2. Der Krieg gegen die Seelen
Margaret Thatcher, die Tochter eines Methodistenpredigers, rutschte in einem Interview anlässlich ihrer zweijährigen Machtübernahme Folgendes heraus: „Die Wirtschaft ist die Methode; das Ziel ist es, die Seele zu ändern.“
Als Gorki in sein Geburtsland zurückkehrte, belehrte Stalin, ein ehemaliger Student des Priesterseminars, die zu Ehren des Schriftstellers versammelten Intellektuellen mit seinem berühmten Einwurf: „Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die Produktion von Panzern […]. Der Mensch wird durch seine Existenz neu erschaffen, und ihr müsst behilflich sein bei der Neuerschaffung seiner Seele. Das ist das Wichtige, die Produktion menschlicher Seelen. Und deshalb erhebe ich das Glas auf euch, Schriftsteller, auf die Ingenieure der Seele.“
Wenigstens in der Frage der Seele waren sich Thatcher und Stalin einig.
Wahrscheinlich auch in einigen anderen.
Diese Seelensache ist heute mehr denn je eine politische, ja sogar eine strategische Frage.
Kaum eine Frage wird so missverstanden wie diese.
Man neigt dazu, die Seele als den Inbegriff der Innerlichkeit und damit als etwas höchst Individuelles zu betrachten. Man muss sagen, das Christentum hat mit seinem Jüngsten Gericht nicht wenig dazu beigetragen, diesen individuellen Charakter der Seele zu unterstreichen – man brauchte ja schließlich ein Subjekt, über das man urteilen konnte.
Die Seele gehört aber tatsächlich gänzlich zum von Beziehungen bestimmten und kosmischen Charakter des menschlichen Säugetiers. Wie übrigens bei allem, was lebt.
Jahrtausendelang, bevor die Biologie alles durcheinander brachte, war das, was wir heute als „das Lebendige“ bezeichnen, eher das Beseelte – das, dem eine Seele gegeben ist.
Im Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und in so vielen anderen Sprachen verweist der Begriff der Seele – anima, psyché, rouakh – auf den Atem, den Wind, das Atmen.
Das Lebendige ist gerade das, was durchströmt wird, was von einem Atem durchströmt wird.
Lebendig sein bedeutet nicht, ein selbsterzeugender organischer Mittelpunkt zu sein und auch nicht, ein Wille zur Macht oder eine organisierende Kraft – es bedeutet, an dem teilzuhaben, was uns umgibt.
In einem Zustand der kosmischen Teilhabe zu sein.
Daher ist ein lebender Körper immer viel mehr als ein Körper.
Wenn die Seele dennoch der Ort unserer Einzigartigkeit ist, dann heißt das, dass das Einzigartigste eines jeden gerade in seiner besonderen Weise der Verwurzelung in den gemeinsamen Atem besteht, in der besonderen Ausprägung, die er demselben Atem bietet. Wie man in der Antike sagte: „Alles ist in allem, aber für jeden seiner eigenen Weise gemäß“.
„Ach, nicht getrennt sein, nicht durch so wenig Wandung ausgeschlossen vom Sternen-Maß. Innres, was ists? Wenn nicht gesteigerter Himmel, durchworfen mit Vögeln und tief von Winden der Heimkehr“, schrieb Rainer Maria Rilke.
Gemäß einer Konvention soll man zwischen verschiedenen Formen der Teilhabe unterscheiden; zwischen der Beziehung zu anderen, der Beziehung zur Welt und der Beziehung zu sich selbst.
Dies ist eine analytische Konvention.
Bei sich selbst sein, für jemanden anderen sein und in der Welt sein, das alles trägt dieselbe Unterschrift.
Wir nehmen an dem teil, auf das wir uns verschieden beziehen, aber wir nehmen außerdem am gesamten Universum teil. Wir werden jede Millisekunde von Teilchen aus dem anderen Ende des Universums durchdrungen, angefangen beim Licht der Sterne.
Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein, bis die Astrologie von der offiziellen Bühne verdrängt wurde, bezog sich der Ausdruck „Einfluss“ in erster Linie auf die Wirkung der Gestirne auf das menschliche Schicksal.
In seinem Text über den tierischen Magnetismus sprach Hegel, sehr nah am antiken Motiv einer Weltseele, von einer „fühlenden Seele“: „Die Seele ist das Allesdurchdringende, nicht bloß in einem besonderen Individuum Existierende [und muss] als das ganz Allgemeine gefasst werden.“
François Roustang, ein Jesuit, der die Kirche verließ, um sich dem psychoanalytischen Glauben anzuschließen, bevor er als nächstes auch diesen verließ, kommentiert diese Passage Hegels: „Es gibt also eine Seite des menschlichen Wesens, durch die das Individuum fähig ist, unmittelbar am Leben eines anderen Individuums teilzunehmen, weil es bereits dieses andere Leben ist. […] Es gibt, anders gesagt, eine Kontinuität, die unterhalb des individualisierten Bewusstsein verläuft, und erst durch diese Kontinuität wird Kommunikation ermöglicht. […] Wenn man glaubt, dass die Individuen zunächst in ihrer Isolation gegeben sind, stellt sich unweigerlich die Frage nach ihrer Zusammenführung […]. Aber wenn das Individuum durchgehend als Teil eines Beziehungsgeflechts begriffen wird, schließen alle Formen seiner Existenz – biologisch, affektiv, intellektuell – die Beziehungen mit ein.“ (François Roustang, Influence, 1990)
Alle gesellschaftlichen Angebote der Zugehörigkeit sind daher im Wesentlichen überflüssig, da wir uns schon immer im Zustand der Teilhabe befinden. Um mehr als ein Individuum zu sein, brauchen wir keine verdienstvollen Bemühungen, keinen Treuebeweis, keinen kollektiven Firlefanz. Was man als „Egoismus“ bezeichnet, ist lediglich eine Verengung der Seele und eine schwache Ausstrahlung.
Die Ebene der Reflexion, des Bewusstseins, der Rationalität und der verbalen Kommunikation ist – wie all die Spin Doctors und andere professionelle Beeinflusser verstanden haben – ein abgeleiteter, sekundärer und beschränkter Bereich der Ebene einer allgemeinen Teilhabe, auf der sie sich errichtet. Man beschloss daher, sie parallel zu schalten, um keilartig operieren zu können und um mit dem Bewusstsein derer zu spielen, die sie manipulieren. Das ist zumindest die Schlussfolgerung, die diese Perversen ziehen, während andere wie Roustang daraus folgern: „Das Andere der Rationalität ist nicht das Irrationale, es ist das Herz mit seinen eigenen Gesetzen oder das System der Affekte, die keineswegs an Vorstellungen gebunden sein müssen, um in den menschlichen Beziehungen eine Rolle zu spielen.“ (Ebd.)
Um ungreifbar und subtil zu sein, gibt uns diese Ebene der kosmischen Teilhabe neben unserem biologischen Körper einen weiteren Körper, der uns ebenso empfänglich für Berührungen macht.
Durch den man uns unendliches Leid zufügen kann.
Der es ihnen sogar ermöglicht, uns zu töten oder zumindest krank zu machen.
An dem Tausende Eingriffe vorgenommen werden, auf deren Leugnung man sich geeinigt hat.
An dem diese Gesellschaft operiert wie noch nie.
Diesen Körper will man in jedem Sinne dieses Wortes besetzen, ob freiwillig oder erzwungen.
Gerade dieser Körper, unser feinsinniger Körper, ist das Maß unserer Teilhabe an der Welt.
Er ist nichts anderes als unsere Seele – unsere Seele nicht als „substanzielle Form des Körpers“ der Scholastik, sondern als Ort, als ein Ort, der verortet ist und der verortet.
Google, Facebook und die anderen haben sich die Besetzung gerade dieses Orts vorgenommen.
Sie trachten nach seiner Kolonisation. Er soll kontrolliert werden.
Auch ihnen ist das Wesen der Menschen nichts ihnen Innewohnendes, nichts, was sich in ihrem Inneren verbirgt, sondern vielmehr das Ensemble der Verhältnisse, deren Verknotung sie sind. Und diese Verknotung versuchen sie, anhand der von uns unterhaltenen Kommunikation und der diese durchlaufenden Informationen zu erahnen – zu erahnen und, wenn möglich, uns darauf zu reduzieren. Sie erstellen daraus einen Graphen. Eine Miniatur unserer Seele. Weit mehr eine Mantik als eine Semantik.
„Die einzige Transzendenz ist die Beziehung zwischen den Lebewesen“, schrieb Robert Antelme, den die Konzentrationslager nie auf den Zustand eines bloßen Körpers degradieren konnten.
GAFAM (Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft) verfolgen mit den plattesten Mitteln und dem plattesten Verstand ein metaphysisches Ziel: die Liquidierung jeglicher Transzendenz. Für die Vorstellung, man könne eines Tages „sein Bewusstsein herunterladen“, muss man schon ein Leben als Festplatte führen. Eine gigantische, milliardenschwere elektronische Zecke hat ihren Rüssel in unsere Teilhabe an der Welt gebohrt. Sie machte aus der menschlichen Erfahrung einen Rohstoff für ihren unstillbaren Datenhunger. Da sie daran scheiterte, dem Menschen ebenbürtige Maschinen zu entwickeln, arbeitete sie daran, die menschliche Erfahrung auf das einzuschränken, was eine Maschine davon wissen kann. Ihre letzte Perspektive besteht darin, uns auf unseren biologischen Körper zurückzuführen und darin, dass wir kein Leben mehr haben, das nicht technologisch vermittelt ist. Sie besteht darin, unsere Seele erfolgreich einzuverleiben, indem man sie materialisiert. Unsere Einschließung bot ihnen ein traumhaftes Experimentierfeld. Es war eine Gelegenheit, den gut in ihre Zellen eingesperrten Bewohnern eines Altenheims das unvergessliche „Erlebnis“ einer Reise auf den Berg Fuji zu verschaffen – per Virtual-Reality-Helm. Der Ausgang führt entschieden nach innen. Das wird hinreichend durch das jüngste Versprechen von Facebook – Pardon, von Meta! – bestätigt, uns zu besserem Gemüse zu machen – Pardon, „jedem die Welt zu bauen, die er sich wünscht“.
Bereits 1975 schrieb Jean-Christophe Bailly, nachdem er von einer Reise durch ein Deutschland zurückkehrte, das nach einigen Anschlägen der Roten Armee Fraktion in einen Zustand antiterroristischer Hysterie verfallen war: „Reizentzug ist nicht nur der Name einer spezifischen Folter, sie benennt tatsächlich die allgemeine Tendenz technisch entwickelter Gesellschaften und definiert die Achse, entlang derer der Staat mit zunehmender Geschicklichkeit auf die Individuen in Ländern zielt, in denen der Bauch schon lange nicht mehr vor Hunger schreit. Die Folter ist nur der Exzess, der die Tendenz offenbart; darüber hinaus erscheint die Entbehrung, die einvernehmliche Verarmung der Empfindungen und Begabungen, die Umwandlung der geistigen Angelegenheiten in ein bloßes Gleichgewicht von Reflexen, als der eigentliche Inhalt der organischen Bestrebung der Macht; ich sage organisch, weil die Macht, der man, und zwar mit gutem Grund, in den oppositionellen Kreisen zu viel Ansehen zugesteht, sich die meiste Zeit der von ihr angewendeten Mechanismen kaum bewusst ist. Wenn man sich diese organischen Tendenz bewusst macht, kann man zum Wissen der Kräfte zurückkehren, über die der Einzelne verfügt, um nicht im Verlauf des von mir so genannten und das Leben ausmachenden Guerillakampfs der Empfindung zermalmt zu werden.“ (Halbschatten in Fin de siècle, Nr. 2)
Das Operationsfeld der Epoche ist die Ebene der Seele.
Auf diesem Gebiet liefert man sich den wildesten und den am wenigsten bemerkten aller Kriege.
Daran ist nichts Spiritualistisches.
Und wenn man darin unbedingt Mystik sehen will, dann in dem von Hofmann – dem Chemiker, der die Lysergsäure synthetisierte – verstandenen Sinne, als er sagte: „Ein Chemiker, der kein Mystiker ist, ist kein guter Chemiker.“
Georg Lukács
Als Beweis hierfür: Ein Kommunist vom Format eines Georg Lukács hätte uns nicht widersprochen. Lukács ist durch sein legendäres wie verdammtes Buch Geschichte und Klassenbewusstsein von 1923 in die Nachwelt eingegangen. Er repräsentierte auf theoretischem Gebiet die radikalste Tendenz des kämpfenden Kommunismus der Jahre 1917 bis 1923, diejenige, die daran festhielt, dass „jeder Kommunist davon durchdrungen sein muss, nicht nur in Worten, sondern tatsächlich Mitglied der Partei des Bürgerkriegs zu sein“. Man hat sich oft über ihn beschwert, da er später in alle möglichen Selbstkritiken eingewilligt hat, in eine Reihe von Zugeständnissen und Ableugnungen, die sein Denken entstellt haben. Schließlich schrieb er sogar eine Sozialontologie. Das ging soweit, dass Geschichte und Klassenbewusstsein und die Artikel, die er 1920 und 1921 für der Zeitschrift Kommunismus schrieb, lange Zeit als der Höhepunkt seiner Gedankenentwicklung galten. So verhielt es sich auf jeden Fall zu seinen Lebzeiten. Denn als er starb, findet man in seinen Papieren den Hinweis auf ein Depot bei einer Bank im Jahr 1915, also mitten im Krieg. Mehr als ein Jahrhundert später findet man in einem Koffer Notizen, die Lukács für ein schließlich nie geschriebenes Buch gemacht hatte. Ein Buch über Dostojewski, oder vielmehr über die Ethik, die ihm zufolge in Dostojewskis Romanen enthalten war. Mit dem Ersten Weltkrieg sieht Lukács seine ganze Welt zusammenbrechen. Von den Menschen, die ihn umgaben und die seine Freunde waren, ergriffen die meisten Partei für den Krieg, allen voran Max Weber. Sein Lehrer, der Kantianer Emil Lask, fällt an der Front. Der Imperativ, sein Handeln nach verallgemeinerbaren Maximen auszurichten, und nicht an dem, was man wahrnimmt, oder an der Fürsorge für die einem wichtigen Menschenwesen, bringt die Besten zur Rechtfertigung der Schlachterei. Man muss die Gesellschaft verteidigen. Plötzlich erkennt Lukács die scheußliche Fratze, die das Reich der Gesellschaft den Menschen zeigt. Indem man sich als jemand anderes betrachtet und indem man in Bezug auf andere und aufgrund der Zugehörigkeit zum Kollektiv agiert, werden alle zu Verbrechern, zu seelenlosen Mördern im Stahlgewitter. Als er noch den Plan für sein Buch über Dostojewski hegt, schreibt er an seinen Freund Paul Ernst: „Die Macht der Strukturen scheint immer maßloser zu werden, und für die meisten Menschen stellen sie eine stärkere Realität dar, als das, was wirklich existiert. Aber – und das ist für mich die ultimative Lehre aus dem Krieg – wir dürfen das nicht zulassen. Wir müssen weiter daran festhalten, dass wir und unsere Seelen letztendlich das einzig Wesentliche sind.“ Und in einem anderen Brief: „Das Problem besteht darin, Wege zu finden, die von Seele zu Seele führen. Alles andere hat nur einen instrumentellen Wert und dient als Mittel zu diesem Zweck. […] Viele Konflikte würden verschwinden, wenn man […] erreichen könnte, dass nur das zum Konflikt wird, was die Seele vor eine Alternative stellt.“ In einem kurzen Text aus dem Jahr 1911, der auf den Selbstmord einer sehr teuren Freundin folgte, hatte er bereits ein Thema analysiert, das er die „Güte“ bei Dostojewski nannte: „Die Güte ist eine Menschenkenntnis, die alles erleuchtet und alles durchsichtig macht, eine Erkenntnis, bei der Subjekt und Objekt ineinander fallen. Der gute Mensch interpretiert nicht die Seele der Anderen, er liest darin, als wäre es seine eigene; er ist zum Anderen geworden.“ (Von der Armut im Geiste) In den Gedankenblitzen seiner Notizen für das Buch über Dostojewski klingen auf eigentümliche Weise viele Züge unserer Gegenwart an, genauso wie die Niederungen unserer Zeit an die von 1914 denken lassen. „Der Staat als organisierte Tuberkulose; wenn die Pestbazillen sich organisieren würden, sie gründeten das Weltreich. […] Solidarität, die Pflicht zu lieben […]. a) Der Osten: Der Andere (die Anderen: auch der Feind) bist du; denn ich und du sind Illusionen. Bhagavad Gîtâ. b) Europa: abstrakte Brüderlichkeit: der Ausweg aus der Einsamkeit. Der andere ist mein ‚Mitbürger‘, mein ‚Kamerad‘, mein ‚Landsmann‘ (was weder Rassen- noch Klassenhass ausschließt, sondern eher am ihn appelliert). c) Russland: Der Andere ist mein Bruder. Wenn ich mich finde und in dem Maße, in dem ich mich gefunden habe, habe ich auch ihn gefunden.“ Lukács kann also angesichts der Apokalypse des Krieges, angesichts der vollbrachten Entstellung der europäischen Menschheit das monströse Antlitz des Gesellschaftlichen nicht mehr ertragen, nicht einmal in seiner reizendsten Verkleidung. Und angesichts dessen sieht er keinen anderen Ausweg, als schließlich den Bereich der Seelenwirklichkeit wirklich, aufleuchtend und unbestreitbar zu machen. Er erkennt, dass es die zweckdienliche Leugnung dieses Bereichs ist, die all das das Leben verstümmelnde Elend zulässt; erst nach und nach und dann schlagartig in einem krachenden Untergang. Lukács wird sein Buch über Dostojewski nicht schreiben. Stattdessen hinterlässt er uns seine Theorie des Romans, die 1916 veröffentlicht wird. Es ist sicherlich sein bestes Buch – der wirkliche Höhepunkt seines Schaffens. Er war übrigens sehr darauf bedacht, sich später davon zu distanzieren, indem er so sprach, als wäre der Autor ihm völlig fremd. In diesem Buch beschreibt er die seit der griechischen Antike zunehmende Scheidung der gesellschaftlichen Welt – der „Welt der Konvention“ – und der Welt der Innerlichkeiten und wie der Roman auf verschiedene Weise versucht hat, die verlorene Einheit wiederherzustellen. Das letzte Kapitel trägt den Titel Tolstoj und das Hinausgehen über die gesellschaftlichen Formen des Lebens. Das Kapitel endet mit Dostojewski, den er nicht für einen Romancier hält, sondern für den Chronisten einer Utopie, einer neuen Welt, deren zentrales Merkmal die Seelenwirklichkeit ist – die tatsächliche Realität der Seelen. Eine Welt, in der es keine von einer Psychologie flankierten Subjekte gibt, die aufeinanderprallen und sich gegenseitig manipulieren, ohne jemals wirklich miteinander in Kontakt zu treten und das alles inmitten einer entfremdeten Natur. Vielmehr eine Welt, in der verschiedene, sich stets verwandelnde, aber lesbare Arten und Weisen, mit der Welt und den Anderen auf gleiche Grundlage zu kommen, in einem Universum spielen, in dem alles wieder Sinn macht, weil es bewohnt ist. „Es ist die Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit, in der der Mensch als Mensch – und nicht als Gesellschaftswesen, aber auch nicht als isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit – vorkommt, in der, wenn sie einmal als naiv erlebte Selbstverständlichkeit, als die einzig wahre Wirklichkeit da sein wird, sich eine neue und abgerundete Totalität aller in ihr möglichen Substanzen und Beziehungen aufbauen kann, die unsere gespaltene Realität gerade so weit hinter sich lässt und nur als Hintergrund benützt, wie unsere gesellschaftlich-‚innerliche‘ Dualitätswelt die Welt der Natur hinter sich gelassen hat.“ Lukács’ Bekenntnis zum Bolschewismus und zu einer rein gesellschaftlichen und angeblich wissenschaftlichen Definition der Revolution, ist die erste Ableugnung von jemanden, der einen Augenblick lang und inmitten des Granatendonners, der Kapitulation aller und des falschen Nebels der chemischen Kriegsführung, eine Vorahnung der Überwindung dieser Welt hatte, die uns mehr denn je in ihren Klauen hält. Alle seine späteren Abschwörungen sind darauf zurückzuführen. Geschichte und Klassenbewusstsein gehört auf jeden Fall bereits zu dem schnell und kontinuierlich abschüssigen Weg, auf dem Georg Lukács’ Reise durch das Jahrhundert verlaufen wird.
1921, zur selben Zeit, als Lukács einige der Studien schrieb, aus denen Geschichte und Klassenbewusstsein wurde, beendete Pjotr Archinow sein Buch über die Revolution der ukrainischen Arbeiter und Bauern, die von den Bolschewiken massakriert wurden, weil sie für ihren Geschmack zu frei waren – zu „anarchistisch“. Er wollte nicht, dass man ihre Geschichte so auslöscht, wie man ihre Armee weggefegt hatte.
„Die blutige Tragödie der russischen Bauern und Arbeiter kann nicht spurlos vorübergehen. Mehr als alles andere hat die Praxis des Sozialismus in Russland gezeigt, dass die arbeitenden Klassen keine Freunde haben, dass sie nichts als Feinde haben, die versuchen, sich der Früchte ihrer Arbeit zu bemächtigen. Der Sozialismus hat voll und ganz bewiesen, dass auch er zu ihren Feinden gehört. Dieser Gedanke wird sich von Jahr zu Jahr stärker im Bewusstsein der Volksmassen festsetzen. Proletarier der ganzen Welt, steigt in eure eigenen Tiefen hinab, sucht dort die Wahrheit und ruft sie von da aus ins Leben: Ihr werdet sie nirgendwo anders finden. Das sind die gegenwärtigen Losungen der Russischen Revolution“. (Pjotr Archinow, Die Machnobewegung, 1921)