Sackgasse
Die Sackgasse, in der viele der Kämpfe der jüngeren Zeit stecken, besonders jene von 'Aufstände der Erde', scheint derjenigen sehr zu ähneln, mit der die Mobilisierung gegen die Rentenreform konfrontiert war: Die Kristallisation eines Antagonismus, die den Kampf in einer wesentlichen Dialektik mit dem Staat befestigt. Die Stabilisierung einer solchen Dialektik läuft zweierlei Gefahr, in eine Sackgassensituation zu geraten: zunächst die einer Wiedereingemeindung (Rekuperation), Entkräftung oder Deeskalation des Konflikts, einschließlich der Möglichkeit einiger Konzessionen oder eines Teilsiegs wie im Fall des ZAD (15); und dann die eines symmetrischen Konflikts, der unmittelbar in einer hoch militarisierten direkten Konfrontation enden kann.
Wenn wir den Blick uns selbst zuwenden, unserer Subjektivität, laufen wir Gefahr, unsere Beteiligung an der Bewegung in eine Art entfremdeter Militanz zu verfestigen, die uns von dem trennt, was Bordiga 'die historische Partei' (16) nennen würde, oder dem, was wir auch die wirkliche Bewegung nennen können. Diese Trennung (die bolschewistische), die an der Spitze der Bewegung eine Avantgarde sieht, die die Bewegung organisiert, und die im ganzen zwanzigsten Jahrhundert als wichtige taktische und strategische Formel gedient hat, hallt heute in all diesen Bewegungsstrategien wieder, die darauf abzielen, Gegenmächte oder Gegensubjekte zu konstruieren, ohne zu realisieren, daß die Macht, gegen die sie opponieren wollen, keine spezifische Konsistenz hat und in wichtigen Hinsichten 'anarchisch' (17) ist.
Zudem übersehen diese Analysen den ganz und gar entscheidenden Fakt, daß die Aufstände von heute eine völlige Abwesenheit irgendeines politischen Massensubjekts aufweisen, das fähig wäre, den Konflikt zu zentralisieren. Dieses wurde durch eine Fragmentierung von Massensubjektivitäten ersetzt. Die resultierenden Konflikte werden durch eine Reihe ethischer Spannungen zerrissen, ohne daß eine gemeinsame ideologische, diskursive oder programmatische Grundlage gefunden würde. Von Hong Kong über Chile bis zu den Gilets jaunes ist das revolutionäre 'Wir' zu einem erfahrungsbasierten und ethischen 'Uns' verfallen, ohne gemeinsame Sprache. Doch genau aus diesem Grund ist sie kaum für die traditionellen Rekuperationstechniken anfällig, die der klassischen Politik zukommen. Jeder, der sich vorzustellen versucht, wie die Konflikte unserer Zeit echte Revolutionen werden könnten, muß sich mit dieser Realität herumschlagen und die Nostalgie für (oft mystifizierte) alte Epochen aufgeben, in denen ein Massensubjekt den Motor der Kämpfe bildete. Wir leben in einer Epoche, in der Klasse keine soziologische oder politische Einheit mehr findet, sondern nur eine ethische und subjektive, geformt in und durch den Moment des Aufstands. Klasse ist von einer Reihe von Vektoren durchzogen, die sie sozial fragmentieren; 'Identitätspolitik' ist dabei nur eine symptomatische Form.
Statt künstlich neue soziale oder politische Einheiten zu inszenieren, muß jeder revolutionäre Kampf mit dieser sozialen Fragmentierung und der anarchischen Natur der gegenwärtigen Macht zurechtkommen. Anders als die Fantasie einer 'konstituierenden Macht' oder einer 'Gegenmacht' ist die Option der Destitution die einzige, die fähig ist, inmitten einer Realität, in der die Illusionen formeller politischer Repräsentation zu reinen Trugbildern verkommen, eine revolutionäre Strategie vorzuschlagen. Unter solchen Bedingungen bleibt einem Antagonismus, der sich damit zufrieden gibt, die Trugbilder seiner Gegner zu spiegeln, nur der Amoklauf. (18)
Das Kapital drückt sich, indem es sich verselbstständigt hat und in die Phase seiner wirklichen Herrschaft eingetreten ist, nicht mehr in einer Reihe abstrakter oder hegemonialer Prinzipien aus. Es verfügt über kein anderes regulatives Prinzip als sein eigenes Überleben und seine Reproduktion, wenn nötig mit gewaltsamer Repression. Aus diesem Grund hat es keine Bedenken, seine schreckliche Brutalität offenzulegen und alles zu zerschlagen, was es als Bedrohung verstehen kann. Die dialektische Beziehung zwischen Kapital und Arbeit, vielen Marxisten so lieb, wird fortwährend vom Kapital selbst gebrochen. Ob nun aus einer Nostalgie für irgendeinen verlorenen demokratischen Horizont oder aus anderen Gründen: Zu glauben, daß man diese durch die Mittel des Kampfs wieder herstellen könnte, ist von Anbeginn eine verlorene Wette, wie die Sackgassen gezeigt haben, in denen die Bewegung für eine alternative Globalisierung und der ganze post-proletarische Vorschlag von Negri und Hardt gelandet sind. Wie konnten wir in der polizeilichen Repression von Seattle 1999 und Genua 2001 nicht das Schreckgespenst eines von der Herrschaft leicht gekämpften und gewonnenen Bürgerkriegs sehen? Während die 'Tute Bianche' [globalisierungskritische Bewegung in Italien, die mit weißen Overalls auftrat] auf einer rein symbolischen Ebene Trugbilder bekämpften, zerschlug die Gegenseite die Bewegung mittels Gewalt und Angst.
Ganz ähnlich könnte man die mörderische Gewalt sehen, die die Polizei gegen die Protestierenden in Sainte-Soline ausübte. Wann immer eine antagonistische Gewalt das öffentliche Konfliktniveau erhöht und es auf eine hoch symbolische Ebene bringt, gibt sie sie sich der Repression klar und deutlich zu erkennen, die keine besonderen Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren und alle zur Zerschlagung des Gegners notwendigen Mittel zu mobilisieren. Die Frage der Gewalt muß sich so von einer doppelt spiegelnden Naivität befreien: auf der einen Seite von einer gewaltfreien Opferposition, die glaubt, man könne die Gewaltverhältnisse allein auf dem diskursiven oder kulturellen Level ändern, indem man die Gewalt des Staates denunziert und auf der anderen Seite eine Wiederaneignung der Gewalt, die versucht, einen kraftvollen Feldzug zu starten, der dem des Staates symmetrisch ist. Das birgt das Risiko, die produktiven und erfinderischen Potentiale des Konflikts in eine Konfrontation zwischen zwei etablierten Fronten zu kanalisieren, von denen die eine militärisch vollständig dominiert.
(15) Zur Komplexität dieses Falls siehe: Anonym: Victory and its Consequences, in: Liaisons, Vol. 2
(16) Bordiga-Schüler werden mir hoffentlich diese krasse Übersimplifizierung des Unterschieds zwischen historischen und formalen Parteien verzeihen.
(17) Dieser Ausdruck stammt aus: Katherine Nelson: The Anarchy of Power, South Atlantic Quarterly, 122-1, Januar 2023. In der nachfolge von Rainer Schürmann argumentiert Nelson, daß die Krise der Moderne einen Niedergang der metaphysischen Rahmen mit sich gebracht hat, auf denen die Formen der Macht in der modernen Zeit gebaut waren. Der Nihilismus hat diese Rahmen bloßgestellt, die, einmal entschleiert, nur noch einen unaufhaltsamen Verfall durchlaufen können. Im Ergebnis ist das System unseres Zeitalters wesentlich nihilistisch und anarchisch. Angesichts dieses Verfalls sucht sich die Macht nicht mehr eine Reihe universeller oder totalisierender Rechtfertigungen, wie sie es in der ganzen Geschichte westlicher Modernität getan hat, sondern sie definiert sich nun neu als reine Gewalt, gewaltsame Herrschaft. Michele Garau ist in seinem neuen Werk über Jaques Camatte zu ähnlichen Schlüssen gekommen (siehe: Garau: The Community of Capital, Ill Will, 23. April 2022). Garau zufolge geraten die Rechte und Formen des liberalen Staates Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Krise. Die Repräsentationen, mit denen das Kapital sich ausgestattet hat, um das Vakuum zu füllen, das durch die Zerstörung der kommunitaristischen Bindungen, die ihm vorhergingen, stellen kein zusammenhaltendes Element mehr dar, da die ökonomischen Verhältnisse die sozialen durchdrungen haben und das Kapital der Gesellschaft selber immanent geworden ist, dem ‚Sozialen‘, und so nicht länger eine Reihe von Externalisierungen oder Transzendenzen in Form von Institutionen oder Werten produzieren muß, die als Klebstoff für eine Bevölkerung separierter Individuen dienen muß. Diese Thesen hat Jaques Camatte in den späten 1960ern und frühen 70ern entwickelt. Sie wurden, wie Garau bemerkt, von Negri aufgenommen und zwar in seinem Text Crisi dello stato piano von 1972, in dem der Autor bürgerliche Freiheiten und den Nationalstaat nicht mehr als Schein, sondern als doppelten Schein beschreibt. Macht ist nun zufällig und willkürlich. Geld ist die totale Repräsentation geworden und wird so zur Herrschaftsform über der sozialen Welt; dabei hat es jeden sozialen Grund, zu existieren, verloren und beruht ausschließlich auf Klassengewalt. Der Staat nimmt nunmehr eine Rolle ein, die keine mehr der Vermittlung ist, sondern die politische Basis für die Herrschaft des Kapitals bereitstellt.
(18) Im Gegensatz zu denen, die behaupten, daß die Hypothese der Destitution einfach nur einen Vorschlag für weitere Revolten und das Aufheben der historischen Zeit darstelle, wurde die Idee der desituierenden Macht tatsächlich von Agamben und dem Unsichtbaren Komitee als Versuch formuliert, einen revolutionären Weg aufzuzeigen, der nicht auf den selben Felsen Schiffbruch erleidet, die schon so lange moderne Revolutionen zu Konterrevolutionen werden ließen.