Destitution (Entsetzung)
Anders als symmetrische und dialektische Modelle der Konfrontation, die Formen der Regierung nur opponieren, um Alternativen vorzuschlagen, ist Destitution eine Form der Verschwörung, die darauf abzielt, den Apparat, der das Leben und Verhalten des neoliberalen Subjekts regiert, zu deaktivieren und abzuschalten, sowohl territorial, als auch subjektiv. Eine revolutionäre (destituierende) Subjektivität in der heutigen Epoche entleert die Macht und verwehrt sich dabei einer Identität oder anderer Formen der Subjektwerdung.
Destitution ist eine opake Kunst, die Anarchie der Macht umzuwerfen – in Richtung auf wirkliche Anarchie, verstanden als ein Leben, das keine Legitimität braucht und im freien Spiel und Austausch zwischen den Lebensweisen wurzelt. Folgt man dem Unsichtbaren Komitee, besteht eine Möglichkeit, die Anarchie der Macht mittels Aktionen offen zu legen, darin, ihre Grundlosigkeit zur Schau stellen. Das heißt nicht, ihre Gewalt zu denunzieren, um einen demokratischen Skandal auszulösen, sondern vielmehr, Schläge auszuführen, die zeigen, daß die wahre Natur der Macht bar jedweder abstrakten Legitimität ist (ein Gesellschaftsvertrag, Demokratie, Gleichheit, Nation, Ordnung etc.). Ebenso braucht auch eine Geste der Destitution keine Legitimität, da sie ihren Ausdruck in einer vernünftigen und ersichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit verankert, die keine diskursive Bedeutung benötigt. Solche Gesten zwingen die Polizei, sich als das zu zeigen, was sie ist: eine kriminelle Bande wie alle anderen, die um die Herrschaft über ein Gebiet kämpft.
Folgt auf eine Geste der Destitution, die die Macht zwingt, wieder auf Erden zurückzukehren und sich in ihrer Materialität zu zeigen, ein konstituierender Prozess (einer Strategie und eines Subjekts), wird der Konflikt wahrscheinlich zu einem frontalen Zusammenprall mit den Gewalten der Ordnung führen. Er wird zu einem tragischen Krieg in einer symmetrischen Konstellation, in der die konterrevolutionären Kräfte (die Polizei) all ihre überwältigenden Kräfte einsetzen werden, um die Schlacht zu gewinnen. (19) Das passiert jeder Bewegung, die, wenn sie in ihrem Widerspruch zum Staat in eine Sackgasse geraten ist, entweder ins Verfallsstadium eintritt oder einen Kern freilegt, der das Level des Kampfes kontinuierlich so zu erhöhen trachtet, bis er auf tragische Weise militärisch wird und jeder revolutionäre Schimmer erlischt. Der Bürgerkrieg versteinert in zwei feste Fronten, mit einem Gegner, der neben dem militärischen Vorteil auch noch das Privileg hat, sich auszusuchen auf welchem Feld die Schlacht geschlagen wird.
Diese Wahrheiten zeigen sich uns im gegenwärtigen französischen Kampfzyklus: Einerseits die innovative Fähigkeit des Aufbruchs, eine neu zusammengesetzte Subjektivität zu initiieren; eine Fähigkeit, die in sich selbst als destituierend betrachtet werden muß, insofern sie Erfolg dabei hat, sowohl einer dialektischen Logik mit dem Staat zu entgehen, als auch sich in praktischem und rhythmischem Sinne fortwährend neu zu erfinden (etwa bei der Wahl des Zeitpunkts der Aktionen). Wenn 'Aufstände der Erde' eine große Fähigkeit gezeigt hat, die Polizei in Schach zu halten und bloßzustellen, ist das ganz analog zum großen Teil der innovativen Kraft zu verdanken, die die neue Zusammensetzung hervorbringen konnte. Allerdings scheint diese Fähigkeit, neue unerwartete Formen hervorzubringen, am 25. März nachgelassen zu haben, wo sich die Zusammensetzung eher verfestigte und die angewandte Strategie ähnlich der vom Vortag war. Das Ergebnis war eine Reihe von Entscheidungen, die für die Polizei vorhersehbar geworden waren, die sich dazu entschied, die Ankunft der Demonstration abzuwarten und eine 'Belagerungs'-Dynamik zu beginnen, welche es ihr ermöglichte, die Menge brutal anzugreifen. Die darauf folgenden Analysen der taktischen Fehler in diesem Fall sind sicherlich stichhaltig (20), aber um in der Lage zu sein, die Sackgasse vom 25. März zu umgehen, wird eine Neuformulierung der allgemeinen strategischen Annahme erforderlich sein, die zur Automatisierung und Verhärtung der Organisationsfähigkeit geführt hat, wodurch verhindert wurde, daß die Bewegung improvisieren und die Gegenseite verwirren konnte wie noch im letzten Oktober.
Eine Annahme könnte sein, auf eine Verbreiterung des Zusammensetzungsprozesses abzuzielen: In dieser Hinsicht haben Versuche, den Kampf um den Wasserspeicher auf eine internationale Ebene auszuweiten, auf der einen Seite dazu geführt, daß das Niveau der Erwartungen an die Konfrontation erhöht wurde (eine Gelegenheit, die zu ergreifen die Polizei sich nicht nehmen ließ); auf der anderen Seite kann eine Internationalisierung die Neuformulierung der taktische Organisierung der Demonstration erschweren. Und wenn wir zurückblicken, haben internationale Treffen und Kampagnen, die einen Kampf quantitativ vergrößern sollten, selten einen qualitativen Sprung herbeigeführt. Wenn überhaupt irgendwas, dann kündigen sie oft den Abstieg und Niedergang der Wirklichkeit der Kämpfe an. Im Gegensatz dazu ist unsere Annahme, daß die Stärkung und Vertiefung eines Kampfes eher aus der Intensivierung der Beziehungen der sie zusammensetzenden Komponenten erwachsen oder vielleicht auch von einer abwechselnden Zersetzung und Neuzusammensetzung, die neue und nicht vorhersehbare Formen der Improvisation hervorbringen könnte.
Bis März 2023 war die Bewegung in Atlanta in der Lage, die Initiative zu halten, indem sie eine Reihe von Aktionen ausführte, die die Polizei fast immer unvorbereitet trafen. Das ist natürlich so, weil die inneren Dynamiken der Bewegung extrem undurchsichtig sind, vor allem für die Polizei, die weiter im Dunkeln nach einer radikalen Führungsgruppe sucht, die für die zerstörerischsten Aktionen verantwortlich ist, aber auch, weil jede Aktionswoche unterschiedlich und in hohem Maße improvisiert gewesen ist. Während der 'Aktionswoche' vom März 2023 hat dieser Vorteil die Bewegung dazu verleitet, das Niveau so sehr zu erhöhen, daß schneidendere Formen der direkten Aktion schwer vorstellbar sind. (21) Zur selben Zeit war die Polizei gezwungen, mit einer willkürlichen Festnahme einiger Leute zu antworten, gegen die der schwere Vorwurf des 'inländischen Terrorismus' erhoben wurde. Als sich die Stadt Atlanta fast einen Monat später entschloß, das Projekt voranzutreiben und anzufangen, einen Teil des Waldes abzuholzen und dessen Umgebung zu militarisieren, vermied es die Bewegung, auf den Schritt der Stadt zu reagieren und in die Falle zu treten (das hätte heißen können, die Baustelle zu besetzen). Zur selben Zeit haben Versuche, anderswo anzugreifen und den Konflikt zu dezentralisieren, bislang offenbar noch keine effektiven Formen gefunden, trotz der guten Intuition (quer durch die USA fanden zahlreiche Aktionen statt, um die mit dem Cop-City-Projekt verbunden Gegebenheiten zu 'sanktionieren'). An diesem Punkt besteht die einzig verfügbare Strategie darin, die explosiven Widersprüche innerhalb der demokratisch regierten Stadt zu schüren, indem der Druck auf den Bürgermeister immer weiter erhöht wird, dabei den breiten Konsens ausnutzend, der gegenüber der Bewegung in der Bevölkerung besteht. Dies könnte die Achse des Kampfes jedoch jenseits der Fähigkeiten der Bewegung verschieben. Wie manche Leute, die schon lange Teil der Mobilisierung sind, erkannt haben, könnte die Einbindung neuer Subjektivitäten in den Zusammensetzungsprozess neues Leben in den Kampf bringen, wie es schüchtern im Fall der Studenten passiert ist, die bestimmte Universitätsgebäude in Atlanta besetzt haben, oder durch das Experimentieren mit praktischen Formen, die einen qualitativen Sprung bei der Unterstützung und beim Engagement bei den dem Projekt feindlich gegenüberstehenden 'Bürgern' herbeiführen geeignet sind.
Wenn eine Bewegung nicht länger zur Verteidigung (oder zum Angriff) in der Lage ist, weil sie ihre taktischen Ressourcen aufgebraucht hat, besteht das Risiko des Rückfalls in politische Dynamiken. Die Strategie fängt an zurück in repräsentative Formen der Politik zu rutschen, taktische Entscheidungen fallen leicht zugunsten performativer Formen, die darauf zielen, auf der Ebene der Öffentlichkeit oder der Medien zu intervenieren. Das Geschehen in Atlanta oder auch in Frankreich (besonders kürzlich in Val Maurienne), ist dem Risiko ausgesetzt, in eine ähnlichen Richtung zu gehen wie die No-TAV-Bewegung in Italien. Konfrontiert mit ihrem Niedergang, fing diese an, sich in repräsentativer Politik zu fliehen, entweder, indem sie die 'Demokratie' nutzen wollten oder einfach, indem man in stumpfen Aktivismus zurückfiel und Medienaufmerksamkeit suchte. In diesen Momenten öffnet die 'Strategie der Zusammensetzung' nicht mehr den Weg Richtung Revolution. Stattdessen fallen die Gruppen in immer stärker identitäre Dynamiken zurück; die politischeren fangen dann an, Konsensbildung zu betreiben und ihre Position im Auge der Öffentlichkeit zu stärken, 'Kapital' aus dem Konflikt zu schlagen. Die starke moralisch-politische Spannung am Grunde des Kampfes wird ersetzt durch eine Dynamik der Öffentlichkeit und Politik. Wenn Politik öffentlich wird, setzt sich die Bewegung nicht nur der Repression aus, sie verliert auch die Fähigkeit, zu improvisieren und unvorhersehbar zu bleiben.
Eine Strategie der Zusammensetzung kann die revolutionären Möglichkeiten eines Kampfes nur dann 'offenlegen', wenn sie offen bleibt und dabei eine Zielrichtung der Destitution verfolgt. Das heißt einerseits, sich immer in Richtung Flucht vor jedweder dialektischen Dynamik mit der Macht zu orientieren, und andererseits, die aus dem Zusammensetzungsprozess entstandenen Formen einer ständigen Neukombination und Brüchen auszusetzen. Eine Neukombination kann, wie im Beispiel der Mobilisierung gegen die Rentenreform, durch das Einbrechen eines neuen, für der Macht schwer zu entziffernden Protagonisten stattfinden. Oder sie versucht bei Schwierigkeiten, Platz für neue Komponenten zu machen, weitere Konfigurationen des Zusammentreffens und Kontakts zwischen den kämpfenden Subjektivitäten zu entdecken und Wege der Desubjektivierung zu suchen, um einen Versteinerungsprozess zu verhindern.
Und wenn kein neuer Rhythmus gefunden werden kann, wenn die experimentellen Fähigkeiten erschöpft worden sind, müssen wir den Beginn des Verfallsprozesses erkennen, da jeder voluntaristische Versuch der Wiederbelebung nur in Formen von Opferungsmilitantismus endet, der die Macht spiegelt, die bekämpft werden soll. Aus einer breiteren strategischen Sichtweise kann solch ein Wille zur Opferung auch in einem Verlust der Lektionen resultieren, welche der Kampf ansonsten lehren und weitergeben hätte können, die logistischen, organisatorischen und praktischen Fähigkeiten, die andernfalls ein Schlüsselvermögen für eine neue Phase des Konflikts in der Zukunft sein hätten können.
In einem Wort: Die revolutionären Möglichkeiten jedes Kampfes hängen von seiner Fähigkeit ab, destituierende Kraft zu erschaffen und zu erhalten; und das in einem Prozess der Negation und Selbstnegation, der sich durch fortlaufendes Experimentieren und Improvisieren selbst regeneriert. Revolution ist eine alchimistische Kunst: Bei ihr geht es um das Gießen von Gold, Stahl und Blut, um damit neue Verbindungen zu erzeugen, neue Strategien zu kombinieren, und das Ganze in einer endlosen Heterogenesis.
Nicolò Molinari, 23. Juni 2023
(19) In The Anarchy of Power betont Nelson einige Grenzen bei der Überführung einer destituierenden Macht in eine Gegenmacht: „Eine Politik, die sich jedem Anspruch auf Legitimität verweigert, kann tatsächlich, wie das Unsichtbare Komitee schreibt, die Regierung dazu zwingen, ‚sich auf die Ebene der Aufständischen zu erniedrigen, die dann nicht länger mehr die ‚Monster‘, Kriminellen’ oder ‚Terroristen‘ sein können, sondern ganz einfach Feinde’; sie kann ‚die Polizei zwingen, fortan nichts mehr als eine Bande zu sein, und das Justizsystem zu einer kriminellen Vereinigung machen‘. Damit ist jedoch das Risiko verbunden, daß der folgende Kampf zu einem ‚Kampf um Leben und Tod‘ zwischen den Fraktionen wird. In solchen Fällen wird eine zu kurz gefaßte Destitution zum zerbrochenem Metonym einer sinnvollen politischen Existenz – und produziert dabei Opfer einer anarchischen Epoche. Um das klar zu sagen: Eine solche tödliche Identifikation von dem, was man ist oder was wir sind, mit dem, was zu tun ist, von Sein und Praxis ist überhaupt nicht bezeichnend für Destitution – jedoch ist es das Risiko, das gebe ich zu, welches eine Politik der Destitution besonders und wesenhaft birgt.‘
(20) Siehe: Les Soulèvements de la Terre: To those who marched at Sainte Soline, Ill Will, 24. April 2023
(21) Eine ganze Baustelle wurde in Brand gesteckt.