Die Geschichte
„La rosa de foc ha tornat!“ Mit diesen Worten drückten viele Leute während des Generalstreiks in ganz Spanien am 29. März ihre Begeisterung aus. Die Gewerkschaften schätzten die Beteiligung am Streik auf beeindruckende 77%, aber es waren die Feuer, die den Himmel über Barcelona verdunkelten, über die alle sprachen.
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als in Barcelona mehr anarchistische Attentate und Bombenanschläge durchgeführt wurden als in zwei beliebigen Ländern zusammen und als dort Dutzende von Kirchen und Polizeistationen niedergebrannt wurden, wurde die Stadt liebevoll la rosa de foc genannt, „die Feuerrose“. Die Periode der „revolutionären Gymnastik“ in den 1920ern und 30ern machte die Stadt zu einem Laboratorium der Subversion für anarchistische Kämpfe weltweit, eine Rolle, die durch die Revolution vom Juli 1936 noch verstärkt wurde. Der Kampf der katalanischen maquis – Guerillas – während der Franco-Jahre war der Vorläufer der Guerillakämpfe, die in Europa und Lateinamerika in den 1960er und 70er Jahren aufblühten; in manchen Fällen wurden von ihnen ausgehend auf direktem Wege Erfahrung und Material weitergegeben. Jedoch ist diese Geschichte aufgrund des durch Faschismus und Demokratie erzwungenen Bruchs weitgehend verloren gegangen und Barcelona hat seine Bedeutung auf der Bühne der Revolution verloren.
Unterstützt von den demokratischen Mächten haben vierzig Jahre Diktatur und Repression die anarchistische Bewegung in Katalonien und im restlichen Spanien erfolgreich unterdrückt. Ein pro-anarchistisches Gefühl blieb in großem Ausmaß bestehen, versickerte jedoch, als die wiederkehrende soziale Revolution in den 1970er Jahren durch den Übergang zur Demokratie abgelenkt wurde. Hunderttausende gingen auf die Straßen, in der Hoffnung, die Fackel wiederaufzunehmen, die 1936 fallengelassen worden war, aber die Regierung spielte ihr Blatt geschickt aus, die zurückgekehrte CNT hingegen ihres erbärmlich, und die Demokratie triumphierte. Seither wurde die Stadt gezähmt, um nicht zu sagen: vollständig befriedet, und die Feuerrose war vergessen.
Heftige Stadtteilkämpfe fanden bis in die 1980er Jahre statt, aber sie beschränkten sich weitgehend auf marginalisierte Einwandererviertel (1) und wurden durch die politische und wirtschaftliche Integration – oder den Abriss – der Slums und Barackensiedlungen beruhigt. In den 1990er Jahren gab es mehrere intensive, durch Hausbesetzer und Antifaschisten angezettelte Krawalle, aber die Medien konnten diese erfolgreich als isolierte Phänomene darstellen. In den 2000er Jahren schritten die gesellschaftliche Kontrolle und Befriedung mit großen Sprüngen voran. Eine neue, in demokratischen Kontrolltaktiken ausgebildete Polizeitruppe, die mossos d’escuadra, wurde etabliert, parallel dazu mit Nachdruck ein Feldzug zur Durchsetzung obrigkeitlicher Verhaltensvorschriften geführt. Die Krawalle verschwanden und mit ihnen das know how des Straßenkampfs, der Gebrauch von Molotowcocktails und der Widerstand gegen Gebäuderäumungen. Die Polizei wurde unberührbar: Sobald sie angriff – oder auch nur ihre Knüppel schwang –, stoben die Leute auseinander.
Ein kämpferischer Geist war immer noch weit verbreitet, zumindest unter Anarchisten, einigen Hausbesetzern und einem Teil der indepes, der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung (2), aber die Mittel, um diesen auszudrücken, waren verloren. Im Jahr 2007, als die Polizei versuchte, ein für alle Mal die unangefochtene Kontrolle über die Straßen zu gewinnen, indem sie einen nicht genehmigten Protest einkesselte und unterband, konnten die sogenannten antisistemas (3) diesen Versuch stoppen, indem sie breitere Bündnisse suchten, auf die Straßen zurückkehrten und den Widerspruch zwischen der Machtanmaßung des Staates und seiner demokratischen Selbstdarstellung betonten. Diese Beharrlichkeit war nicht ganz erfolglos, aber niemand hatte einen Plan, wie man wieder in die Offensive kommen könnte.
Als die Wirtschaftskrise das staatliche Sozialsystem erodieren ließ, welches den sozialen Frieden garantiert hatte, begannen viel mehr Leute als die paar Tausend antisistemas aktiv zu werden. Nachbarschaftsversammlungen bildeten sich, iniitiert von wohlmeinenden Reformisten, indepes und heimlichen Libertären, die ein paar Trotzkisten und ähnliche Leute anzogen. Die anarchistische CNT und die anarcho-reformistische CGT, die durch kleine Arbeitskämpfe in einer Supermarktkette und unter den Busfahrern in Form gehalten wurden, rüsteten sich für eine Schlacht, die ihrer Geschichte eher gerecht würde. Die indepes waren verärgert über ihre jahrelange Bedeutungslosigkeit trotz der verbreiteten Befürwortung der Unabhängigkeit von Spanien. Durch das Aufkommen einer neuen politischen Partei, die noch nicht in die Regierung eingetreten ist, um sie zu verraten, witterten sie Morgenluft und machten sich ebenfalls bereit zu einer neuen Offensive. Die Anarchisten des schwarzen Blocks, die nun nach Jahren der Aktion-Repression-Gefangenenunterstützung endlich die Initiative ergreifen konnten, bewegten sich von dem begrenzten Feld der klandestinen Aktionen, antisozialen Propaganda und der Selbstorganisation in autonomen Ghettos hin zu einem durchlässigeren Terrain, auf dem die von ihnen ausgebildeten Fähigkeiten größere Wirkung entfalten konnten.
Zum Generalstreik vom 29. September 2010 war von den großen Gewerkschaften (CCOO und UGT) zusammen mit kleineren Gewerkschaften wie der CNT und der CGT aufgerufen worden. Ein großer Teil der organisatorischen Arbeit wurde jedoch auch von Stadtteilversammlungen, nicht gewerkschaftlich organisierten Anarchisten, indepes und anderen übernommen. Auf nationaler Ebene war der Streik vom Gewerkschaftsstandpunkt aus ein Erfolg, da sich die Mehrheit der Beschäftigten an ihm beteiligte, obwohl es der erste Generalstreik seit acht Jahren war. In Barcelona war er vom aufständischen Standpunkt aus ein Erfolg, da er Anlass zu einem heftigen Krawall gab, in dem sich Angriffe auf Repräsentanten der Regierung und des Kapitalismus verallgemeinerten. Der Aufruhr war weitgehend spontan, es waren viel mehr Leute beteiligt als die üblichen Verdächtigen, und er erreichte eine Größenordnung und Intensität, die man mindestens seit den La-Cine-Princesa-Krawallen 1996 (4) nicht mehr gesehen hatte. Eine große Anzahl von Festnahmen mit schweren Anklagen und eine intensive Dämonisierungskampagne durch die Medien wurden zur Grundlage für zukünftige Aktionen und Haltungen. Nichtsdestotrotz verlieh der September 2010 vielen Akteuren mehr Kraft und größeren gesellschaftlichen Rückhalt.
CCOO und UGT gingen sofort an den Verhandlungstisch und verscherbelten einen Großteil dieses Rückhalts für das Privileg, bei der Rentenreform der sozialistischen Regierung mitmischen zu dürfen. Beide Gewerkschaften waren ganz in ihrem Element. Die UGT spielte in den 1920er und 30er Jahren eine wesentliche Rolle bei der Behinderung proletarischer Kämpfe; sie war die Massenorganisation, die dem armseligen Häuflein von Stalinisten die Stütze bot, die es brauchte, um die Revolution zu sabotieren. Die CCOO (Comisiones Obreras, Arbeiterausschüsse) ist die Institutionalisierung der libertär- kommunistischen Arbeiterautonomiebewegung der 1970er Jahre. Als die Faschisten, die sich in den partido popular, die Volkspartei, verwandelt hatten, nach Linken suchten, die sie in die Regierung einbinden konnten, um ihnen zu helfen, die Revolution zu verhindern, indem sie eine demokratische Maske aufsetzten, fanden sie ihre Leute in der CCOO und der neu gegründeten Sozialistischen Partei (PSOE).
Auf der anderen Seite der Barrikade überwanden die CGT (eine Abspaltung von der CNT) und die beiden CNTs (eine weitere Spaltung) ihre uralte Feindschaft und begannen, enger zusammenzuarbeiten. Hausbesetzer und Anarchisten des Schwarzen Blocks begannen ebenfalls, mit CNT-Anarchisten zusammenzuarbeiten oder sich den Nachbarschaftsversammlungen anzuschließen und mit indepes, heimlichen Libertären und Community-Aktivisten zu arbeiten. Die weitverbreitete Isolation, die sicherlich ebenso sehr Folge einer gemeinsamen sozialen Lage wie einzelner Entscheidungen war, begann, sich aufzulösen.
Im Januar 2011 beschlossen die letztgenannten Gruppen, einen weiteren Generalstreik ohne die zwei großen Gewerkschaften zu organisieren. Die meisten Leute hielten diesen zweiten Streik aufgrund der geringen Beteiligung für eine Niederlage. Sie fassten den Zweck eines Streiks im Sinne der quantitativen, organisatorischen Mentalität der Gewerkschaften auf. Die historische Bedeutung des Januarstreiks bestand jedoch darin, zu zeigen, dass CCOO und UGT die Dinge entgleiten. Er zeigte, dass diejenigen, die von einer eher aufständischen Logik ausgehen, die Initiative ergreifen, eine bedeutende Störung des Normalbetriebs herbeiführen und radikale Ideen verbreiten können, wenn sie bereit sind, über ihre engen Kreise von Gleichgesinnten hinauszugehen und die unmittelbaren Fragen der materiellen Existenzgrundlage anzusprechen, die normalerweise von reformistischen Diskursen monopolisiert sind. Diese Entdeckung berührt den Kern zweier Spannungen, die in der Geschichte der Ereignisse des 29. März immer wiederkehrten. Diese Spannungen haben damit zu tun, wie das Prinzip der Affinität seine Funktionsweise ändert, je nach dem, ob man es mit Zeiten der Isolation oder mit solchen der Vereinigung zu tun hat; und damit, dass unmittelbare Anliegen normalerweise mit reformistischen Methoden und idealistische Anliegen mit revolutionären Methoden verbunden werden, was zu einer falschen Gegenüberstellung führt. Darauf wird im letzten Abschnitt genauer eingegangen.
Nach dem 27. Januar 2011 war das nächste bedeutende Datum der 1. Mai, an dem der antikapitalistische Protestmarsch, bestehend aus Anarchisten des Schwarzen Blocks, der CNT und vielen indepes, von Gràcia in das reiche Viertel Sarrià zog, wo er Hunderte von Banken und Luxusgeschäften zerstörte, bevor es der Polizei gelang, ihn auseinanderzutreiben. Der 1. Mai 2011 demonstrierte die Stärke dieses neuen Zusammentreffens von bisher getrennten Sektoren der antisistemas. Die Leute hatten noch nicht die Kraft, der Polizei zu widerstehen und sie hatten auch das know how des Straßenkampfs noch nicht wiedergewonnen, aber sie haben es geschafft, zum Angriff überzugehen. In den Jahren vor 2011 hatten die Anarchisten des Schwarzen Blocks in Barcelona versucht, den 1. Mai als einen kämpferischen Feiertag zurückzugewinnen, wobei sie trotz kreativer und verschiedenartiger Versuche nicht erfolgreich waren, während die CNT-Anarchisten sich damit zufriedengaben, friedliche Märsche im Gedenken an eine verblichene Geschichte abzuhalten. Der Erfolg von 2011 war ein wichtiger Durchbruch. Er weckte offenbar auch eine Furcht, dass antikapitalistische Gewalt gegen die Reichen weithin Anklang finden könnte – die Medien unterdrückten fast alle Nachrichten und Bilder über den Protest.
Andererseits zeigte die Kritik einiger am Protest Beteiligter, dass diese neuen Beziehungen verloren gehen würden, wenn die Vermummten heterogene, vielgestaltige Räume instrumentell als ein stummes und bequemes Terrain betrachten, auf dem man Chaos anrichten kann und sonst nichts. Diese Kritik war nicht pazifistisch und kam auch nicht von Leuten, denen es missfällt, wenn ein reiches Viertel verwüstet wird. Sie hatte mehr damit zu tun, wer die Hauptleidtragenden der Repression waren, wer die Front gegen die Polizei hielt und wer die Scheiben einschlug; es ging auch darum, ob man sich an gemeinsame Ziele hält und ob man Informationen weitergibt, sodass andere nicht unvorbereitet auf eine konfrontative Situation sind. Nichtsdestotrotz, nachdem sie jahrelang auf eine breite gesellschaftliche Ablehnung ihrer Gewalt gestoßen waren, lag es für die eher insurrektionalistischen unter den antisistemas nahe, diese Kritik zu ignorieren.
Kurz nach dem 1. Mai begann die Bewegung der Platzbesetzungen vom 15. Mai. Wie die M15-Bewegung sich entwickelte und wie die Demokraten sich maskieren mussten, nur um an ihrer eigenen Kreation teilzunehmen, zeigte den Einfluss von Anarchisten, der weit über deren Zahl hinausging. Politiker waren nicht erlaubt. Die Praxis der offenen Versammlungen und die Idee, dass „niemand uns repräsentiert“, waren generalisiert. Jede Gruppe und Organisation musste zumindest ein Lippenbekenntnis zur Denzentralisierung, Horizontalität und gegenseitigen Hilfe abgeben, und in einigen neuen Gruppen und Aktionsformen wurden diese Ideen auch tatsächlich praktiziert. Eine schnell wachsende Minderheit innerhalb der Bewegung brach mit der Sichtweise, dass die Medien Verbündete seien, und reagierte auf diese mit Kritik, Abscheu und sogar mit physischen Angriffen. Die pazifistische Hegemonie wurde innerhalb von Monaten besiegt. Die Stadtteilversammlungen erlebten einen Quantensprung: Anstatt sechs gab es nun über zwanzig davon, an denen sich nicht mehr Dutzende, sondern Hunderte beteiligten und die von geschlossenen Räumen auf zentrale Plätze in jedem Viertel umzogen. Einige Nachbarschaftsversammlungen ließen sogar autonome direkte Aktionen von Beteiligten zu und praktizierten eine pluralistische, nicht einheitliche Entscheidungsfindung und gingen so über den Kleinautoritarismus der direkten Demokratie hinaus.
Protestmärsche, und mit ihnen die Praxis, in Kolonnen von jedem Stadtteil aus zum Startpunkt der Demo ins Zentrum zu marschieren – wobei sogar eine Gruppe von nur 50 Leuten in der Lage war, eine Hauptstraße zu übernehmen –, wurden so alltäglich, dass die Polizei nicht länger versuchte, unangemeldete Demonstrationen zu unterbinden. Solidarität und die Unterstützung von Gefangenen wurden zur gemeinsamen Verantwortung: Tausende, einschließlich ganzer Stadtteilversammlungen, wurden aktiv, als diejenigen, die bisher als antisistemas isoliert geblieben waren, wegen Verhöhnung von Politikern verhaftet wurden. Diverse Nachbarschaften riefen „Netzwerke gegenseitiger Hilfe“ ins Leben, die sich lose an einem von Anarchisten in Seattle und Tacoma entwickelten Modell orientierten. Das erste dieser Netzwerke, im Stadteil Clot, sorgte in ganz Katalonien für Aufsehen, indem es die erste Aktion gegen eine Räumung wegen Zwangsvollstreckung organisierte, die der Polizei physischen Widerstand entgegensetzte.
Einige Leute änderten nur ihre Wortwahl, aber im Ganzen betrachtet änderte sich die Praxis. Obwohl immer mehr Leute begannen, sich Anarchisten zu nennen, blieben die Anarchisten zwar eine kleine Minderheit – jedoch eine einflussreiche.
Anarchisten schwärmten über ein erweitertes Terrain aus und kämpften oft zusammen mit neuen Freunden im Viertel oder am Arbeitsplatz. Gleichzeitig intensivierten sie die interne Kommunikation durch Debatten und Versammlungen, schärften ihe Praktiken, teilten Ideen und entwickelten ein Gefühl der gemeinsamen Stärke. Einige strebten eine Vereinigung aller Anarchisten an, die meisten lehnten dies jedoch ab, sodass der anarchistische Raum zersplittert, aber kommunikativ blieb. Der Großteil der Koordination erfolgte spontan – auf der Basis von geteilten Informationen anstatt durch gemeinsame Planung.
Diese Entwicklung war jedoch nie ein reibungsloser Prozess. Anarchistische Prinzipien waren schon sehr einflussreich, aber anarchistische Arroganz verhinderte noch weiter gehende befruchtende Effekte. Die Kritik der Rekuperation – d.h. die Kritik an reformistischen Aktivisten und Institutionen, die soziale Kämpfe neutralisieren – war unter den Anarchisten in Barcelona weit verbreitet; in den 1990er und 2000er Jahren wurde sogar die CNT von anderen Anarchisten der Rekuperation bezichtigt. Die Mehrheit der katalanischen Libertären hat sich niemals als Teil der Linken verstanden. Jetzt aber entdeckten Anarchisten einen unbestreitbaren Wert darin, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die reformistische Neigungen hatten oder deren Vorstellung von Revolution zur Rekuperation tendierte.
Es war schwer, zu entscheiden, mit wem man zusammenarbeiten sollte, wie man gegen eine reformistische Position argumentieren sollte, ohne dass man mit der Botschaft auch gleich ihren Überbringer verurteilte, wie man mit einer Situation umgehen sollte, in der Anarchisten plötzlich großen Einfluss hatten, wobei es nun auch andere Leute brauchte, um unsere hehren Prinzipien in der Praxis zu verwirklichen. Viele Anarchisten veränderten sich durch diese Erfahrungen, aber man hörte von wenigen, die zugaben, wie viel sie durch den Kontakt mit anderen Leuten gelernt haben oder wie notwendig die Kämpfe von Nicht-Anarchisten für das widersprüchliche, chaotische Ganze waren. Andererseits war es plötzlich weniger cool, offen arrogant zu sein, und viele Anarchisten kritisierten ihre Genossen und sich selbst und riefen zu mehr Bescheidenheit auf. Einige argumentierten, dass bei der Frage, mit wem man kooperiert, Ernsthaftigkeit wichtiger sei als Gruppenzugehörigkeit oder politische Übereinstimmung.
Ende Februar 2012 sollte ein viertägiger Streik im öffentlichen Nahverkehr von Barcelona stattfinden. Die Arbeiterführer – also diejenigen, die in den Versammlungen am lautesten und wortgewandtesten sprachen – riefen zu einer großen Verkehrsunterbrechung und einem gemeinsamen Kampf der U-Bahn- und Busfahrer sowie der Fahrgäste auf – d.h. all derjenigen, die nicht reich genug sind, um ein Auto zu besitzen. Diese Vorschläge stießen auf breite Zustimmung und wurden nach einer Abstimmung beschlossen. Da die CGT eine der größten Gewerkschaften unter den Busfahrern ist und die Unterstützung eines Busfahrerstreiks bereits in der Vergangenheit gut funktioniert hat, beschlossen die meisten Anarchisten ohne zu zögern, sich in Aktivitäten zur Unterstützung des Streiks zu stürzen.
Trotz der öffentlichen Unterstützung, die durch die Stadtteilversammlungen und andere Instanzen organisiert wurde, wurden die Transportarbeiter zögerlich, als die Medien eine fiktive allgemeine Missbilligung des Streiks an die Wand malten. Kurz bevor es losgehen sollte, spielten die Gewerkschaftsbürokraten schmutzige Spielchen und die Arbeiter brachen ihre Versprechen, handelten private Vereinbarungen aus und ließen diejenigen im Stich, von denen sie Solidarität gefordert hatten. Der Streik kam nicht in Gang, und die Bemühungen zu seiner Vorbereitung erwiesen sich als ein großer Misserfolg. Einige Genossen sahen dies als ein Zeichen, dass man vorsichtiger sein solle, andere als Mahnung, kompromissloser zu sein. Bezeichnenderweise wurde deutlich, dass viele Anarchisten, wie die Trotzkisten und Sozialisten, sich bei dem Streik nicht als Protagonisten sahen – als Passagiere, die schon seit Monaten gegen Tariferhöhungen kämpften – sondern als Unterstützer eines Kampfes, der nicht ihr eigener war. Einerseits verschleierte diese Sichtweise das populistische Versagen, einen offenen Bruch eines Solidaritätsversprechens zu kritisieren. Andererseits zeigte sie eine Offenheit für Selbstkritik seitens derjenigen, die sich mit einem reformistischen Kampf nur aufgrund der in ihm enthaltenen Möglichkeit der Konfrontation beschäftigt hatten. Diese Begebenheit warf auch die Frage nach der Legitimität von in Versammlungen getroffenen Entscheidungen auf – beziehungsweise die Frage, wie ernst man solche Entscheidungen zu nehmen habe, wenn die Leute nach einer mitreißenden Rede für das Eine stimmen und nach einer Woche schlechter Presse für das Gegenteil.
Der Misserfolg des Streiks der Verkehrsbetriebe, nur einen Monat vor dem geplanten Generalstreik, auf den so viele Leute ihre Hoffnungen setzten, hätte leicht demoralisierend wirken können. Unerwarteterweise brach jedoch am Mittwoch derselben Woche ein kleiner, aber wichtiger Riot aus. Zu dem Krawall kam es bei einer Demonstration von Studenten und Lehrenden anlässlich eines eintägigen Unistreiks. Dieses Ereignis hob die Moral und vermittelte eine wichtige Botschaft bezüglich des Ursprungs von Widerstand. Dieser breitete sich aus, nachdem die Studentenführer, die in der Vergangenheit Bewegungen kontrolliert und befriedet hatten, wirksam zum Schweigen gebracht worden waren – indem libertäre Studenten ihnen buchstäblich das Mikrofon aus der Hand rissen. Daraufhin gerieten rauflustige Studenten außer Rand und Band, von denen viele in keiner Weise an irgendetwas Politischem beteiligt waren, während viele andere sie symbolisch unterstützten und zu den Konfliktzonen hinströmten, anstatt aus diesen zu flüchten. Im Nachhinein sahen sich die Sprecher der Plattform gegen die Privatisierung der Unis gezwungen, den Krawall nicht zu verurteilen, da sie wussten, dass sie sonst einen gefährlichen Verlust an Unterstützung erlitten hätten.
Schließlich riefen die CCOO und die UGT zu einem Generalstreik am 29. März auf. Kleinere regionale Gewerkschaften in Galizien und im Baskenland hatten bereits vorher für einen Streik an diesem Tag mobilisiert; nun sprangen die zwei großen Gewerkschaften mit auf, sodass aus dem Streiktag ein landesweiter Generalstreik wurde. CNT und CGT, die nach der Erfahrung des 27. Januar nicht mehr allein streiken wollten, folgten bald dem Beispiel und beteiligten sich ebenfalls. CCOO und UGT war die Sache im Grunde aufgezwungen worden. Seit dem vorhergehenden Sommer, als die abbröckelnde M15-Bewegung nach wirkungsvollen Zielen und Taktiken suchte und die Reichen und Mächtigen ihren Angriff fortsetzen, redeten alle von der Notwendigkeit eines neuen Generalstreiks. Die Gewerkschaften trödelten herum und erklärten pedantisch, wie schwierig es sei, so etwas durchzuziehen. Letztlich, so heißt es zumindest scherzhaft, habe Präsident Rajoy den Streik versehentlich herbeigeführt, als er im Januar während eines wichtigen EU-Gipfels dem niederländischen und dem finnischen Premierminister erzählte, wie gut und „aggressiv“ seine neue Arbeitsmarktreform sei, wie sie es leichter machen würde, Arbeiter zu feuern – sie würde ihn jedoch „einen Generalstreik kosten“. Er wusste nicht, dass sein Mikrofon eingeschaltet war.
Die Strategie der großen Gewerkschaften bestand darin, ihren eigenen Streik zu sabotieren. Beim letzten Generalstreik im September 2010 hatten die Leute monatelang Zeit gehabt, um sich vorzubereiten, sodass sie ihre eigenen Pläne unabhängig von den Gewerkschaften machen konnten. Diesmal kündigten CCOO und UGT den Streiktag weniger als drei Wochen im Voraus an. Sie hängten bis ein oder zwei Tage vor der Aktion so gut wie keine Plakate auf und überließen die Debatte den Medien. Das ideale Ergebnis wäre für sie eine zahlenmäßig hohe Beteiligung an ihren eigenen Protesten, aber ohne Krawalle und großes Durcheinander gewesen. Angesichts der weit verbreiteten Wut der Bevölkerung war es allerdings von vornherein so gut wie unmöglich, Menschenmengen auf den Straßen zu versammeln und dabei die Kontrolle zu behalten; aber wenn die Gewerkschaften die Möglichkeiten der antisistemas einschränkten, auf Unordnung hinzuarbeiten, und wenn sie gleichzeitig ihre eigene Anhängerschaft vom Pöbel auf den Straßen fernhielten, würden sie ihre Verluste gering halten können.
Die antikapitalistischen Vorbereitungen auf den Streik nahmen unterschiedlichste Formen an. Anarchisten arbeiteten in den Nachbarschaftsversammlungen, Streikkomitees und den Versammlungen von Arbeitern oder Arbeitslosen mit indepes, Sozialisten und anderen zusammen; oder sie bereiteten sich in ihren eigenen affinity groups, Versammlungen oder Gewerkschaften (den CNTs) vor. Niemand, weder die Polizei noch die antisistemas, konnte verlässliche Pläne für den Tag machen. Sie konnten entweder versuchen, für Ordnung zu sorgen, oder sich inmitten von Unordung zu bewegen.
Anmerkungen:
(1) Die meisten damaligen Einwanderer stammten aus Südspanien.
(2) Katalanen, die „die spanischen Besetzung ihres Landes“ [Anführungszeichen vom Übersetzer] ablehnen. Es gibt viele verschiedene indepe-Organisationen, von denen die meisten sich als sozialistisch verstehen, sowie zahlreiche Jugendorganisationen. Linke katalonische politische Parteien, die an der spanischen Regierung beteiligt sind, (z.B. die ERC) werden im Allgemeinen als indepes angesehen, jedoch von radikalen und sozialistischen indepes oft nicht als die Ihren betrachtet. Katalonische Faschisten werden dagegen nicht zu den indepes gezählt.
(3) Der Begriff wurde von der Presse erfunden, um alle sozialen Rebellen zusammenzufassen, die Repression und keine politische Stimme verdient haben. Aufgrund der katalonischen Geschichte können weder Anarchisten noch indepes explizit zur Zielscheibe der Repression erklärt werden, da beide Gruppen von breiten Kreisen eine politische Berechtigung zugesprochen wird.
(4) Die Cine-Princesa-riots waren eine Reaktion auf die Räumung eines besetzten sozialen Zentrums, des Cine Princesa auf der Via Laietana am 28. Oktober 1996.