Die Straße hat ihre eigene Geschichte
Die Straße hatte ihre eigene Geschichte,
jemand schrieb es mit Farbe an eine Mauer, …
Es war nur ein Wort: FREIHEIT…
doch die Passanten sagten, das hätten bloß die Kinder geschrieben
(Auszug aus „Die Straße“, einem griechischen Lied aus der Zeit
des Kampfes gegen die Diktatur in den 70ern)
Die Straße hat ihre eigene Geschichte. Sie braucht keine Historiker, keine Intellektuellen oder Soziologen, die in ihrem Namen sprechen. Niemand kann die Geschichte des Dezember 2008 schreiben, und wir versichern dir, daß ein derartiges Projekt jenseits unserer Möglichkeiten und Absichten liegt.
Ebenso wie wir über keine offizielle Geschichte der Pariser Kommune oder der Spanischen Revolution verfügen, ist dies hier nicht die Geschichte des griechischen Aufstands. Durch Fragmente, Gerüchte, Mythen und Erzählungen findet diese soziale Revolte ihren direkten Weg in die Herzen und Köpfe der Menschen der Zukunft.
Viele Jahre nach unserer Zeit wird ein Mädchen oder ein Junge im Internet ein 15 Sekunden langes Video aus Griechenland, aus dem Dezember 2008, finden, einen Augenblick, eingefangen mit einem Handy, eine Barrikade mitten auf der Straße, eine Gruppe von 15-jährigen Freunden, die die Aufstandspolizei mit Molotowcocktails in der Hand angreifen und die inmitten von Tränengas-Nebel Rache für die Ermordung eines Mitschülers nehmen, den sie überhaupt nicht kannten, der aber einer von ihnen war, und nun rächen sie ihn.
Die Mädchen und Jungen der Zukunft werden durch Gerüchte und Mythen erfahren, daß die griechische Jugend wegen der Ermordung eines Jungen durch die Polizei mehr als einen Monat revoltierte, daß sie Hunderte Polizeiwachen, Banken, Büros, Regierungsgebäude und Luxusgeschäfte im ganzen Land zerstörte, plünderte und niederbrannte. Sie werden davon hören, daß die Anarchisten, die Autonomen, die Utopisten, die naiven Romantiker und die Linksradikalen sich an diesen Kämpfen beteiligten. Sie werden hören, daß die Immigranten aus ihren eigenen Gründen ebenfalls gegen die Polizeigewalt und den Rassismus kämpften.
Die Geschichte unserer Zeit wird in kurzen Einträgen geschrieben, die während des Kampfes bei Indymedia gepostet werden – kurze Videos und Fotos, aufgenommen von denen, die diese Geschichten schufen und unter den Kämpfern waren. Sie wird von Menschen geschrieben, die die Panik der Krawalle fühlten, die Lungenschmerzen vom Tränengas, Menschen, die auf die Straße gingen, die Symbole dieser Zivilisation zerstörten, ihre Ängste hinwegbrannten und sich der Gefahr aussetzten, die es bedeutet, an der Frontlinie der Kämpfe unserer Zeit aktiv dabei zu sein.
Dieses Buch ist daher nur ein 15 Sekunden langes Video, das mitten in den Unruhen mit einem Handy gemacht wurde, es ist nur eine Geschichte, die du in einem Zug von Paris nach Barcelona hörst, es ist nur die Erinnerung an das Lächeln eines Jungen an einem griechischen Strand, es ist nur eine Welle auf dem Ozean des weltweiten Kampfes für Befreiung von kapitalistischer Demokratie, für das Ende der Ausbeutung, das Ende der Entfremdung, das Ende des Leidens.
Wir sagen es ganz deutlich: Dies ist nicht das Geschichtsbuch über den griechischen Aufstand vom Dezember 2008. Es ist nur unser Versuch, mit dir die Erlebnisse zu teilen, bevor sie verblassen, es sind unsere Spaziergänge durch die leeren Straßen von Athen ein Jahr nach der Revolte und unsere wenigen Erinnerungen, die sich in der Nacht verlieren, es ist eine Träne für Alexis, lang nach seiner Ermordung, es ist unser Haß auf jeden Staat und jede Polizei und jede Armee auf diesem Planeten, der täglich stärker werdende Haß, es ist die Wut, die zu einem Buch oder einer Barrikade oder einem Stein in deiner Hand wird. Dies ist nicht die Geschichte der Unruhen vom Dezember 2008, die wirkliche Geschichte ist in den Herzen derer verborgen, die die Schlacht schlugen.
Doch wir hoffen, daß dieses Buch ein Donnerschlag in der stillen Nacht der sozialen Apathie sein kann, ein Schrei der Tollheit mitten in einem luxuriösen Einkaufszentrum, es kann der Klang einer berstenden Fensterscheibe sein, der Geruch von Benzin an deinen Händen. Vielleicht kann es ein Eindruck aus der Zukunft sein. Aber das hängt von dir ab.
Denn du bist die Zukunft dieser Welt, und die kommenden Umwälzungen werden unsere Lebensgeschichte sein, keine Erzählung, nicht nur Geschichte, sondern unsere Lebensgeschichte…
Tasos Sagris von Void Network / Laboratory for Cosmo-Political Consciousness