Raum und Ort
Diese Texte deuten an, daß die Organisierung von kämpfenden Blöcken und Aktionen dort am fortgeschrittensten war, wo die Mobilisierung Koordinationsformen entwickelte, die außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens operierten und dabei in direkter Verbindung mit den entschlossensten Teilen der Gewerkschaftsbasis blieben. Das was als ‚Operation Geisterstadt‘ (Ville morte) bekannt wurde, eine Serie von lähmenden Blockaden, die in Rennes, Nantes und Lyon stattfanden, bezeugt das Entstehen einer selbständigen Stoßrichtung innerhalb der Mobilisierung. Diese besitzt die Fähigkeit, eine revolutionäre Subjektivität zu entwickeln, die sich zu einem Widerspruch gegen dem Staat kristallisiert und dabei die Vermittlung durch die Gewerkschaften umgeht. Die Herausforderung dieser Subjektivität liegt in der Notwendigkeit, ihre Fähigkeit zur Mobilisierung, Koordinierung und Intervention innerhalb ihrer Blöcke beständig neu zu erfinden, ohne dabei die Verhärtung und Verkalkung ihrer Taktiken und ihrer Strategie zu erlauben. Andernfalls würden sie für die Polizei leichter durchschaubar, was den Verlust des strategischen Vorteils für die Bewegung bedeutete.
Um sich dieser Herausforderung zu stellen, müssen die Kämpfe eine territoriale Basis entwickeln – sei es auf der Ebene eines Stadtteils, in einer ganzen Stadt oder sogar regional –, die es ihnen ermöglicht, Wirtschaftskreisläufe und Verkehrsflüsse zu unterbrechen, ohne der Polizei die Wiedergewinnung der Kontrolle über die Infrastruktur und die Bewegungen zu erlauben. Um eine gewisses Effektivitätsniveau zu erreichen, wird eine territoriale Dimension immer wesentlich sein. Obwohl sich beispielsweise die Bildung konfliktgeladener Räume in der Bewegung gegen die Rentenreform auf studentische Besetzungen und Blockaden beschränkte, könnten sie jenseits ihrer rein operativen Funktion auch zu Treffpunkten für eine Reihe verschiedener Subjektivitäten werden und eine Beitrag zum Aufbau eines ethischen und praktischen ‚Wir‘ leisten. Die Kreisverkehrsbesetzungen der ersten drei Monate des Aufstands der Gilet jaunes sind bis heute das fortgeschrittenste Beispiel einer solchen simultanen Kombination von konfliktgeladenen Formen, die in der Lage sind, die Verkehrsflüsse zu unterbrechen, mit einem raumgebenden Impuls, der ein Außen herstellt.
Das Schaffen von Orten gehört zur grundsätzlichen Grammatik aller neueren Bewegungen, von der Bewegung der Plätze in Europa bis hin zum George-Floyd-Aufruhr 2020 in den USA. Infolge der amerikanischen Occupy-Bewegung beriefen sich einige Genossen auf die Kategorie der 'aufständigen Kommune' (4), um ansatzweise theoretisch zu fassen, wie diese durch Kämpfe geöffneten Orte mit Formen der gesellschaftlichen Reproduktion außerhalb der Kapitalkreislaufs experimentierten. 2020 wurden von Seattle bis Atlanta ganz ähnliche autonome Zonen geboren und versucht, polizeifreien Gebieten Leben zu geben. (5) Wenn sie auch nicht frei von zahlreichen Schwierigkeiten waren, zeigen diese Erfahrungen doch, daß die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nicht ausschließlich Sache der Polizei ist, da die gegnerische Rolle häufig von Teilen der Bewegung eingenommen wird.
Egal, ob man nun diese jüngeren Bewegungen aus einer marxistischen Perspektive (zum Beispiel der Kommunisierungstheorie) oder einer moralischen betrachtet, bildet die Schaffung von Orten, die sich von der staatlichen oder kapitalistischen Kontrolle des Gebiets abspalten und sich ihr widersetzen, das Element, welches verschiedenen Subjektivitäten den Aufbau einer geteilten und möglicherweise andauernden Grundlage ihrer Existenz ermöglicht. Der Niedergang programmatischer Politik wie auch einer Politik, die durch gesellschaftliche Stellvertretungsmodelle die Integration in die Räume der klassischen politischen Sphäre sucht, läßt eine Leere entstehen, die allmählich durch den Aufbau neuer nicht-souveräner Territorien gefüllt wird. Der Niedergang einer auf Forderungen aufbauenden Politik, macht den Weg für eine neue politische Geographie frei, bei der es um die Schaffung neuer Formen des Lebens geht, um Orte, die schon ehe sie sich materialisieren ethisch sind, ein Gewebe beweglicher und nicht verdingbarer Beziehungen.
Der Punkt ist nicht, daß physische Orte nun die wichtigste Stütze der gegenwärtigen Bewegungen geworden sind, sondern nur, daß ihre materielle und strategische Infrastruktur auf diesen beruht. Wenn wir den Begriff 'autonome Zone' so verstehen, daß er sich auf ein Gebiet bezieht, das von der Region um sie herum nicht mehr abhängig ist – nun, eine solche Sache existiert nicht wirklich. Ebensowenig handelt es einfach um eine Frage der Anwendung eines formalen Verwaltungsmodells, so als ob 'Selbstverwaltung' oder eine Praxis des Geschenkegebens notwendigerweise schon eine antikapitalistische Orientierung charakterisieren müßten. Noch weniger handelt es sich um Souveränität und Unabhängigkeit, um das Ersetzen der staatlichen Hoheitsgewalt mit einer anderen staatsähnlichen Hoheitsgewalt, vor allem, wenn man an die anderen gleichermaßen schrecklichen Formen denkt, die bei solchen Versuchen hervorgebracht werden können. (6) In Wahrheit geht es bei 'Autonomie' als einer strategischen und revolutionären Frage nicht primär um Selbstverwaltung oder eigene Herrschaft. Sie ist vielmehr eine Spannung oder ein Problem, das nur innerhalb eines dynamischen Ortes eines fortgesetzten Konflikts erwächst: Ein Kampf bleibt 'autonom', so lange er seine Fähigkeit erhält, beständig neue offensive und antagonistische Formen zu erzeugen.(7) Aus dieser Sicht sind Orte, an denen wir alternative Formen der Organisation und sozialen Reproduktion entwickeln können, offensichtlich hilfreich, aber ihr Entstehen sollte nicht als Endpunkt oder Kulmination des Kampfs verstanden werden.
(4) Joshua Clover: Riot. Strike. Riot, Verso 2016. Der Autor bezieht sich besonders auf die Kommune von Oakland.
(5) Die folgenden zwei Text spüren klare Verbindungen zwischen zwei bedeutenden Erfahrungen in den USA der 2020er auf: in Atlanta und in Seattle. Anonym: At the Wendys, Ill Will, 9. November 2020, und: Anonym: Get in the Zone. A Report from the Capitol Hill Autonomous Zone in Seattle, It’s going down, 8. Juni 2020
(6) Über das Verhältnis zwischen Verwaltung und Hoheitsgewalt und wie die Erfahrung der Zapatisten erfolgreich bestimmten Untiefen westlichen radikalen Denkens entkommt, siehe: Jerome Baschet: Zapatista Autonomy. A Destituent Experiment?, Ill Will, 7. September 2022
(7) Zu diesem Gebrauch des Begriffs ‚Autonomie‘ siehe Adrian Wohlleben: Autonomy in Conflict, in: The Reservoir, Vol. 1