Gebietskämpfe
Der George-Floyd-Aufstand 2020 oder die Gilet jaunes in den Jahren 2018 und 2019 waren Momente einer massiven Mobilisierung: Aufstände, die Momente eines Bruch markierten. Sie entsprangen weder anwachsenden und über sich hinausgehenden sozialen Kämpfen (8), noch stellten sie die Umsetzung irgendeines Programms dar. Dennoch erzeugten sie auf der subjektiven Ebene die Art von biographischem Bruch, die eine Rückkehr zu einem von solchen Momenten intensiven Kampfs freien Alltagsleben noch unerträglicher machen. Wer einmal von einer revolutionären ethischen Spannung bewegt wurde, kann nur noch schwer akzeptieren, daß er auf den nächsten unvorhersehbaren Aufstand warten soll, in den er sich dann reinstürzen kann. Als Antwort darauf können organisatorische Fragen entstehen: Wie können wir von diesen Aufständen lernen und zur selben Zeit durch Momente der Ebbe kommen? (9)
Hugh Farrell erkennt in Gebietskämpfen eine Form, die der Konflikt in Zeiten der starken Ebbe und der allgemeinen Reaktion annehmen kann und die bestimmte Charakteristika mit den Massenaufständen der Gegenwart gemeinsam hat. (10) Wenn wir teleskopisch auf das letzte Jahrzehnt blicken, sehen wir, wie es territoriale Kämpfe in verschiedenen Teilen der westlichen Welt geschafft haben, disparate Subjektivitäten in der Verteidigung eines Gebiets zu verbinden und einen neuerlichen Impetus zu dessen Bewohnung und Neuaufbau zu geben. Das zeigt sich am No-TAV-Kampf im Susa-Tal, an der ZAD in Notre-Dame-des-Landes, am NoDAPL-Kampf in North Dakota wie auch für neuere Konflikte – wie gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline oder die Bewegung Stop Cop City in Atlanta.
Wie das Territorium die Vektoren vorgibt, um die herum sich der Kampf artikuliert, wird es von den hier initiierten Zusammensetzungsprozessen reflektiert. Aus diesem Grund bestimmt sich das hier in Frage stehende 'territoriale Element' sowohl physisch – es betrifft bestimmte zu verteidigende Orte oder zu blockierende Megaprojekte – wie auch affektiv. Das bringt einen Prozess der beständigen Neudefinition und Transformation mit sich, den die den jeweiligen Ort bevölkernden Menschen hervorbringen. (11) So hat zum Beispiel die unter dem Namen Les Soulèvements de la Terre ('Aufstände der Erde') bekannte Bewegung versucht, eine Verbindung zwischen verschiedenen Subjektivitäten zu entwickeln, die in mancher Beziehung der oben beschriebenen Bewegung gegen die Rentenreform ähnlich ist. In diesem Fall setzt sich das Gewebe aus Bauern, Landbewohner, 'ZADisten' und die 'Klimageneration' zusammen, zusammengebracht durch eine Reihe von Gebietskämpfe quer durch Frankreich – der berühmt-berüchtigste davon fand gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline statt.
Auch im Kampf in Atlanta, der sich unter dem Slogan 'Stop Cop City / Defend the Forest' zusammengefunden hat, zeigte sich ein territoriales Element. Da der umkämpfte Ort sich nicht in einer ländlichen Gegend befindet, sondern ein Wald innerhalb Atlantas ist (einer Stadt, die selbst innerhalb eines Walds liegt), hat sich die Zusammensetzung eher aus verschiedenen lokalen Jugendsubkulturen ergeben, die extrem lebendig sind (Aktionswochen finden oft zusammen mit Musikfestivals statt). Diesen haben sich anarchistische und ökologische Elemente aus dem ganzen Land ebenso angeschlossen wie lokale politische Gruppen, etwa Stadtteilaktivisten, Assoziationen zur Abschaffung der Polizei (die versuchen, den Ausschreitungen der 2010er und 2020er Jahre eine Kontinuität zu geben) und religiöse Gemeinden.
Die Kämpfe in Atlanta und Sainte-Soline teilen mit den meisten Klimabewegungen keine gemeinsame Grammatik, da letztere größtenteils zu friedlichen Demonstrationen und symbolischen Aktionen tendieren, mit dem Ziel 'Awareness' für die Klimakrise zu kultivieren. Deren strategischer Horizont räumt dem Stellen von Forderungen an diverse Institutionen die Priorität ein, unter Zurückweisung der Möglichkeit, alternative Lebensweisen hervorzubringen. Es handelt sich hierbei letztlich um einen gefährlichen Wunsch nach dem unumschränkten Schrecken eines 'Klimaleviathans' von derselben Sorte, wie ihn der grüne Pseudo-Leninist Andreas Malm fordert.
Es lohnt sich, festzuhalten, daß – während sich in 'Nicht-Bewegungen' wie den Gilets jaunes oder den Kämpfen um die Rentenreform von 2023 der Prozess der Zusammensetzung unabhängig von irgendeiner expliziten Intention Seitens der einzelnen Segmente ergab – man in Atlanta oder Sainte-Soline explizit und absichtlich eine Strategie der Zusammensetzung verfolgte (wenn auch nur durch einem Teil der einzelnen Elemente), die von bestimmten vorher existierenden politischen Netzwerken vorangetrieben wurde. Eine solche Strategie zielt durch die Kooperation verschiedener Gruppen darauf, gemeinsame Ziele auszusprechen und Aktionen zusammenzustellen oder zu 'komponieren', die den Widerspruch eskalieren und intensivieren. Auch wenn dieser Prozess zeitweise den Eindruck einer Legierung oder Fusion verschiedener Gruppen erwecken kann, versucht man letztlich, die jeweiligen Unterschiede im Verlauf des Kampfes zu konservieren, wenn auch ohne der sklerotischen Tendenz zu verfallen, Reflexionen über Identität gegenüber dem Sieg im Kampf selbst zu priorisieren.
Im Unterschied zu Massenaufständen sind territoriale Kämpfe nicht einfach moralische Notstände der Verweigerung, sondern verkörpern stattdessen die Schwelle zwischen dem Moralischen und dem Politischen. Dadurch ergeben sich relevante Fragen der Organisation und Strategie für jeden, der sich fragt, wie der Kampf revolutionär werden kann. (12) Wie vermeiden wir die Fallgruben eines leninistischen Avantgardismus, ohne der gegenteiligen Gefahr zu verfallen: zum bordigistischen Zuschauer zu werden, der Bewegungen nur äußerlich von der Seitenlinie interpretiert? Wie kommen wir zu einer Logik, in der die Teilnehmer sich nicht nur als integrale Teile eines spontanen Prozesses erkennen, in dem sich allmählich eine Strategie entwickelt, sondern sich ihrerseits zum Einbringen von Gesten ermächtigt fühlen, die die Grundlagen und Prozesse ändern, ohne dabei zu versuchen, diese Gesten oder ihre Bahnen zu kontrollieren, vielmehr zuzulassen, daß diese von anderen reproduziert werden?
Ein aktueller Text (13) über die cortèges de tête erinnert uns, daß sogar zahlenmäßig kleine Assoziationen gelegentlich erfolgreich Taktiken einbringen können, die den gesamten strategischen Plan eines Kampfes verändern oder sogar destabilisieren. Manchmal ist Destabilisierung genau das, was eine Bewegung braucht, um davor gefeit zu sein, zu versteinern oder in einer Sackgasse stecken zu bleiben. Sie stärkt die Fähigkeit der Bewegung, Konflikte auszuhalten, erweitert ihren taktischen Horizont und nährt ihre kreativen Fähigkeiten.
In gewisser Hinsicht ist das die Wette von Adrian Wohlleben in seinem Essay 'Memes without End' (14): Durch die Einführung von Gesten, die sich über die sie initiierenden Subjektivitäten hinaus ausbreiten und vervielfältigen, können kleine Gruppen in bestimmte sozialen Bewegungen intervenieren und sie aus deren intern verfestigten Bedingungen hinausbugsieren und dadurch ihren Horizont für eine radikale Veränderung erweitern. Um Kämpfe oder militante Gruppen aus ihren Sackgassen des Reformismus oder des Märtyrertums herauszubringen, ist es entscheidend, die Verfestigung ihrer Taktiken zu verhindern, jede exklusive Kontrolle über die Praktiken zu untergraben und gegen die Zentralisierung der Strategie zu arbeiten.
(8) Im Original steht der ungebräuchliche Begriff Transcrescence und dazu folgendes Kommentar in einer Fußnote: „Transcrescence ist ein Begriff, den Jacques Camatte verwendet, um den Übergang des Kapitalismus in eine radikalere Stufe zu beschreiben, die nun keine Vermittlungsebenen mehr benötigt, da das kapitalistische Gesetz die Gesellschaft und ihre Subjekte vollkommen durchdrungen hat. Beispielsweise erscheint Arbeit nun nicht mehr als dialektischer Widerspruch zum Kapital, sondern wird Teil des Kapitals. Der Kapitalismus ist damit keine Wirtschaftsform mehr, sondern eine Zivilisation.“
(9) Aus einer subjektiven Perspektive ist die Leere, die am Ende eines Aufstands bleibt, vor allen Dingen ethisch und affektiv. Dies steht im Kontrast zu anderen, eher nostalgischen Argumenten, die mit der Arbeiterbewegung verbunden sind, die die politische Leere betonen, die als Folge bleibt, und die Abwesenheit eines verläßlichen politischen Subjekts hervorheben. Siehe zum Beispiel: Maurizio Lazzarato: The Class Struggle in France, Ill Will, 14. April 2023. Oder allgemeiner dessen Buch Guerra o rivoluzione, Derive Approdi, 2022
(10) Hugh Farrell: The Strategy of Composition, Ill Will, 14. Januar 2023
(11) In einem neueren Text mit dem Titel ‚Tragic Theses‘ argumentiert der Autor, daß territoriale Kämpfe ein Beispiel für den Versuch bieten, die Grenze zwischen den Arten, zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, zu überwinden oder zu unterminieren, indem die Prozesse der Humanisierung und Dehumanisierung, die den Prozessen der Inwertsetzung von Kapital zugrundeliegen, gebrochen werden. Diese Hypothese scheint in den Slogans Bestätigung zu finden, die viele dieser Bewegungen verwenden: ‚Wir sind das Tal, das sich selbst verteidigt.‘ (NoTAV). Oder auch in den Namen selbst: ‚Aufstände der Erde‘, die auf einen Ort, ein Territorium verweisen und nicht auf ein Subjekt, das die Vermittlung zwischen den Orten darstellt. Siehe: Anonym: Tragic Theses, Decompositions, 9. März 2023
(12) Es sollte erwähnt werden, daß ‚Aufstände der Erde‘ mehr ist als ein territorialer Kampf; tatsächlich hat die gesamte organisatorische Anstrengung dieses Netzwerks in vielerlei Hinsicht einen Versuch dargestellt, die Grenzen eines bestimmten und lokalen territorialen Kampfs zu überwinden. In diesem Text liegt mein Schwerpunkt nur auf dem spezifischen Fall des Kampfs gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline.
(13) Siehe: Anonym: Pour ceux qui bougent (en 2023): 2016 dans le rétroviseur, Lundi Matin, 14. Februar 2023. Deutsch: Für diejenigen, die sich bewegen (im Jahr 2023): 2016 im Rückspiegel – (Die wahre Geschichte des Cortège de Tête)
(14) Adrian Wohlleben: Memes without End, Ill Will, 16. Mai 2021