Konterrevolte und Arbeiterfrage
Der von Krahl angedachte Ausweg ist das gerade Gegenteil des Vorschlags von Seiten der um Sander gruppierten Frauen. Statt die ständige Selbstdisziplin in der aufreibenden Kampagnenpolitik zu lockern und zu verschnaufen, fordert Krahl die Anspannung der Kräfte. Er hat Angst vor den Disparaten, vor den Partialtrieben und kann sich die Einheit der Vielen nicht ohne Zwang vorstellen. Politik sollte wieder keinen Spaß mehr machen, betraf letztlich auch nicht den wirklichen Menschen. Er war damit nicht allein, ab 1969 gab es überall eine Tendenz zur Dogmatisierung. Hier setzte die wirkliche Konterrevolte ein, die von den damaligen Akteuren als „Liquidation der antiautoritären Phase“ bezeichnet wurde. In dieser Zeit verlor die Bewegung ihre Unschuld und ihre teilweise den Verhältnissen abgetrotzte Leichtigkeit:
„Vor allem aber kehrt hier ein Begriff von Politik wieder, der schon einmal überwunden schien: ein Begriff, wonach politische Arbeit schwer ist; wonach die Misserfolge nicht zählen, wohl aber unser politischer Einsatz. Ein Begriff von Politik, der den Kopf nicht frei macht, sondern den ständig vollen Kopf voraussetzt. Und ein Begriff von Politik, der die besten Fähigkeiten des Ichs, die List, das Tricksen, die Freude, den Gegner an seiner schwächsten Stelle zu treffen, für nichts erachtet.“ (Klaus Hartung im Kursbuch, 1977)
Die Konterrevolte war dabei durch und durch ein Regress in die selbstverschuldete Unmündigkeit, als kein wirklicher äußerer Anlass als Ursache für das manische Verhalten der frischpolitisierten Studenten auszumachen war. Vielleicht sollte man den Schrecken, den die plötzliche Erkenntnis von der Notwendigkeit der Revolution verursacht, nicht unterschätzen. Hier wurde schließlich zum ersten Mal in größerem Maßstab die wirkliche Umgestaltung aller Beziehungen sichtbar, und das machte ja die Modernität der Revolte aus: die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, inklusive aller Verinnerlichung der gesellschaftlich geforderten Disziplin. In der 68er-Revolte kulminierte die Problematik von individueller Emanzipation und gesellschaftlicher Umwälzung. Hier offenbarte sich auch das Auseinanderklaffen von Utopie und Wirklichkeit; damit wird wohl auch eine ungeheure Spannung in den Protagonisten selbst einhergegangen sein. Die Suche nach scheinbar einfachen Lösungen, die neuerliche Karikatur des Leninismus, bot vielleicht eine Möglichkeit, unter dem Deckmantel der Radikalität die alten Formen zu tradieren und den Druck loszuwerden. Man begann sich jedenfalls schnell der eigenen Geburt zu schämen und beschimpfte die sehr unmittelbare Vergangenheit als Kinderkrankheit des Kommunismus, wollte Lehren ziehen etc. Allerlei Theoretiker und Schwätzer konnten dadurch Sekten bilden. Umgekehrt gab es eine Tendenz zur Lebensreform. Das Kursbuch hatte einen Wettbewerb für die schönste „konkrete Utopie“ ausgerufen und die Kommune 2 gekürt. Die sozialen Experimente wurden vom revolutionären Ziel losgelöst, und damit im Hier und Jetzt lebbar und integrierbar. Das Allgemeine blieb abgespalten in den verschiedenen K-Gruppen und Zentralräten bzw. -komitees. Dazu kommt, dass ein Großteil der Bewegung sich an solchen Debatten und Spaltungen gar nicht erst beteiligte, die zudem oft im Hinterzimmer unter den selbsternannten Kadern schon vorher ausgehandelt wurden. Viele zogen sich ins Privatleben zurück, wobei einige eine Zwischenphase in unverbindlichen Diskussions- und Aktionskreisen einlegten, depressiv wurden, Buchläden gründeten oder sich gar das Leben nahmen. Andererseits konnte eine Mitgliedschaft etwa in der nun DKP genannten KPD so manchen neugegründeten Familien einen Ausweg aus dem Dilemma von unpolitischer Privatexistenz und manischem Aktivismus bieten, da hier Familie, Beruf und Politik parallel liefen.
Ärgerlicherweise war dieser neuerliche Konformismus stark mit der sogenannten Arbeiterfrage verbunden. Bei Einigen hatte sich durchaus ein festeres Bewusstsein davon herausgebildet, was eigentlich zu tun sei: Es können ja bekanntlich nur die unmittelbaren Produzenten sein, die die Welt in Ordnung bringen – es sei denn, man glaubt ernsthaft an eine putschistische Variante und den staatlich herbeigeführten Sozialismus. Wer also die Umwälzung der Totalität der menschlichen Beziehung im Sinn hat, kommt nicht um die Arbeiterinnen und Arbeiter herum. Diese Erkenntnis ist richtig. Falsch war die Art und Weise, wie die leninisierenden Studenten die Arbeiter für ihre Sache gewinnen wollten. So debattierte man in der Hauptsache darüber, wie man am besten die Arbeiter missbrauchen könne. Oft verschwamm dabei sogar der Unterschied zwischen Antiautoritäten und Traditionalisten verschiedener Traditionen: Oberflächlich bestand zwar ein Konflikt zwischen denjenigen Linken, die wie die Antiautoritären die Arbeiter zur Selbsttätigkeit anhalten, und denjenigen, die sich kurzerhand zu Arbeiterführern erklären wollten. Aber auch die sogenannte Selbsttätigkeit war nur Phrase, und man suchte – nachdem die Arbeiter offenbar Besseres zu tun hatten, als im studentischen Sinne selbsttätig zu werden – nach paternalistisch-pädagogischen Vermittlungen. Man hatte im Proletariat den Stein der Weisen gefunden, doch statt sich an das wirkliche Proletariat zu halten, begnügte man sich mit dessen Abstraktion.
Die Erfolge der Anfangszeit wurden klein geredet, da alle Erfolge der Studentenbewegung auf den ursprünglich erklärten Bruch mit der Tradition zurückgingen. Gerade, indem die Studenten zunächst ihre eigene Freiheit im Sinn hatten, waren sie auch attraktiv für andere Segmente der Gesellschaft. Ein guter Teil der nachwachsenden Arbeiter akzeptierte die antiautoritären Studenten nicht nur, sondern empfand dabei teilweise auch deutlich weniger Scham. Sie hatten weit mehr und früher Erfahrung mit Drogen und Sex und Rock’n’Roll gemacht und als Halbstarke Erfahrungen mit den Schlägertrupps der Polizei gesammelt. Schon bei den ersten Demonstrationen am Kudamm gegen den Vietnamkrieg waren viele der Gammler, die vorher an der Gedächtniskirche rumhingen und aus irgendwelchen diffusen Gründen gegen die Gesellschaft waren, schon dabei und hatten angefangen, politisch zu denken. (13)
Hier fand vermittelt durch die selbstständige Aktion der Studenten durchaus eine Politisierung zumindest der jungen Arbeiter statt. In dem Maße, in dem die Studenten aber ihre antiautoritäre Phase bekämpften, verloren sie ihre Attraktivität gerade für die Arbeiter und Arbeiterinnen. Die Studenten waren oft sogar arrogant genug, sich und ihre Vereine zur Avantgarde der Revolution zu erklären, als ob sie irgendwem besonders viel vorausgehabt hätten. Es ist dies die Arroganz von Leuten, die formell dazu herangebildet werden, als Unteroffiziere des Kapitals zu dienen oder als dessen Verwaltungsbeamte. Diese Möglichkeit der Lenkung der arbeitenden Massen schien angesichts der Massenuniversität gerade den Geistesstudenten verbaut, und so wollte man die Massen eben in einer Revolution anführen. Bei den sogenannten Massen blamierten sich diese Leute aber tatsächlich viel mehr als vorm Kapital oder vorm Staat, und so kam man schließlich doch dort unter.
Die von den Osterunruhen hervorgetriebenen Stadtteil- und Betriebsgruppen hätten wahrscheinlich am ehesten dazu beitragen können, der Folgebewegung Substanz zu verleihen. Hier kam es daher zu Überschneidungen mit der Frauen- und Kinderladenbewegung, die ja selbst eine solche Basisbewegung war. Diese verschiedenen Initiativen hätten sich eventuell schüchtern föderieren können, um in einzelnen Aktionen oder Kampagnen auch mal zusammen zu agieren und vor allem eine gemeinsame Presse zu erzeugen und zu verteilen. Es zeigte sich in diesem Zusammenhang aber, dass die Basisgruppen die Krise der Bewegung keineswegs bewältigen konnten. Man redete oftmals aneinander vorbei. Ein Vertreter der Basisgruppe Wedding, Peter Rambauseck, warf der Kinderladenbewegung auf der 24. SDS-Konferenz vor, sich zu wenig um die Arbeiterinnen zu kümmern und hatte doch nur Angst vor der antiautoritären Infragestellung seiner männlichen Charaktermaske:
„Bei den arbeitenden Frauen ist nicht so sehr das Problem der Emanzipation in der Familie oder innerhalb einer Gruppierung, sondern da ist eher das Problem der Emanzipation innerhalb der Fabrik und da sollen die Frauen doch mal hier konkret was dazu sagen und nicht hier diese antiautoritäre Geste, die im Grunde genommen kleinbürgerlich ist und uns überhaupt nicht weiterführt.“ (14)
Hier handelte es sich um einen Scheinangriff zur Abwehr des wirklichen Angriffs der Frauen, die ihn mit ihrem Kastrationsflugblatt stark verunsichert hatten. Der Sache nach verfolgte man aber eher die gleiche Taktik und hatte daher ähnliche Probleme. Die Basisgruppe Wedding arbeitete zum Beispiel mit Arbeitern von Telefunken zusammen, unterstützte deren Streik und versuchte, sie vom Kommunismus zu überzeugen. In diesem Umfeld vertrat man eine rätekommunistische Arbeiterdemokratie, formuliert in den zwei Ausgaben der Zeitschrift Die soziale Revolution ist keine Parteisache. Indessen strebte die feministische Kinderladenbewegung einen größeren Streik der Kindergärtnerinnen an; man sah darin die Möglichkeit auch die Eltern zum Streiken zu bringen und so auch Konflikte in Produktionsstätten anzuregen. Die Idee fand Anklang unter den Kindergärtnerinnen, wurde dann aber von der Gewerkschaft unterlaufen, von der sich die politisch unerfahrenen Frauen über den Tisch ziehen ließen. Man versuchte so auf die eine oder andere Weise, Arbeiter- oder Arbeiterinnenkämpfe zu organisieren und zu unterstützen. Dafür musste man sich jeweils weit auf das integrierte Klientel zubewegen. Die Kampagnenaufrufe besaßen dadurch nie die eigentlich schon erreichte Negativität und bestanden oft in einem sogenannten kleinsten Nenner oder in dem, was man meinte, der Bevölkerung gerade noch zumuten zu können. Spektakuläre Aktionen wie etwa die Rote-Punkt-Kampagne gegen Fahrpreiserhöhungen – man organisierte einen alternativen Nahverkehr, indem Fahrgäste auch von mit einem roten Punkt versehenen Auto mitgenommen werden konnten – vermochten, den hier angelegten Reformismus kaum zu überspielen und blieben ohnehin eher selten.
(13) Diese Geschichte ist schön nachzulesen bei Bommi Baumann: Wie alles anfing.
(14) Rambauseks Auftritt ist festgehalten in Helke Sanders Film: Der Subjektive Faktor.