Radikalisierung und Spaltung der Subversiven Aktion
Ausgehend von diesem relativen Erfolg ihrer auf Revolution drängenden Tätigkeit sollten solche Happenings zukünftig systematisch verwendet werden. Die Tschombé-Demonstration wurde zum Muster weiterer Aktionen. Demonstrationen sollten nicht länger dem Ritualcharakter der traditionellen Linken folgen, die eher einer Prozession ähnelten, Symbole, Fahnen, Fetische zeigten und traditionelle Arbeiter- oder Protestgesänge anstimmten. Dutschke gab dabei in einem internen Debattenbeitrag die Richtung vor:
„Die Möglichkeit, die sich durch größere Demonstrationen ergibt, ist unter allen Umständen auszunutzen. Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich. Die Radikalisierung bei größeren Demonstrationen, die günstige Vorbedingungen liefern, ist kurzfristig, aber intensiv durch (bewusstseinsmäßig gestaffelte) verschiedene Flugblätter vorzubereiten, soll doch einigen an der Demonstration teilnehmenden potentiellen Mitarbeitern der ‚Sprung‘ zu uns möglich gemacht werden.“ (April 1965)
Mit diesen Demonstrationen wollte man letztlich auf die Bevölkerung einwirken, aber um ihnen mehr Kraft zu verleihen, brauchte man erst einmal mehr organisierte Revolutionäre. Es entstand schnell der Plan, den SDS als Ganzes zweckzuentfremden: er sollte durch Mitglieder der Subversiven Aktion unterwandert werden. Tatsächlich traten viele Mitglieder der Subversiven Aktion sowie einige mit ihr assoziierte Rätekommunisten in die jeweiligen SDS-Ortsgruppen in München und Berlin ein. Der Höhepunkt der Münchner Einmischung bestand in der Ausarbeitung von „Thesen zur Situation des SDS“, einem ersten Versuch, diese Vereinigung auf dem Boden der Marx’schen Theorie zu stellen und neue Formen der Praxis zu implementieren. Jedoch misstraute die Münchner Restgruppe schon bald dem neuen Aktivismus. Insbesondere Frank Böckelmann schien die neue Umtriebigkeit auf Kosten des eigentlichen Gehaltes zu gehen:
„Seit November 1964, als wir Dich zum letzten Mal sahen, hat sich in München und auch Berlin ein politischer Aktivismus (Kontaktaufnahmen, dauernde Besuche, Gegenbesuche und Grundsatzdiskussionen, gemeinsames Taktieren mit zeitweilig Verbündeten, Verfassen von Plakaten und Flugblättern, Störaktionen, Organisation von politischen Demonstrationen) entfaltet, der die Eigenständigkeit und die (auch vom linken Standpunkt) originellen und unausgearbeiteten Ansätze der Subversiven Aktion auslöschte und vor allem jede theoretische Besinnung und Selbstkritik unmöglich machte, so dass uns alle – außer Kunzelmann – nach einiger Zeit das makabre Gefühl beschlich, gar nicht mehr zu wissen, warum und wozu man eigentlich agierte. Die neuen Vokabeln, die wir schlucken und lernen sollten, hießen: Arbeiterpraxis, Gewerkschaftskurse am Wochenende zur Bewußtseinsbildung von Arbeitern, Kaderbildung im Betrieb, Räteprinzip, Rhetorik-Schulung, Vorwegnahme von Formen proletarischer Demokratie in der kapitalistischen Produktionsbasis, ‚Multiplikatoren‘ von Klassenkampfideologie (also so ähnlich wie: und Jesus sandte seine Jünger aus in alle Weltteile, auf dass alle vom Geiste des Herrn sollten genährt werden [...]).“ (Frank Böckelmann an Christopher Baldeney. 14.06.1965)
Nach einem weiteren Konzil der Subversiven Aktion im April 1965 reduzierte der Münchner Flügel die Agitation innerhalb des SDS und der anderen Gruppen wieder. Vor allem die von Kunzelmann forcierte Fusionierung mit einer rätekommunistischen Gruppe wurde abgelehnt. Er wurde dann auch zusammen mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin Marion Steffel Stegar ausgeschlossen; beide zogen bald ungefähr ein halbes Jahr später nach Berlin. Dutschke und Rabehl waren zum Zeitpunkt des Konzils verhindert. Als Dutschke sich die Tonbänder des Konzils anhörte, erklärte er, der Ausschluss Kunzelmanns sei „sachlich nicht begründet“, und war auch vollkommen entsetzt über die neue Ausrichtung der Gruppe, die seiner Ansicht nach viel zu pessimistisch war und die Integration der Arbeiter in die Gesellschaft zu sehr in den Vordergrund stellte, während das Potenzial der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt vollkommen unterschätzt würde. Für Rabehl und Dutschke wurde die Subversive Aktion seitdem uninteressant. Die Münchner Restgruppe um Frank Böckelmann agierte zwar weiterhin im SDS, bald unter dem die neue Stoßrichtung bezeichnenden Namen Studiengruppe für Sozialtheorie. Diese trat in relevanter Weise hauptsächlich schriftstellerisch in Erscheinung und legte des Weiteren ihren Schwerpunkt darauf, mit zahlreichen Sätzen die Unmöglichkeit einer Revolte zu beschwören. Die dritte und letzte Nummer des »Anschlags« – ein dicker Stapel von Schreibmaschinenseiten ohne Layout – wurde bereits ohne Dutschke und Kunzelmann herausgegeben. In ihr befindet sich unter anderem die Abhandlung »Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit«, in der Frank Böckelmann 1966 seinen ehemaligen Genossen theoretisch entgegentritt:
„Hinter der aktivistischen Entschlossenheit beim Aufbau von Betriebskadern und dem Knüpfen von Kontakten mit südamerikanischen Guerillas, die revolutionäre Praxis zur Rechenaufgabe, zum heroischen Idealismus, zur Staatsstreichtechnik verkehrt, steht Verzweiflung. Diese aber ist berechtigt und muß ausgehalten werden.“
Die Berliner bildeten dagegen zusammen mit dem zugezogenen Kunzelmann sowie Aktivisten aus der Dritten Welt und Rätekommunisten die nach dem gleichnamigen Film mit Brigitte Bardot benannte Viva-Maria-Gruppe innerhalb des SDS. Diese Gruppe bildete den Keim des später sogenannten antiautoritären Lagers. Sie belebte die langweiligen Demonstrationen oder organisierte eigene Demonstrationen. Diese scheinbar unpolitischen und nur die Form des Protests betreffenden Provokationen wurden von einer ausgedehnten Theoriearbeit innerhalb des SDS flankiert und so gelang es tatsächlich, den Berliner SDS zur Schaubühne richtiger Debatten zu machen.
Diese Spaltung und Auflösung der Subversiven Aktion ist tragisch. Tatsächlich ging die Studentenbewegung an ihrem Aktivismus zugrunde und es hätte vielleicht besser laufen können, wenn eine radikale praxisskeptische Fraktion dem aktivistischen Flügel als Korrektiv gegenübergestanden hätte. Stattdessen erschienen alle mahnenden Stimmen durchweg als die Revolte bremsende oder erstickende Momente und wurden als solche von den radikalsten Gruppen und Individuen bekämpft. Die Münchner Restgruppe hatte jedenfalls durchaus recht, wenn sie die Tiefe der Eruption von 1968 bezweifelte, aber sie entpuppte sich als völlig unfähig, überhaupt in den Lauf der Dinge einzugreifen, während sich der Aktivismus des Dutschke-Flügels durchaus kontratheoretisch verhielt und tatsächlich einen gewissen Staub aufzuwirbeln half.
Der praktisch erfolgreiche Flügel war dabei ganz gewiss nicht vollständig naiv und war auch nicht vollständig durch die neu erworbene, in Wahrheit traditionelle Arbeiterrhetorik aufgesogen worden, wie Böckelmann suggerierte. Außerdem kam es sofort zu weiteren Spaltungstendenzen und zu Widersprüchen zwischen Kunzelmann auf der einen und Dutschke/Rabehl auf der anderen Seite. Kunzelmann schrieb einen ungemein euphorischen Strategiebeitrag, indem er – durchaus sensibel für die untergründige Entwicklung seiner Epoche – einen extremen Voluntarismus vertrat:
„Die Bewegung, die allgemein heute vor sich geht, beweist mir, dass trotz der Analyse der Frankfurter Schule der Zeitpunkt naht, wo kollektives Unbehagen virulent gemacht werden muss in Richtung auf emanzipierte Gesellschaft. Die Anzeichen von Veränderung mehren sich. Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, in München gibt es zwanzig Revolutionäre, ich hätte hämisch gegrinst. Heute existieren sie, und es werden von Tag zu Tag mehr. Die Unmöglichkeit, Gesellschaft zu verändern, verwechselten wir zu oft mit unserer eigenen Unfähigkeit, den Damm der Isolation zu durchbrechen. Die Intensivierung aller möglichen Kontakte ohne Reduzierung unserer revolutionären Gewalt ist die Vorbedingung, das Besondere allgemein werden zu lassen. Nur an unseren noch mangelnden Kräften liegt es und nicht an der allgemeinen Stagnation, dass wir noch keine Kader in Betrieben aufgebaut haben. Der geringste Anlass kann zum Fanal des Umsturzes werden.“ (Brief von Dieter Kunzelmann an die Berliner Gruppe vom 09.03.1965)
Das ging wiederum Rabehl und Dutschke deutlich zu weit. Rabehl antwortete ausführlich auf den Beitrag von Kunzelmann und verwies mit aller Deutlichkeit auf die Integration des deutschen Proletariats: „Wir müssen mit der totalen Entfremdung des Arbeiters rechnen, zumindest doch in Erwägung ziehen, mit seinem Desinteresse, das alle Appelle an sein Klassenbewusstsein abprallen lässt.“ Man könne zunächst nur Konflikte innerhalb der Studenten- und Friedensbewegung aufbrechen lassen: „Wir agieren also eher in der Demonstration als für die Außenstehenden, für die Gaffer. Wir brauchen in Berlin keine rund 500 humanistischen Schwärmer, die sich den Luxus leisten können, zu protestieren; wir benötigen 500 Humanisten der Tat!“ Gleichzeitig legte Rabehl aber Wert auf die wesentliche Rolle der den Reichtum produzierenden Klasse und hoffte, dass die weitere Entwicklung längerfristig die „ökonomische Konformität zerreißt und den alten Klassenkonflikt aufbrechen lässt“, ohne dass dies aber schon jetzt näher bestimmt werden könne. Dutschke äußerte sich ähnlich.