare Krankheit. Deshalb ist Dating unter dem Gebot von Social Distancing moralisch fragwürdig. (6)
– David Hunziker in der
Woz, 7. Mai 2020
Unsittliche Berührungen, Säuferinnen und Kneipen, Raves, Kleinkunst, Küsse und gesellige Runden in verrauchten Küchen: All das fanden Herr und Frau Bünzli seit jeher verdächtig. Jetzt brauchen sie ihre Menschenfeindlichkeit endlich nicht einmal mehr halbherzig zu verstecken. Landesweit behandelt man sein Gegenüber, insofern man noch eines hat, heutzutage ganz selbstverständlich als infektiösen Klumpen von Wirtszellen statt als mögliche Komplizin in einem Alltag, der für Einsame kaum zu ertragen ist. Die Linke hätte sich diesem Willen zur virologisch begründeten Vereinzelung konsequent entgegenzustellen. Doch Stimmen wie jene von Alice Galizia, die im Frühjahr im Kulturmagazin KSB den Triumph des schweizerischen Antihedonismus beklagte (7), sind heute wie damals nur an der Peripherie der Debatte zu vernehmen. Durchgesetzt haben sich die pathologische Angst jener, die seit Jahrzehnten „keine Liftknöpfe, WC-Türfallen oder Mülleimer-Klappen mehr mit der blossen Hand“ (8) anfassen (PS-Zeitung vom 28. August), und der Moralismus von Hobby-Toxikologinnen, welche in ihrem Umfeld regelmässig giftige Menschen ausfindig und unschädlich machen. In solchen Gefilden kuschelte man schon vor Corona gerne die ganze Nacht mit Tumblr, Twitter und Instagram. Man öffnete zwischendurch höchstens mal dem Pizzakurier die Tür oder dem eigenen Handy das Fenster, um eine hübsch leuchtende Stadt zu fotografieren, deren nächtliches Treiben einem herzlich egal ist, wenn es nicht gerade als Sujet herhalten soll. Seit Einführung der HALAL-Regeln (Hygiene, Abstand halten, Lüften, Alltagsmasken, Lieferdienst) hat sich für diese Fraktion nicht viel geändert – ausser, dass ihre Asozialität jetzt als Ausdruck von Solidarität gepriesen wird. Derartige „Solidarität“, allseits in kitschigen Texten herbeifantasiert, gebärdet sich autoritär. Sie hält Standpauken und zeigt mit dem Finger auf Maskenverweigerer. Durch strikte Überwachung ihrer Umgebung nimmt sie der Polizei die Arbeit ab: Wer es im Frühjahr wagte, seine Grossmutter zu besuchen, lief Gefahr, von Familienmitgliedern des potenziellen Mordes bezichtigt zu werden. Wer an Sinn und Verhältnismässigkeit der staatlichen Massnahmen zweifelt, muss sich bis heute denselben Vorwurf gefallen lassen.
Den solidarischen neuen Normalos scheint entgangen zu sein, dass die Infektionssterblichkeit bei SARS-CoV-2 laut einer Stanford-Metastudie (9) mit 0,23% nur wenig höher liegt als jene bei der Influenza, wobei die fragwürdigen Therapiemethoden, die aufgrund der panischen Angst voreilig eingesetzt wurden (10), an dieser Zahl noch einen Anteil haben dürften. Auch der Hinweis, dass in der Schweiz 2020 bisher keine Übersterblichkeit, sondern eine Untersterblichkeit zu verzeichnen war, stösst meist auf taube Ohren. Doch selbst wenn er zur Kenntnis genommen würde, könnte er den Lebensschützern wohl kaum etwas anhaben. Diese fühlten sich wohl eher noch bestärkt. Je weniger Tote, desto besser, lautet ihr Credo. Am liebsten wäre ihnen, es würde 2021 kein einziger Mensch mehr sterben. Die Abschaffung des Todes ist die infantile Allmachtsfantasie spätbürgerlicher Subjekte in Schockstarre, die es nicht über sich bringen, sich ihre Ohnmacht innerhalb der kapitalistischen Totalität einzugestehen. Auf ein selbstbestimmtes Leben wagen sie nicht einmal mehr zu hoffen, stattdessen soll um jeden Preis der Tod unter Kontrolle gebracht werden. Der Preis ist hoch: Sonne und Sex können tödlich sein, genauso wie Spaziergänge, Menschenmengen, Cholesterin, Alkohol, Autostopp, Rauchen und Schwimmen. Wer bereit ist, das alles zu opfern, dem steht es frei, seine Zeit vollumfänglich auf das Leugnen der eigenen Sterblichkeit zu verwenden. Nur soll er bitte nicht all seine Mitmenschen in dieses Unterfangen hineinziehen – denn das Leben, das dabei herauskommt, ist eines, das sich kaum noch zu schützen lohnt.
Alles nur temporär?
Wenn der Mensch in Zukunft zum Menschen steht wie jetzt während des Lockdowns, dann könnte es durchaus sein, dass es eine wärmere, sozialere Welt wird. Es liegt an uns! (11)
– Peter Kaufman,
megafon vom Juni 2020
Alles schlimm, werden sich wohl einige denken, aber nicht so schlimm, weil nur temporär. Doch der viel beschworene Impfstoff ist entgegen der allgemeinen Erwartung kein Reset-Knopf. Er wird weder das Virus noch die im Zuge der Pandemie-Bekämpfung gewonnenen Gesinnungen und Gewohnheiten beseitigen. Die Digitalisierung hat bereits einen irreversiblen Schub erhalten, die Wirtschaftskrise gerade erst begonnen. Ein Blick nach Deutschland zeigt, was auch der Schweiz in den Wintermonaten blühen könnte: Die Polizei darf in Berlin neuerdings auch ohne Durchsuchungsbefehl in die Wohnungen eindringen (12), wenn sie vermutet, dass der voreilige Gehorsam eine Feier ausnahmsweise nicht zu verhindern vermochte. Derweil arbeitet das WEF, nicht einmal heimlich, sondern vor aller Augen auf Hochtouren am reibungslosen Übergang in den körperlosen Kapitalismus.
Trotz alldem lassen es sich das Megafon und die PS-Zeitung nicht nehmen, von der Krise als Chance zu schwadronieren: „Es ist (…) unser aller Pflicht, jetzt gross zu denken – gross zu fragen. Denn die «neue Welt» nach Corona wartet.“ (13) Den grossen Denksport betreiben Pflichtbewusste wohl per Zoom oder auf einer der „wirklich zwingend notwendigen“ Feiern, die Merkel, wie sie neulich mit Grabesstimme verkündete, als einzige noch für tragbar hält. Wer sich solche Verunstaltungen nicht antun möchte, dem bleibt bloss die Hoffnung auf einige Texte, die unter der Hand umhergereicht werden, auf den nächsten Abend in der Kneipe, auf Galgenhumor und Totentänze, darauf, dass sich bei einem geteilten Joint die Funken eines Einfalls wie Aerosole im Raum verteilen mögen und die eine oder andere Genossin demnächst ein paar kleine, klare Gedanken zustande bringt. Denn die neue Welt wartet nicht. Sie hämmert schon an die Tür.
Dieser Text wäre nicht möglich gewesen ohne die vorgängigen Interventionen auf der Webseite des MAGAZIN sowie des Kollektivs Feministischer Zusammenschluss gegen Denkblockaden: Corona-Krise oder Care-Notstand?. Die Lektüre der dort publizierten Texte sei an dieser Stelle allen ans Herz gelegt.
Anmerkungen
(1) https://www.ajourmag.ch/covid-19-klassengesellschaft-und-anarchistische-selbstreflexion
(2) Vgl. https://www.woz.ch/2033/coronavirus-psyche/uns-haben-menschen-angerufen-die-ein-systemkomplott-fuerchten
(3) Vgl. https://www.woz.ch/2026/gender-und-corona/die-perfide-logik-des-lockdowns
(4) Vgl. https://www.derfunke.ch/htm/de/deutsch/arbeiterinnenbewegung/editorial-93-wie-viele-tote-wartet-der-bundesrat-dieses-mal-ab, sowie https://www.derfunke.ch/htm/de/deutsch/arbeiterinnenbewegung/sozialdemokratie/wer-ist-schuld-an-der-zweiten-welle/#more-15332
(5) https://www.megafon.ch/globale-monarchie/?artikel=Lass+mal+gemeinsam+%C2%ABcurve-flattenen%C2%BB
(6) https://www.woz.ch/2019/coronaglossar/was-hat-das-alles-zu-bedeuten
(7) Vgl. https://www.ksb.ist/doc/unbelehrbar-uneinsichtig-arrogant, sowie https://www.ksb.ist/doc/ausweitung-der-fussgaengerzone
(8) https://www.pszeitung.ch/coronasowas/#top
(9) Vgl. https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf
(10) Vgl. zum Beispiel https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113346/COVID-19-Medikament-Dutzende-Wissenschaftler-kritisieren-Studie-zu-Hydroxychloroquin
(11) https://www.megafon.ch/kein-platz-fuer-protest/?artikel=Pickelhaube%2C+Stahlhelm%2C+Aluhut
(12) Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article217935978/Partys-trotz-Corona-in-Berlin-Wann-die-Polizei-in-Wohnungen-darf.html
(13) https://www.pszeitung.ch/die-neue-welt-wartet/#top