Aus unseren Gerichtssälen – N°2
Gefährliche Klappbewegungen aus den Unterschenkeln
A6-Booklet (Zum Falten, Schneiden und Tackern)
16. September 2019, 8:50 Uhr, Amtsgericht Tiergarten. Ein weiteres, diesmal deutlich länglicheres juristisches Theaterstück anlässlich der großen Drückerei in der Skalitzer (wir berichteten). Heute mit dem zusätzlichen Plot, dass die unfreiwillige Protagonistin des Morgens einem Polizisten gegen das gepanzerte Schienbein getreten haben soll, weshalb sie nun schwer angeschuldigt auf dem Anklagestuhl des hohen Hauses unserer Justiz sitzt. Bühnenbild wie gehabt: Billiger Boden aus Linoleum, schäbige Plastikmöbel, einige Sitzreihen für die Öffentlichkeit, gelangweilte Praktikantin, dazu eine untätige Staatsanwältin, ein Richter mit Ohrring links und Turnschuhen unten, aber mit Robe, eine Anwältin und natürlich unsere Angeklagte. Die Sekretärin nicht zu vergessen.
Diesmal haben gleich drei Polizisten als Zeugen ihren Auftritt. Der erste ist ein engagierter, halbwegs schneidiger Mann Mitte 30, der sich auszudrücken weiß und einen höheren Rang innehat. Truppführer oder so. Wir kennen ihn schon von der letzten Aufführung und wieder darf er in die Szenerie einführen: Gegen Nachmittag seien er und sein Trupp, die 22. Einsatzhundertschaft, zu besagtem »Objekt« in der Skalitzer Straße »alarmiert« worden, denn »drei bis vier« Menschen hielten sich dort unbefugt in einem leerstehenden Laden auf. Mit dieser »Besetzung« – er selbst setzt diesen Begriff in Anführungszeichen – hätten sich ca. 100 Personen »solidarisch gezeigt« und hielten eine spontane, nicht bewilligte Kundgebung ab. Das alles wegen der »Gentrifizierung« und der »Wohnungsnot«. Alarm! Zwar wurde die Kundgebung schnell legalisiert, aber mit der bereits bekannten Auflage, die berüchtigte Tür freizuhalten. Und das war dann ihr Auftrag: Schutz der Tür. Also bildeten sie davor eine Polizeikette, oder auch eine »Schutzbarriere«, »Schutzlinie« oder »mehr oder weniger eine Sperre«. Dort seien sie bereits »vollgepöbelt« worden, aber alles blieb im Sinne des Polizisten friedlich, bis die Tür geöffnet wurde: Auftritt der Bewohnerin mit dem Fahrrad.
Nun kommt die Handlung mehr oder weniger ein stückweit in Fahrt. Die Demonstranten mögen sich gedacht haben, dass die Polizei diese Gelegenheit nutzen will, um das Haus zu betreten und die Besetzung zu beenden und waren prompt bereit, sich ihr heroisch in den Weg zu stellen. Der Zeuge allerdings war der Ansicht, die Demonstranten wollten ihrerseits unbefugt in den Laden gelangen. Wie dem auch sei, jedenfalls rückten die Demonstranten vor und es kommt zum großen Gedrücke. Alles in allem eine »relativ unüberschaubare Situation«, sehr »dynamisch« und »grundsätzlich Richtung Tür« bzw. »alles Richtung Polizei« drängend. Aber auch vor und zurück. Eine erste Festnahme kann glücklich verhindert werden, da die festzunehmende Person von Demonstranten gegriffen wird und dann entwischen kann.
Der Polizist redet jedenfalls wieder viel vom »massiven Druck«, von der »vollen Kraft« die er habe aufwenden müssen und von seinen Schlägen auf die Brust eines Demonstranten, gezwungenermaßen, zum Schutze der Tür. Und dass diese nichts gebracht hätten. Er habe auch mit der »Pike« seines Stiefels immer wieder »Stöße gesetzt« – mal in Reaktion auf selbst eingesteckte Tritte, mal in Aktion, um sich »ein stückweit einen Arbeitsraum zu schaffen«. Die Tritte gegen sein gepanzertes Schienbein, die hätten schon weh getan, wenn der »Empfindungsschmerz« auch unmittelbar wieder abgeklungen sei und sie »keine Nachteile gezeigt« hätten. Er sei mitnichten verletzt worden wie auch sonst niemand bei dieser Balgerei. Aber, sagt er, die Demonstranten hätten »auf die Polizeikräfte gewirkt« und dabei diese »freundlichen ACAB-Rufe« von sich gegeben. Er, in »massiver Abwehrhaltung« und unter Aufbringung seiner »maximalen Kraft«, sei befugt gewesen, seinerseits »Zwangsmittel« anzuwenden. Das Gesetz hätte sogar noch gröbere Gewalt gedeckt, sagt der stets auf Deeskalation ausgerichtete Beamte. Immerhin konnte er jedenfalls durch seine Gewalt etwas Distanz zum Gegner schaffen, den Bereich vor sich »ein stückweit frei« machen, sich »ein stückweit Raum verschaffen«, denn man »möchte ja nicht so Nase an Nase stehen«. Und durch diesen sich erboxten »Freiraum« habe er zu Boden gucken können und da habe er einen Fuß der Angeklagten gegen sein Bein sausen gesehen bzw. »Klappbewegungen aus den Unterschenkeln«.
Irgendwann gelang dann endlich eine Festnahme eines der Drücker und sofort, so die Aussage dieses Zeugen, sei »ein stückweit« Ruhe eingekehrt. Die Leute seien zur Kundgebung zurückgegangen – und so hätte dieses nicht besonders aufregende Theaterstück eigentlich zu Ende sein können. Solche Low-Level-Scharmützel sind für alle Beteiligten ein wenig Training. Niemand ist auch nur zu Boden gegangen, es gab keine Verletzten. Keine Steine auf der einen Seite, keine Knüppel oder Reizgas auf der anderen. Nichtmal Helme waren nötig, höchstens hätten die Demonstranten ihrerseits Schutzkleidung gebraucht, wegen der Stiefeltritte der Polizei. Aber dieser sehr beflissene Polizist fühlte sich daraufhin verpflichtet, nach gewissen Personen Ausschau zu halten. Insbesondere wartete er, bis zwei davon, darunter die Angeklagte, sich von der Kundgebung entfernten, um dann Order für deren Gefangenennahme zu geben. Das sei dann auch ohne Widerstand gelungen. Es sei ein »praktisches Konzept der Polizei«, das diskret im »Nachgang« zu erledigen, rechtfertigt er sein erbärmliches Verhalten, das für diese erbärmliche juristische Nachaufführung verantwortlich ist. Nach dieser Zeugenaussage inklusive eines etwas ermüdenden Frage-Anwort-Spiels mit der Verteidigerin sind jedenfalls schon zwei Stunden vergangen (und damit die angesetzte Prozesszeit bereits erheblich überschritten) und was hier schon länglich wirkt, war in Wirklichkeit noch viel länger und auch noch redundanter. Dann wird ein bisschen Video geguckt, denn die Polizei hatte prophylaktisch alles schön gefilmt. Das Publikum kann die Bilder nicht sehen, aber der Ton wirkt eher wie eine Gaudi und es wird »Bullen verpisst euch, keiner vermisst euch« gerufen. Interessant ist vielleicht noch, dass der Truppführer von seiner Vorladung beim LKA erzählt, wo er das Video schon zu sehen bekommen habe. Denn so eine Drückerei und gar dieses Gestochere mit den Füßen ist natürlich auch ein Fall für das Landeskriminalamt. Der zweite Polizeizeuge ist schüchterner und war wohl noch nicht so oft in einem Getümmel wie diesem. Auch er hat Tritte abbekommen, konnte aber keinen konkreten Täter ausmachen. Gehauen und getreten habe er selbst nicht, da er das nicht nötig gefunden habe, er sei aber auch »aufgeregt« gewesen. Andere mögen das anders gefühlt haben und mögen stärker zugelangt haben, ergänzt er scheu. Schließlich sitzt sein Truppführer im Publikum und der hatte ja etwas forscher getümmelt. Jedenfalls war der zweite Zeuge an der Festnahme »im Nachgang« beteiligt. Er sagt deutlich, die Angeklagte sei davon sehr überrascht gewesen. Anscheinend war sie sich der Schwere ihrer Schuld gar nicht bewusst gewesen – immerhin werden ihr »gemeinschaftlicher tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte«, »gefährliche Körperverletzung«, »gemeinschaftlicher schwerer Widerstand« und »Landfriedensbruch« vorgeworfen. Aber das muss sie so nebenbei gemacht haben, ohne es zu bemerken. Wie auch, wo das ganze Geschehen nur halb so wild war, niemand verletzt worden ist und das Gedrücke schon nach der ersten Festnahme schnell zu Ende war. Wahrscheinlich hat überhaupt niemand den Ernst der Lage erkannt außer am Ende gewisse Abteilungen des LKA, diesem Wächter unserer Ordnung.
Auftritt des dritten Zeugen. Er soll von der Angeklagten getreten worden sein. Aber er weiß nur noch, dass er überhaupt getreten wurde und fühlt sich geschädigt. Es war halt »sehr eng« im Gedrücke und er konnte die Beine ebensowenig zuordnen wie der zweite Zeuge. Die hatten wohl nicht den Profiblick des ersten. Auch er berichtet von der Schmach, dass die erste Festnahme wegen eingestandener »Unterlegenheit« nicht gelungen sei. Außerdem gibt er etwas betreten zu Protokoll, dass er bei der Drückerei seiner Handschuhe und -schellen verlustig gegangen sei.
Pause. Zweiter Akt: Plädoyers. Die Staatsanwältin ist sehr jung, sehr blond und sehr blass und hatte während der Vernehmung keine einzige Frage gestellt. Jetzt redet sie so schnell, dass man ihr Strafansinnen kaum versteht. Zwar hat sie sich nach der Pause noch »3 bis 4 Minütchen« zusätzlich erbeten, um an ihrer kleinen Einlassung zu feilen, übernimmt aber einfach die Aussagen des ersten Zeugen als Tatsachen und fordert 7 Monate Haft, ausgesetzt auf 2 Jahre Bewährung. Diese angehende Staatsroboterdarstellerin muss noch etwas üben. Die Verteidigerin hält dafür eine couragierte, etwas zu lange freie Rede und ist sichtlich bemüht, die Sache als das darzustellen, was sie war: eine Nichtigkeit vor dem Herrn.
Der Richter zieht sich davon unbeeindruckt zurück, geht in sich, kommt wieder und verkündet: 9 Monate Haft auf Bewährung wegen aller vier der Angeklagten vorgeworfenen Delikte. Gönnerhaft sagt er zur Verurteilten: »Sie stehen ja im Leben« und so reiche wahrscheinlich schon die Androhung der Haft, um sie auf den rechten Pfad der Tugend zu bringen. Außerdem soll sie noch 800 Euros an eine Stiftung für behinderte Kinder oder so zahlen und natürlich die Theaterkosten tragen. In seiner Begründung stützt er sich voll und ganz auf den ersten Zeugen, dieser habe nicht übertrieben und sei folglich glaubhaft. Tatsächlich hat dieser Polizist immer wieder darauf bestanden, keinerlei Verletzung bei der »gefährlichen Körperverletzung« durch Tritte gegen das gepanzerte Bein erlitten zu haben. Auch gab er mehrmals an, die Lage habe sich nach der ersten Festnahme sofort beruhigt. So gesehen tatsächlich eine »ausgesprochen differenzierte« Darlegung der Situation, wie der Richter sich ausdrückt. Da natürlich die Verhandlung nicht verbergen konnte, dass im Wesentlichen einige Polizisten und unter anderem unser Zeuge ein stückweit gewalttätig waren, erfolgt noch der Hinweis durch den Vertreter des hohen Hauses, dass diese Gewalt allerdings »durch den Auftrag gerechtfertigt« gewesen sei. Immerhin wurde eine Tür verteidigt.
Schlimmer als das Agieren der Polizei in der Situation ist in der Tat ihr juristisches Nachtreten, das sich scheinbar gegen mehr oder weniger zufällige Demonstranten richtet, die man in flagranti erwischt hat. Es wird aber vom Richter eigens darauf hingewiesen, dass die Angeklagte kein unbeschriebenes Blatt sei. Sie habe schonmal eine Kundgebung vor einer solchen Besetzung angemeldet und deshalb einen Strafbefehl erhalten, wenn die Sache auch eingestellt worden ist. Er erwähnt auch den Hashtag #besetzen, den der geneigte Leser vielleicht aus Funk und Fernsehen kennt und der auch dem Verfassungsschutz eine halbe Seite in seinem Bundesbericht wert war. Dort wird sogar die Drückerei erwähnt, deretwegen die sympathisch wirkende Angeklagte nun diesen Unbill hat. Und so überbietet diese dahergelaufene Charaktermaske von Richter die Staatsanwaltspraktikantin noch um zwei Monate und demonstriert so deren Überflüssigkeit in diesem Theaterstück.
Nicht gerade günstig war für das Strafmaß natürlich das mangelnde Geständnis der frisch verurteilten Frau. Richter lieben kriechende Kreaturen, sie hingegen lässt das Urteil stoisch über sich ergehen, zeigt keine Reue, keine Schuld und beteuert noch nichtmal ihre Unschuld. Immerhin eine Besucherin zeigt menschliche Regungen, wird daher des Saales verwiesen und schlägt laut die Tür zu, dabei glatt »Drecksladen« rufend. Unterbrechung der Urteilsverkündung. Der Richter funkt erstmal eine Personenbeschreibung: Eine »Frau mit Zopf« erscheine gleich am Ausgang und solle »festgesetzt« und zurückgebracht werden, wenn sie nicht freiwillig mitkomme, dann »auch so«. Der mittlerweile Teil der Öffentlichkeit gewordene erste Zeuge wird wieder Polizist und geht ihr hinterher. Die Übeltäterin allerdings hat sich schon »entfernt«, wie er enttäuscht feststellen muss.
Fortsetzung des Monologs des Richters, der sein famoses Urteil begründet. Das Anliegen mit der Miete finde er ja auch gut, aber irgendwann sei die Situation gekippt und alle seien nur noch gegen die Männer in Uniform gewesen, hätten diese gedrückt und getreten. Solches polizeifeindliches Verhalten habe »nichts mehr mit Wahrnehmung demokratischer Rechte zu tun«. Und so seien sie ihrerseits zurecht gedrückt und getreten worden und eben nun verurteilt. Die ungewöhnlich hohe Strafe liege an den neuen Paragraphen 113 und 114: Widerstand und auch »tätlicher Angriff« werden automatisch schwer, wenn sie »gemeinschaftlich« begangen sind. Aus demselben Grund wird die Körperverletzung »gefährlich«. Da helfe nichts – nicht einmal, dass kein Körper verletzt wurde. Außerdem habe er das Gesetz schließlich nicht gemacht. Der Paragraphensalat auf zwei Beinen hält noch eine kleine abschließende Moralpredigt für die tapfere Angeklagte und ab geht’s in die nächste, arg verspätete Verhandlung. – Diesmal trinken wir kein Bier im Park, sondern Sekt.
Ende September 2019.