Eine Einschätzung der Bewegung

Aus der Ferne (und sogar in Frankreich unter den jungen Leuten, die noch nie selbst eine landesweite Bewegung erlebt haben) erscheint das, was derzeit passiert, wie der Auftakt einer sozialen Revolution. Das bringt diejenigen, die sich nach einer Revolution sehnen, tendenziell dazu, die Ereignisse derart aufzublasen, dass manche sogar glauben, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei, um über Form und Inhalt von Arbeiterräten zu sprechen. Das ist ungefähr so, als würde jemand darüber sprechen, wie wohl sein Sohn oder seine Tochter ihr Baby nennen werden, wenn diese noch jungfräulich sind und gerade das erste Mal geknutscht haben.
Ohne die aktuelle Bewegung kleinreden (oder schlimmer: zynisch abtun) zu wollen, sollte doch klar gesagt werden, dass Frankreich oft intensive gesellschaftliche Auseinandersetzungen erlebt oder zumindest den Anschein erweckt (2010, 2006, 2005, 1995, 1986, etc.), ohne dass diese zu der sozialen Explosion führen, die das Wunschdenken der Leute als unmittelbar bevorstehend erscheinen lässt. Und wenn man sich die Explosionen ansieht, die die letzten Jahre über beinahe täglich in Südafrika passieren, so hätte man viel mehr Grund, jede Woche zu denken, dass die Revolution gleich um die Ecke kommt. Darüber hinaus gab es in Großbritannien in den 1970ern und 80ern massive soziale Auseinandersetzungen, die eine weit größere Basis in proletarischen Gemeinschaften des Kampfes und der Solidarität hatten als dies gegenwärtig der Fall ist. Heute sind die Leute getrennt von sich selbst und voneinander durch den jahrelangen, erbarmungslosen Ansturm der Konditionierung durch die Gesellschaft des Spektakels, die Teile unseres Lebens vereinnahmt, die andere Klassengesellschaften niemals berührten… Und wir kennen die massenhaft Depressionen auslösenden Folgen der Niederlage dieser Bewegungen, Bewegungen, die das neoliberale Projekt ernsthaft bedrohten, als es noch ziemlich in den Kinderschuhen steckte.
Machen wir uns nichts vor: Diese Streiks, Demos, Randale, etc. verursachen kaum einen Zusammenbruch des normalen Alltagslebens außerhalb der zeitlich sehr begrenzten Momente eben dieser Aktionen – und auch dann meist nur für diejenigen, die direkt daran beteiligt sind – sogar die aufmüpfigsten Studenten lernen zwischen den Demos in der Regel weiter für ihre Prüfungen, die revolutionärsten prekären Arbeiter schuften weiter in der Schattenwirtschaft – und sie müssen das tun. Und die Zahl derer, die an solchen Aktionen beteiligt sind, ist relativ gering. Darüber hinaus scheint es, im Vergleich mit vorhergehenden Revolten, eine unglaubliche Verdrängung von Klassenbewusstsein bzw. expliziter Theorie zu geben. So fehlt z.B. eine explizite Kritik von Form und Inhalt der Schule und Miss-Bildung. All dies gilt natürlich bis jetzt – und sicherlich könnte die Situation sich ändern. Das Ganze ist bislang eine sehr langsam abbrennende Zündschnur, beharrlich aber schwach; ob sie zu einer bedeutsamen sozialen Explosion führen oder einfach im Sand verlaufen wird, ist schwer zu sagen. Sicher wird die französische und auch die weltweite Bourgeoisie alles tun, um sie vor dem Beginn der Fußballeuropameisterschaft am 10. Juni zum Verlöschen zu bringen. Und wir müssen ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Daesh/IS etwas Schreckliches anstellen wird (bzw. der Staat ihm dies ermöglicht), was sicher unmittelbar eine staatsbeführwortende Geisteshaltung herbeiführen würde, auch wenn diese vielleicht etwas unwillig sein würde.
Es gibt so viele Anarchisten, Autonome etc., die wider besseren Wissens zur allgemeinen, bewegungslinken Tendenz beitragen, Probleme und Widersprüche zu ignorieren oder bestenfalls kleinzureden, nur um den Schein einer durchgehend radikalen sozialen Bewegung aufrecht zu erhalten. Dabei ist es sehr entscheidend, diese Widersprüche offen zu legen und anzugehen – z.B. das Vermeiden oder Herunterspielen einer Kritik der Gewerkschaften. Es ist eine Situation voller Gefahren, sowohl aufregend als auch furchteinflößend: eine französische Version, wenn auch unter sehr veränderten Bedingungen, von Thatchers Angriff auf die Arbeiterklasse in den 1980ern. Und falls es Misslingen sollte, in unbekanntes Terrain vorzustoßen – neue Fehler zu begehen und neue Erfolge zu haben – so könnten die Folgen sowohl für Proletarier in Frankreich als auch weltweit verheerend sein.
SamFanto, Frühjahr 2016
Quelle: http://dialectical-delinquents.com/france-the-latest