Aus dem stilisirten Jahrhundert (Die Strasse)
Wissen Sie, wie eine Straße aussieht? Ja?! Wer sagt Ihnen, daß eine Straße nur das ist, wofür Sie es halten? Sie können sich nicht vorstellen, daß es noch etwas anderes sein könnte? –
Das kommt von der zweimalzwei ist vier-Logik. Ja aber 2x2 ist doch 4! Gewiß, wir sagen es, und weiter geht die Sache niemanden an.
Aber es giebt doch auch Dinge, die ihre Existenz nicht bloß einem Übereinkommen unter uns Menschen verdanken, und da können wir unserer Logik nicht so unbedingt trauen. Wozu übrigens sich weiter beschweren? Was ich Ihnen sagen will, bedarf gar keiner solchen Einleitungen, es beruht bloß auf einem Empfindungsgegensatze: Treten Sie auf die Straße hinaus, so sind Sie plötzlich unter lauter 2 x 2 = 4 Menschen. Fragen Sie einen von diesen: Bitte was ist eine Straße, so erhalten Sie die Antwort: „Straße – Straße, Schluß, bitte stören Sie mich nicht weiter.“ Sie schütteln den Kopf: Straße = Straße? Sie denken nach und beobachten Ihre Umgebung. Nach einiger Zeit finden Sie: „Aha, Straße, etwas gerades, Taghelles, dient, um sich darauf fortzubewegen.“ Und Sie empfinden plötzlich ein colossales Überlegenheitsgefühl, wie ein Hellsehender unter Blinden. Sie sagen sich: Ich weiß ganz bestimmt daß eine Straße nichts gerades Taghelles ist, sondern daß sie vergleichsweise ebensogut etwas Vielverzweigtes, Geheimnis- und Räthselvolles ist, mit Fallgruben und unterirdischen Gängen, versteckten Kerkern und vergrabenen Kirchen. Sie wundern sich, wieso Ihnen gerade das einfällt und lassen es doch im Geiste bei diesen Ausdrücken bewenden … Ihre angeborene 2 x 2 = 4 Logik beruhigen Sie mit dem Gedanken, daß ja auch sie überall das „vergleichsweise“ vorsetzen muß, wenn sie aufrichtig ist. Dann denken Sie darüber nach, wie es denn kommt, daß die andern Menschen das gar nicht merken. Vielleicht kommen Sie dann darauf, daß es bei Ihnen ja auch erst des heutigen Tages bedurft hatte, um es Ihnen klar werden zu lassen. Und Sie denken nun nach, wieso dies wohl zusammenhängen möge. Sie finden keinen Grund, an was immer Sie auch denken mögen, bis es Ihnen vielleicht einfällt, genau in sich selbst zu gehen. Sie legen sich eine Frage formaler Logik vor, und ihr Geist arbeitet mit gewohnter Sicherheit. Er ist also normal, und ihr Mißtrauen wendet sich gewohnheitsmäßig jenem räthselvoll sprunghaften Theil Ihres Inneren zu, den Sie mitunter Gemüthsleben, mitunter Nerven oder auch anders nennen. –
Sie erschrecken. Sie thun dies immer wenn jenes Unberechenbare in ihnen sich zu rühren beginnt, Sie fürchten sich wie vor einem umgezähmten Thier. Und doch spüren Sie zugleich wieder und heftiger jenes Überlegenheitsgefühl.
Ihr Schlaf heute Nacht ist voll seltsamer Unruhe gewesen. Schemenhafte Geschöpfe kamen und giengen. Sagen wir, Frauen, denen Sie tagsüber begegneten, hinterließen ihnen gewisse ganze, in sich geschlossene Eindrücke. Im Schlafe nun lösten sich diese Empfindungen in ihre Theile auf, und jedes von jenen schemenhaften Geschöpfen hatte eine jener Theilempfindungen als Wesenseinheit. Als Sie im Morgendämmern aufwachten, griffen Sie sich an den Kopf, wie wenn Sie eine lange bange Fahrt gemacht hätten, durch Gegenden aus denen noch kein Mensch heil zurückkehrte. Ihre ganze Lebensansicht und -anempfindung wurde vor die Stirn gestoßen.
Beim Morgenkaffee, mit dem Rükken in der warmen Sonne, vergaßen Sie wieder darauf.
Jetzt fällt es Ihnen wieder ein. Und in einem ganz anderen Sinne. Es ist Ihnen, als ob Sie jetzt wüßten, warum Ihnen die Straße anders vorkommt, wie den Leuten, denen Sie begegneten. Waren Sie früher ein Hellsehender, so sind Sie jetzt ein Hellseher. Sie sehen durch die Dinge durch, Sie sehen sie „auseinander“. Zieht das Auge der Andern die Erscheinungen zu geläufigen Begriffen zusammen, seinem Bedürfnis nach Meßbarem folgend, so zerstreut das Ihrige, löst, kraft der gewonnenen Erfahrungen, in Unwägbares, Ungreifbares auf. Bei allen Dingen sehen Sie über die Form hinweg, in die gekleidet sie erscheinen, und wittern die geheimnisvollen Vorgänge einer Hinterexistenz. Sie dichten ihnen dabei keine Märchen (Personificationen) an, Straße bleibt Straße, Haus bleibt Haus, und Mensch bleibt Mensch; aber sie glauben am Menschen all das zu verstehen und lieben zu können, was die Andern als Gespenst erschreckt, und sie freuen sich über Haus und Straße, weil Sie zu Ihnen sagen: Du birgst vor den Andern, den Blinden all das, dessen Erkennen mich jetzt über diese erhebt. Hab Dank, stilles Haus! mit deinen rauschenden Bäumen im Garten, aus deren ewigeintöniger Melodie vielleicht einmal ein schreckhafter Gedanke in das Herz eines Menschen flog, stilles Haus, dessen nächtliche Einsamkeit vielleicht einmal einen Gedanken reifte, der aus Angst von seiner Mutter schon im Leibe erstickt wurde, daß beide daran starben, stilles Haus, in dem in Neumondnächten die sonderbaren Wesen meines Schlafes umgehen mögen.
Sie sehen alle Menschen spöttisch und doch verträumt an, wie wenn Sie sagen wollten: Ihr seid ja recht unschädliche Präparate, aber in eurem ganz Innersten sind die Nerven aus Schießbaumwolle. Wehe, wenn die Schale bricht. Das kann aber nur im Wahnsinn geschehen. Inmitten der Menge werden Sie zum Apostel, zum Verkünder. Eine innerliche Verzücktheit überkommt Sie, doch ohne das Schäumen und Umsichschlagen des Geistes der Verzückten. Ein Hellseher sind Sie! Was ganz am Ende des Geistes liegt, der Theil von Ihnen, durch den die Seele nur in rasendem Fluge eilt, wenn sie schon der Wahnsinn lockt, der im nächsten Augenblicke wieder alles löscht – das sehen Sie bei klarem Auge – wissen dabei noch immer, daß 2 x 2 = 4 und genießen straflos das colossale Überlegenheitsgefühl über alle andern Menschen und über den, der Sie bislang waren.
Sie spüren die Religion der Religionlosen, die Trauer derer, die schon lange alle Trauer abgestreift haben, die Kunst derer, die heute lächeln, wenn sie den Namen Kunst hören – dasjenige, dessen die Feinsten bedürfen, die schon alles verdrossen hat! –
Dann gehen Sie wieder einmal über die Straße, gebückt und verdrossen. Sie wissen: Man darf nicht sagen: Straße ist ein Ding, das … Aber Sie haben vergessen, was es denn eigentlich ist. Sie erinnern sich, damals gesagt zu haben: „Etwas Vielverzweigtes, Geheimnisvolles und Räthselvolles, mit Fallgruben und unterirdischen Gängen, versteckten Kerkern und vergrabenen Kirchen –“ Aber Sie wissen nicht mehr, was Sie damit anfangen sollen.
Und eine grenzenlose Aussichtslosigkeit überkommt Sie!
ROBERT MUSIL