Bildung eines antiautoritären Lagers
Die Agitation der Viva-Maria-Gruppe und insbesondere Dutschkes Reden auf den Delegiertenversammlungen des SDS begannen zu wirken: „Jedesmal, wenn er (Dutschke) im Großen Saal des Frankfurter Studentenhauses ans Rednerpult tritt, wird es still unter den Delegierten. Wie Peitschenschläge fahren seine Thesen auf das Auditorium nieder. Dutschke hat das Zeug zum Demagogen.“ (Zeit, 9. September 1966) Innerhalb des SDS bildete sich eine antiautoritäre Fraktion, überhaupt gewann dieser Verein an Anhängern und Aktivisten. Die Überbleibsel der integrierten Linken im SDS waren dagegen hilflos. Insbesondere der Argument-Club – ein Sammelbecken der vorpraktischen politischen Studenten – war genauso unfähig, seinen akademischen und kontemplativen Standpunkt zu verlassen wie der neuen antiautoritären Welle entgegenzutreten. Frigga Haug schildert im Rückblick (2) die feindliche Übernahme durch die Subversiven:
„Wir haben versucht, die aufkommenden neuen Leute, wie Dutschke und Rabehl, zu bekämpfen, denn das Auftauchen dieser Antiautoritäten bedeutete für uns die Auflösung des SDS. Wir saßen oft zusammen und haben wie die Verrückten Tag und Nacht darüber nachgedacht, wie zu verhindern wäre, was wir nicht verhindern konnten. [...] Der SDS wurde durch die Gruppe um Rudi Dutschke umfunktioniert, die ihn als Material benutzten, um die breitere Studentenbewegung und die APO [Außerparlamentarische Opposition] zu formieren.“
Die neue, antiautoritäre Fraktion hatte sofort praktische Erfolge. Es gelang, eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg in ein Happening zu verwandeln, indem Rauchbomben gezündet oder eine Flagge auf Halbmast gehängt wurden. Die Zeitung wusste: „200 SED-Leute als Drahtzieher beim Studenten-Krawall.“ (BZ, 7. Februar 1966) Die Politiker wussten: „So wie die Dinge stehen, ist damit zu rechnen, dass die revolutionär Gesinnten im nächsten Semester drei- bis viertausend Studenten auf die Strasse bringen werden und dass die Neigung zum Umsturz wächst.“ (Anfrage des CDU-Abgeordneten Bichele). Kunzelmann riss die Gründung der Kommune I an sich; es entstand eine äußerlich wie Sodom und Gomorrha wirkende Brutstätte der Revolution. Ein geplantes Pudding-Attentat dieser Kommune auf den amerikanischen Vizepräsidenten führte zur ersten Hausdurchsuchung und zu Festnahmen. Ferner wurde in einige Vorlesungen an der Universität Unruhe getragen: „Eine extrem linksgerichtete Minderheit des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) sprengte gestern in der Freien Universität eine Diskussion zwischen Rektor Lieber und Studenten“ (Zeitungsmeldung jener Tage). Die Bewegung weitete sich aus. Ein Weihnachtsbaum mit amerikanischer Flagge wurde aufgebaut und mit einem Transparent – „Spießer aller Länder vereinigt euch“ – behängt. Die Polizei schritt gegen die 2.000 Studenten ein und nahm 74 von ihnen fest. Die Mitgliederkartei des SDS wurde beschlagnahmt.
Der offizielle SDS hatte damals Angst vor einem Verbot und gerade die Kommune I war ihm ein Dorn im Auge, weil sie begonnen hatte, zersetzende, mit „SDS“ unterschriebene Flugblätter herauszugeben. Insbesondere die sogenannte Keulenriege – Überbleibsel einer aus der SPD ausgetretenen linken Minderheit – versuchte, wenigstens Kunzelmann und Dutschke zu spalten, sprich, die Kommune I aus dem SDS auszuschließen, nachdem alle Versuche, Dutschke zu isolieren, an den neuen Mitgliedern des SDS scheiterten. Dass die Verbotsangst nicht unbegründet war, geht aus einem von Rabehl zitierten Bericht eines in den SDS eingeschleusten Polizeispitzels hervor:
„Sollte es der ‚Keulenriege‘ nicht gelingen, die passive Mehrheit im SDS für sich zu gewinnen und Kunzelmann auszuschließen, dürfte für den Senat der Universität die letzte Hemmung fortfallen, den SDS als nicht mehr förderungswillig zu erklären.“
Es gelang zwar – mit den Enthaltungen Dutschkes und Rabehls – die Kommune I aus dem SDS auszuschließen und das Fundament für eine verhängnisvolle Spaltung der Bewegung zu legen; den einmal erwachten Geist wurde man dennoch nicht los. Das antiautoritäre Lager war schon relativ gefestigt und so ging am 2. Juni 1967 die Taktik der ehemaligen Subversiven auf, als die berühmt gewordene Demonstration gegen den Schah von Persien eskalierte. Zuerst prügelten extra eingeflogene „Jubelperser“ auf völlig naive Demonstranten ein und als Quittung wurden dieselben verstörten Studenten von der deutschen Polizei gejagt und dabei sogar ein Zaungast aus ihren Reihen erschossen. Den Studenten brach damit eine Welt zusammen und dies zu erreichen, war ja grob die Taktik der Subversiven gewesen:
„Wir müssen den legalen Rahmen sprengen, wir müssen die sich selbst aufputschende Herrschaft provozieren, damit deren Gegenmassnahmen endgültig den Schein der Demokratie zerreissen; nur so wird die innere Kohäsion der Demonstranten aufgebaut und ein sozialistisches Bewusstsein geschaffen.“ (Rabehl)
Es ging in dieser Phase darum, den moralischen Internationalismus der Friedensbewegung zu überwinden, indem die Protestierenden zu Opfern der losgelassenen Staatsmacht wurden. Letztere war – von breiteren Kreise unbemerkt – wesentlich durch die kleineren Aktionen vor der Demonstration am 2. Juni stimuliert und provoziert worden und brauchte außerdem mal eine richtige Notstandsübung. Und so begannen die Studenten ab hier tatsächlich zu ahnen, in welcher Welt sie lebten und es platzten allerlei demokratische Illusionen. Die Taktik der Subversiven kam hier zu ihrem Höhepunkt und die eigentliche Studentenunruhe begann.
Nach dem 2. Juni waren die meisten Solidaritätsadressen linker Organisationen oder Individuen darum bemüht, die Studenten als reine Opfer einer übergeschnappten Staatsmacht darzustellen. Als dann aber Rudi Dutschke auf einer Konferenz zur Gegenoffensive aufmunterte und – für die Anwesenden offenbar sehr eindrucksvoll und überaus erfolgreich – zur Bildung von Aktionskomitees an allen Universitäten aufrief und von der „bewussten Durchbrechung der etablierten Spielregeln“ sprach, bemerkte der ebenfalls bei dieser Podiumsdiskussion anwesende Jürgen Habermas (3) den Schwindel. Er geriet in Aufregung, sprach von voluntaristischer Ideologie und davon, dass, wenn es stimme, dass hier eine Minderheit bewusst den Staat auf den Plan gerufen habe, man es mit einer Art „Linksfaschismus“ zu tun habe. Dieser verzerrt erscheinende, aber richtige Sachverhalt – dass es kleine, aber organisierte Kräfte gab, die bewusst eine Konfrontation wünschten – kommt ansonsten eher bei der Gegenseite ins Bewusstsein, aber in einigen Fällen thematisierten ihn auch linke Sympathisanten der entstehenden Revolte, wie der evangelische Pfarrer Friedrich Wilhelm Marquardt:
„Es handelt sich wirklich nur um eine Minorität, eine vergleichsweise winzige Anzahl protestierender Studenten, man kann die Zahlen auch hier noch weiter einschränken und kommt dann auf die sieben oder acht oder elf nicht nur protestierenden, sondern randalierenden Studenten, die Mitglieder der ‚Horrorkommune‘, die ‚Attentäter‘, die Handvoll Puddingmörder, die ‚FU-Chinesen‘ [Freie Universität Berlin (FU)], oder welche beschimpfenden oder karikierenden Ausdrücke diesen Leuten in den letzten Wochen angehängt worden sind.“
(2) Der Sammelband Die 68erinnen - Portrait einer rebellischen Frauengeneration enthält einige hier zitierte Erinnerungen von Frauen, die rund um 1968 aktiv waren. Unter anderem: Frigga Haug, Susanne Schunter-Kleemann, Sigrid Fronius, Dagmar Seehuber, Christel Kalisch, Helke Sander.
(3) Ein linker Philosoph bzw. Schwachkopf jener Tage