Der komponierende Weltgeist
Aus Magazin N°4
Es soll hier einmal um das Werk von Gustav Mahler gehen, der unbestritten zu den revolutionärsten Tonsetzern gehört, die bislang gearbeitet haben. Es ist allerdings allgemein sehr schwer, sich über Musik zu verständigen. Die einzelnen Werke sind relativ unbekannt, das Gehör ist sehr schlecht ausgebildet, die Geduld fehlt und es existiert eigentlich keinerlei Sprache, die die der Musik innewohnenden Qualitäten und Dynamiken in einer Weise beschreibt, die allgemein verständlich ist und auch noch ihren Gegenstand trifft. Entweder man bleibt auf der Ebene der Musikwissenschaft und analysiert ein Werk nach seiner Form, Harmonie, Melodik, Rhythmik, Klangfarbe etc. oder aber man beschreibt es durch ein implizites Programm und versucht so, seine Geschichte zu erzählen. Die erste Methode verspricht Objektivität, da sich formelle Aspekte immerhin aus dem Notenbild ablesen lassen, wenn man zufällig die Kunst versteht, eine Partitur zu lesen. Anderseits fehlt hier ein inhaltliches Verständnis des Gegenstandes. Eventuell stellt man fest, daß im Verlauf eines Stückes eine gewisse Spannung aufgebaut wird und dieselbe sich zum Ende hin wieder auflöst, aber was dies soll, ist dadurch noch völlig unbekannt. Diesen Mangel behebt eben ein Programm. Allerdings muß man hier vorsichtig sein: Der eine hört eine Schlacht, die andere eine Naturdarstellung, einige wollen ein Musikstück mittels biographischer Erlebnisse des Komponisten deuten, andere setzen auf die Religion und wieder andere auf weltliche Geschehnisse. Außer bei Stücken, die ein explizites Programm besitzen – Die Moldau oder Ein Heldenleben z. B. –, werden daher oft nur partielle Assoziationen zu einzelnen Stellen oder summarische Assoziationen zu ganzen Stücken geliefert, ohne es zu wagen, eine vollständige Geschichte zu erzählen; das Schicksal klopfe an die Tür, oder der Frühling ziehe ein. – Diese subjektiven Assoziationen haben etwas Unbefriedigendes. Dazu kommt, daß Musik ihre Geschichten auf eine Weise erzählt, die sich nicht unmittelbar in Worte übersetzen läßt. Ihre Ausdrucksweise ist dem Körper und seinen Empfindungen näher als dem begriffliche Denken und man nimmt der Musik daher leicht ihre eigentümliche Qualität, wenn man sie durch Begriffe zu ersetzen sucht. Kein Wunder also, daß man sich einer populären Meinung nach besser der Musik übergeben soll, indem man beim Hören das aktive Denken zugunsten der Sinne ausschaltet.
Literatur
Iwan Sollertinski. Die Sinfonien Gustav Mahlers. Der Russe Sollertinski bezieht die Sinfonien Mahlers stringent auf weltliche Ereignisse und vermag so, die Sache etwas schmackhaft zu machen. Soweit aber noch nichts Außergewöhnliches; Mahler selbst sagt: „Was man musiziert, ist doch immer der ganze, fühlende, denkende, atmende, leidende Mensch!“ Bei Sollertinski ist der Mensch aber historisch genommen, er bezieht Mahlers Sinfonien auf die konkrete geschichtliche Situation: Mahler lebte um die Wende zum 20. Jahrhundert, als die bürgerliche Ordnung sich endgültig blamiert hatte und gleichzeitig die erste Arbeiterbewegung teilweise deren Überwindung anstrebte. Am Ende hat bekanntlich die überlebte Welt gesiegt und Europa hat sich in einem katastrophalen Krieg zerfleischt; es ging aber nicht ohne Aufstände ab und die Geschichte war insofern etwas dramatisch. Diese Agonie des Kapitalismus jener Tage sowie die daraus entstehenden Antagonismen und Kollisionen bilden nach Sollertinski den konkreten Stoff von Mahlers Sinfonien: „Darum ist Mahlers sinfonische Welt die Welt unaufhörlicher Exaltation, eine Welt der Spasmen und Zuckungen: Alle Dinge werden im Zustand des Paroxysmus gezeigt. Es ist interessant, einmal die dynamischen Bezeichnungen in seinen Partituren, besonders in den ‚tragischen‘ Sätzen – dem Finale der Sechsten, dem zweiten Satz der Fünften oder dem ersten der Siebten Sinfonie – zu verfolgen: Die ganze Zeit über gigantische, krampfhafte Kontraste; betäubende Ausbrüche des gesamten Orchesters wechseln hier mit dramatisch gespannten, dort mit lyrischen Pianissimi; die dynamischen Zeichen wechseln mitunter mehrmals in einem Takt, es wimmelt nur so von Crescendi und Sforzati. Die Musik gewinnt den Charakter des Abgerissenen, Nervösen und verrät eine außerordentliche emotionale Anspannung, die beinahe in einen Aufschrei mündet. man gewinnt den Eindruck, als seien die Partiturseiten buchstäblich mit Blut geschrieben.“
Seine Auffassung richtet sich gegen naturalistische Deutungen, die Mahler selbst manchmal vorgeschwebt waren. Es handle sich nicht um Naturbeschreibungen, sondern umgekehrt diene die Natur nur als Spiegel für die Menschenwelt: „Stürmisch die Eisdecke brechend und über die Ufer tretend, scheint die Natur dem Kollektiv der Menschen zu ähneln, das die alten Beziehungen im Namen der neuen niederreißt.“ Damit richtet Sollertinski sich außerdem gegen alle subjektiven Interpretationen. Man wollte z.B. aus Mahlers Märschen seinen Vater und in seinen lyrischen Passagen seine Geliebte heraushören etc. pp. Die Mahlersinfonien – immerhin Werke fürs große Orchester – handeln dagegen von kollektiven Prozessen: „Gerade im Kopfsatz dieser Sinfonie – einem gigantischen Marsch, eröffnet durch ein plastisches Thema der acht Hörner im Unisono, mit tragischen Aufflügen, mit Spannungssteigerungen, die bis zu Kulminationspunkten von nicht mehr menschlicher Macht geführt werden, mit pathetischen Rezitativen der Hörner oder der solistischen Posaunen, die gleichsam zum Aufstand blasen – vernahmen die Kritiker den Schritt der Arbeiterkolonnen bei einer Maidemonstration.“
Constantin Floros. Die Symphonien Gustav Mahlers. Der Musikwissenschaftler Constantin Floros hat ein dreibändiges Werk über Mahler verfaßt. Man kann diesen Bänden eine formale Besprechung aller Sinfonien entnehmen. Insbesondere hat Floros schöne schematische Darstellungen der einzelnen Sätze entworfen, denen man die einzelnen Formteile entnehmen kann. Man sieht hier, wie weit sich Mahler bei aller Zersetzung doch an die traditionelle Sonatenform gehalten hat, und kann – indem man hier eine Inhaltsangabe an die Hand geliefert bekommt – die Werke Mahlers sehr analytisch hören, indem man versucht, das durch Mahler erzeugte Chaos mit dem angegebenen Schematismus in Einklang zu bringen. Hat man einmal die Form verstanden, kann man sich deutlich einfacher verständigen, da die Riesensätze sich plötzlich recht übersichtlich gliedern und man z. B vom Einbruch des Hauptthemas im dritten Teil der Durchführung reden kann, um eine bestimmte Stelle zu benennen. Man kann diese Stellen finden und sei es mit Hilfe einer Partitur, die – wenngleich sie zumindest dem Autor eine furchterregende Ansammlung von schwarzen Punkten bleibt – doch immerhin verfolgbar wird.
Der große Kopfsatz der dritten Sinfonie gliedert sich zum Beispiel nach Floros wie folgt:
INTRODUKTION
T. 1-10 DER WECKRUF: Intonation des Marschthemas
11-26 Misterioso
27-56 Trauermarsch (schwer und dumpf)
57-131 Rezitativ/Arioso (T. 115-126 ein Schlafmotiv)
132-147 PAN SCHLÄFT: Choral (mit liedhafter Melodie als Kontrapunkt)
148-163 DER HEROLD: Tusch, der sich in Musik aus weiter Ferne auflöst
164-224 Rezitativ/Arioso (bei Z. 13-16 trauermarschähnliche Rhythmen als Begleitung; T. 214-224 ein Schlafmotiv)
225-246 Musik aus weiter Ferne (Choral mit liedhafter Gegenmelodie, später Tusch sich gänzlich verlierend ~ T-132-163)
247-272 Marsch wie aus weiter Ferne
EXPOSITION
273-346 Marschmusik aus der Ferne; immer näher kommend (mit liedhaftem Charakter zu Beginn): Einzug des Sommers
347-368 Hymnisch, dann gespannter Höhepunkt: Vorgriff auf das Finale
DURCHFÜHRUNGD
369-449 Rezitativ/Arioso
450-491 Musik aus weiter Ferne
492-529 Lied ohne Worte in zwei „Strophen“ und in Ges-dur
530-642 Marsch (von Mahler selbst in der Partitur so bezeichnet)
Z. 44: DAS GESINDEL
Z. 49: DIE SCHLACHT BEGINNE
Z. 51: DER SÜDSTURM = naturalistische Sturmdarstellung
REPRISE
643-654 Intonation des Marschthemas
655-670 Misterioso
671-736 Rezitativ/Arioso (mit trauermarschähnlichem Beginn)
737-856 Marsch aus weitester Ferne sich nähernd
857-862 Gespannter Höhepunkt: Vorgriff aufs Finale
863-875 Siegesfanfare
Man hat hier eine lange Introduktion, aus der sich einige Märsche herausschälen. Wenigstens seit Beethoven ist es üblich, die Exposition aus einer solchen Einleitung abzuleiten, so daß der Anfang – in unserem Falle ein fröhlicher Marsch – nicht ohne Voraussetzung gesetzt wird, sondern selbst wieder als Resultat einer untergründigen Bewegung erscheint. Vor und nach der Durchführung kommt diese Einleitung jeweils wieder; der Hauptmarsch kann sich überhaupt nur durch diese Sammlungsbewegung hindurch konstituieren. Innerhalb der Durchführung selbst kann man dank der tabellarischen Formübersicht ein gewisses Schlachtgetümmel erwarten, wobei die eine kriegführende Partei mit Gesindel bezeichnet wird. Man bekommt so den Inhalt der Sinfonie schon an die Hand: Ein Gesindel erwacht, rüstet sich zum Kampf und schlägt eine Schlacht. Welche Schlachten hat welches Gesindel in dieser Zeit geschlagen? 1902 wurde Mahlers Dritte uraufgeführt. 1905 brach eine Revolution in Rußland aus.
Neben formalen Aspekten sind Floros Bücher auch eine Fundquelle verstreuter Äußerungen Mahlers zu seiner Musik. Der Komponist selbst hatte nicht unmittelbar den von Sollertinski angebotenen Gegenstand vor Augen und nimmt statt dessen Ausflüchte zu Mythen oder zu Naturbildern. Die Emanzipation des Menschengeschlechts erscheint z. B. immer wieder abstrakt als Streben desselben zu Gott. Man kann die Äußerungen Mahlers nur als abstrakte Beschreibungen seiner Werke nehmen, da sie meistens ganz unhistorisch und sehr allgemein sind. Man bekommt durch sie aber trotzdem wertvolle Einblicke in die Geschichten der einzelnen Werke, allerdings in einer eher metaphorischen Form.
So ist die Introduktion des oben formell aufgefächerten Kopfsatzes der Dritten dem erwachendem Pan gewidmet. Dieser Formteil kommt ohne eigentliche Melodik aus, nur das Blech bequemt sich zu einigen Melodieansätzen; die Materie ist sehr träge, kommt aber in Gang. Das Resultat ist dann das oben bereits erwähnte Marschthema, welches wiederum selbstverständlich eine Bewegung von Menschen abbildet. (Dieses Thema ist mit den Maiumzügen der Arbeiter in Verbindung gebracht worden und hört man weiter in den Verlauf des Satzes herein, so bestätigt sich dieser Eindruck, insofern man in der Durchführung gezeigt bekommt, wozu dieser zunächst ganz harmlos klingende Marsch in der Lage ist: Er formiert sich zu einem Angriff.) Dieser eindeutig den Menschen zugehörige Teil wird aber immer wieder durch eben die seltsame naturalistische Einleitung unterbrochen. Pan muß immer wieder erwachen, bevor das Gesindel dem eigentlichen Geschäft gewachsen ist. Der mit Nymphen und Satyrn umgebene Pan ist für seine Wollust bekannt und kann allgemein für das Triebleben der Menschen genommen werden: Das Proletariat muß sich erst recken und strecken, es muß erwachen.
Das daraufhin erscheinende und sich formierende Gesindel wird von Mahler mit dem einziehenden Frühling assoziiert und die schließliche Kollision wird als Kampf des Sommers mit dem Winter umschrieben: „Natürlich geht es nicht ohne Kampf mit dem Gegner, dem Winter, ab; doch er wird keck und leicht über den Haufen geworfen. Der Sommer ist als Sieger gedacht, – inmitten alles dessen was das wächst und blüht, kreucht und fleucht, wähnt und sehnt“. Wenn man auf Märchen steht, so ist auch dies leicht mit der von Sollertinski angebotenen Deutung vereinbar; Man kann Arbeiterunruhen natürlich mit einem Sommergewitter vergleichen. Allerdings bleibt Floros auf der Ebene der von Mahler angebotenen Metaphern stehen und stellt so das Gegenteil von Sollertinski dar.
Theodor W. Adorno. Mahler. Eine musikalische Monographie. Adorno ist Autor des unbestritten reichhaltigsten Werkes über Mahler. Floros und mehr noch der gleich noch zu erwähnende Gielen scheint vieles hier entnommen zu haben. Ärgerlicherweise entbehrt dieses Buch jeder klaren Argumentation und Adorno hat sich zu viel auf einmal vorgenommen. Man braucht eine gute Kenntnis des Mahlerschen Gesamtwerks oder aber man ist gezwungen, über ganze Abschnitte hinwegzulesen. Vollständige Beschreibungen einzelner Werke finden sich gar nicht, verstreut immerhin Beschreibungen einzelner Sätze bzw. einiger Abschnitte aus diesen.
Prinzipiell findet sich alles, was wir bei Sollertinski sahen, auch hier wieder: Adorno nennt Mahler einen „sozialistischen Realisten“ Er assoziiert mit seinen Werken frei das Proletariat, welches „unter die Räder kam, die Last zu tragen hat und daran zu jenem Gegendruck erwacht, den die coinicidentia oppositorum von Mahlers Musik zusammendenkt mit dem utopischen Sprengstoff.“ Wir haben hier dieselbe Fabel. Allerdings findet sich genauso umgekehrt die Ansicht, daß Mahler „den Faschismus um Dezennien vorauswitterte“: „In Mahler dröhnt ein Kollektives, die Bewegung der Massen etwa so wie noch im erbärmlichsten Film für Sekunden die Gewalt der Millionen, die damit sich identifizieren. Schaudernd macht Mahlers Musik selber sich zum Schauplatz kollektiver Energien.“ Sicher gibt es viel Brutalität in Mahlers Sinfonien und einige Stellen erinnern an Filme wie Spartakus von Kubrick, aber es werden – hier wie dort – die Märsche der Sklaven, der lebendig werdenden Toten dargestellt und nicht die Märsche der Weltkriege. Diese Verwirrung ist sehr verbreitet.
Die eigentliche Stärke des Werkes von Adorno ist auch nicht die Kenntlichmachung der allgemeinen Fabel, sondern deren Aufspüren in den Details der Musik. Hier finden sich erste Ansätze, formelle Aspekte der Mahlerschen Musik mit dem verhandelten Gegenstand zu vermitteln. Insbesondere gibt Adorno zahlreiche Begriffe an die Hand, die es ermöglichen, über Musik zu sprechen. Mahlers Musik changiert zwischen disziplinierten Ausbruchversuchen, bei denen die aufgebaute Spannung in regelrechtes Chaos explodiert, und vollständiger Suspendierung aller Disziplin in utopischen Perioden der Sammlung und Ruhe. Adorno benennt diese Momente mit Durchbruch und Suspension. Leider gelingt Adorno die Vermittlung von Form und Inhalt kaum und man hat einerseits recht blumige und teilweise sehr subjektive Bilder, die ihm bei einzelnen Stellen in den Sinn kamen – z. B. ein Kutscher, der seine Pferde mit der Peitsche antreibt, um sein Gefährt in letzter Sekunde doch noch ans Ziel zu bringen, und andererseits relativ genaue Beschreibungen des musikalischen Geschehens – Tonartenfolgen, Konstruktionanalysen etc..
Michael Gielen, Paul Fiebig. Mahler im Gespräch. Die zehn Sinfonien. Der verdienstvolle Dirigent Gielen plaudert mit Fiebig über die einzelnen Sinfonien. Die Gespräche versuchen, Laien die Musik verständlicher zu machen und haben daher einen gefälligen Stil. Allgemein überwiegt in dieser Hörweise der düstere Mahler. Gielen hört oft „Märsche in den Krieg und in den Tod“: „Beim ersten Satz der Fünften Mahler stelle ich mir vor, wie die armen böhmischen Soldaten in der k.u.k. Armee geschunden werden und als Kanonenfutter verbraucht werden, aber das ist ja sogar viele Jahre vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben.“ Solche Hörart nimmt die Musik sehr positivistisch auf und mißversteht sie bei aller Detailkenntnis um 180 Grad. Man erfährt dafür viel aus dem Orchesterleben und über die musikalische Form der Stücke. Seit Adorno obligatorisch, wird außerdem das positive Ende der ersten, fünften und siebenten Sinfonie getadelt und die Zentralität der dritten, sechsten und neunten Sinfonie herausgestrichen. Insgesamt ist das Urteil ehrlich und gerecht. Das Buch ist aber eigentlich zu teuer, um es zu erwerben.
Arnold Schönberg. Gedenkschrift für Mahler. Schönberg hat eine glühende Eloge auf Mahler geschrieben. Er appelliert an Herz und Hirn der Jugend, sich diesem Revolutionär zu widmen. Schönberg ist der Meinung, man solle Mahler am besten hören und fühlen, dann würde der Rest schon klar. Er versucht dann aber doch, Mahler inhaltlich anzupreisen, und widerlegt einige der gängigen Vorurteile seiner Zeit. Hauptsächlich schafft er es ganz gut, seinen eigenen Eifer zu übertragen. Er sagt: „Ein Apostel der nicht glüht, predigt eine Irrlehre“, und tatsächlich glüht Schönberg. Der Essai ist frei von Tadel und insbesondere das oft gescholtene Finale der Siebenten findet seine Zustimmung. Stärker als alle anderen Rezipienten bemerkt er, daß die Mahlerschen Sinfonien bei aller Dämonie doch auf ein irdisches Himmelreich hinauswollen. Schönberg selbst hat die Musik aus der Herrschaft des Grundtons befreit und im Rahmen dieser Revolution einige ungeheuerliche Triebe freigelegt. Schönberg war es völlig fremd, diesen u.a. von Mahler vorbereiteten Vorgang mit den Menschheitsverbrechen jener Tage zu verbinden. Er sieht in den Mahlerschen Sinfonien die Zukunft und vergißt dabei sogar, daß die Sinfonien eher vom möglichen Übergang in eine Zukunft handeln. Schönberg ist – gebannt in die Sphäre der Musik – so beseelt von einer Gesellschaft ohne Zwang, daß er in Mahlers Musik das Abbild der Erlösung sieht: „So werden wir einst sein, wenn wir uns durchgerungen haben. Das Genie leuchtet voran, und wir bemühen uns nachzukommen. Dort, wo es sich befindet, ist’s schon hell; aber wir können diese Helligkeit nicht vertragen. Wir sind geblendet und sehen nur eine Wirklichkeit, die noch keine ist, die nur Gegenwart ist.“ Er befindet sich dabei ganz in klassischer Tradition, nach der gerade realistische Kunst immer über die Gegenwart hinausgehen soll. Gute Kunst ist Avantgarde! Sie besteht gerade darin, die Wirklichkeit ein zweites Mal vorzustellen, nur diesmal in der Version des Künstlers. So sagte Schiller: „Erhebet euch mit kühnen Flügel / Hoch über euren Zeitenlauf! / Fern dämmre schon in eurem Spiegel / Das kommende Jahrhundert auf!“
Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke. Luxemburg schreibt nicht über Mahlersche Musik. Überhaupt gab es innerhalb der wirklichen revolutionären Bewegung wenig Berührungspunkte mit Musik. Darauf kommt es hier aber nicht an. Luxemburg reflektiert die Arbeiterbewegung und insbesondere die russische Revolution von 1905-07 unter dem Gesichtspunkt der Spontaneität der Massen. Sie – als eine der wenigen – denkt Revolution als Chaos gegen den Kadavergehorsam und die alte Ordnung. Daher finden sich bei ihr Beschreibungen und Antizipationen von wirklichen Kämpfen, auf die man die Mahlersche Musik beziehen kann; sie haben beide denselben Gegenstand und daher besteht eine innere Verwandtschaft.
Rosa Luxemburg war dabei Materialistin genug, den Menschen als Naturwesen zu begreifen; selbstverständlich greift sie bei der Beschreibung revolutionärer Prozesse auf teilweise brachiale Naturmetaphern zurück: „In allen revolutionären Ausbrüchen wälzt die glühende Lava zunächst noch allerlei Schlamm aus der Tiefe an den Rand des Kraters.“ Analog zu Mahlers Assoziation des Arbeiteraufstandes mit dem einziehenden Frühling vergleicht Luxemburg denselben mit einem „Frühlings- und Sommergewitter“ oder mit einem „Elementargewitter“. Indem Mahler den Stoff naturalisiert, bekommt er mehr musikalische Handhabe. Bei ihm tritt dieser Aspekt daher teilweise in den Vordergrund. (Der Kopfsatz seiner Vierten klingt z. B. wie eine Dschungelrevolution der Affen.) Bei Luxemburg werden die elementaren Naturerscheinungen nur am Rande gebraucht, um gewisse elementare Aspekte des Arbeitersaufstandes zu illustrieren.
Näher beschreibt Luxemburg aber die Aufstandsdynamik ihrer Zeit. Sie begreift die Revolution nicht als ein vom Himmel fallendes Ereignis, sondern als einen widersprüchlichen Prozess: „Die verschiedenen Unterströme des sozialen Prozesses der Revolution durchkreuzen einander, hemmen einander, steigern die inneren Widersprüche der Revolution, im Resultat beschleunigen und potenzieren sie aber damit nur ihre gewaltigen Ausbrüche.“ Tatsächlich übernehmen bei Mahler die einzelnen Instrumentengruppen die nämliche Dynamik, indem sie sich durchkreuzen, hemmen, steigern, um sich dann immer wieder zu Explosionen und Ausbrüchen durchzuringen, abzuebben und von neuem anzusetzen. Egal wie fürchterlich die Niederlage gewesen sein mag – und Mahler versteht es, den ganzen Jammer und Schmerz solcher Niederlagen erklingen zu lassen – immer bäumt sich urplötzlich das Orchester wieder auf, ganz als sagte er: „‚Ordnung herrscht in Berlin!‘ Ihr stumpfen Schergen! Eure ‚Ordnung‘ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ‚rasselnd wieder in die Höh’ richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“
Subjekt der Mahlerschen Sinfonien
Es bleibt die Frage der Gewalt. Mahler war hier Realist, indem er den Stoff der Welt aufnahm und aus diesem seinen alternativen, utopischen Entwurf formte. Alle Gestalten sind von den Verhältnissen deformiert und auch die Aufstände kommen selten ohne Pauken und Trompeten aus. Man muß aber zwischen revolutionärer und reaktionärer Gewalt unterscheiden. Adorno kommentiert eine Stelle aus dem Kopfsatz der Sechsten Sinfonie, „wo der blinde gewalttätige Marsch der vielen dazwischenfährt: Augenblicke des Zertrampelns“ und meint hier die SA am Werke zu sehen. Tatsächlich bricht der Hauptmarsch an der gemeinten Stelle inmitten der Durchführung brutal in eine Idylle ein und Mahlers Musik ist durchtränkt von solchen Schocks, aber man hat es hier eher mit einem Teil der revolutionären Dynamik zu tun als mit dem Feind: Mahler gönnt inmitten eines Gefechtssatz dem Hörer wie seinen Tönen eine Auszeit. Die Musik zieht sich ganz ins Subjektive zurück, alle Anstrengung und Disziplin wird suspendiert. Die Sache ist zart, aber weltfern. Der einbrechende Marsch ist einfach die wirkliche Bewegung, die nach ihrer kurzfristigen Suspension jäh zurückkehrt, ohne daß die Individuen wirklich für die von ihr gesetzten Zwecke in der Lage sind; der Einbruch klingt schroff, führt aber zu neuen revolutionären Explosionen innerhalb des Gefüges. Adorno selbst erkennt dieses Fatum in besseren Passagen seines Buches an. So wird im fürchterlichen Höhepunkt der sechsten Sinfonie der Aufstand durch Ruten angepeitscht und er kommentiert: „Der große Rhythmus der Durchführung wird selber einer von Notwendigkeit und Freiheit. Jede Anspannung wird gewissermaßen belohnt. Auch die Gasse der Freiheit ist kein Naturschutzpark“
Hieraus erhellt sich ein Teil der Kompositionsweise Mahlers. Er hat keine naturalistischen Schlachten komponiert, nach der Art, daß erst die Maidemo ihren Platz hat, dann die Polizei auffährt und schließlich die Menge von Knüppeln auseinandergetrieben wird. Eher scheint es so, als ob sich Mahler mit der Darstellung der Bewegung der Unterdrückten begnügt hätte. Das, wogegen sich diese Bewegung richtet, erscheint nur negativ an dieser Bewegung selbst. Die Mahlerschen Individuen und Kollektive sind durch die Wundmale der Zeit gebrandmarkt. Oft erklingen die Aufbegehrenden zunächst isoliert; bevor sie sich exponieren dürfen, müssen sie erst eine Phase der Sammlung durchlaufen. Mahler trägt hier dem Umstand Rechnung, daß die Gesellschaft durch ihr ureigenes Prinzip in lauter Atome zerfällt und es daher den Unterdrückten äußerst schwer fällt, überhaupt zu einer Einheit zu finden. Die feindliche Macht ist also keineswegs abwesend und sie ist sogar die stärkere Seite. So hervorragend Mahler seine Leute ins Gefecht führt – es gibt bezaubernde Übergänge, durch die innerhalb kurzer Zeit die Zweisamkeit etwa einer Geige mit einem englischem Horn sich zu einem Fest ausweitet und dieses Fest dann unversehens zu einem geordneten Aufmarsch mutiert –, wenn die Schlacht dann losgeht, zeigt sich, daß die Schlachtreihen noch zu schwach sind. Im Moment des Zusammenpralls überläßt Mahler die Töne weitgehend sich selbst, oft bricht Panik aus, die Instrumente schreien, werden erdrückt, sammeln sich zu improvisierten Gegenschlägen, werden abgetrieben, vollständig aufgerieben etc. pp. Bemerkenswert ist dabei aber eben, daß die Gegenseite ihrerseits nicht personifiziert wird. Das Böse wird nicht positiv gezeigt und wenn es obsiegt, so setzt bei Mahler lieber vollständige Stille ein, als daß die Truppen der Konterrevolution auftrumpfen dürften. Der Schlußsatz der Sechsten z.B. endet mit einer vollständigen Niederlage und verklingt mit einer fahlen Unterhaltung der Baßtuba mit den Posaunen und Hörnern.
Dynamik
Nach Rosa Luxemburg kann die Revolutionierung der Produktion nur aus einer Serie von vorbereitenden Aufständen erfolgen: „Die Moskauer Ereignisse zeigen zugleich im kleinen Probebild die logische Entwicklung und die Zukunft der revolutionären Bewegung im Ganzen: ihren unvermeidlichen Abschluß in einem allgemeinen offenen Aufstand, der aber seinerseits wieder nicht anders zustande kommen kann als durch die Schule einer Reihe vorbereitender partieller Aufstände, die ebendeshalb vorläufig mit partiellen äußeren ‚Niederlagen‘ abschließen.“ Man kann das Mahlersche Gesamtwerk als Schilderungen solcher partikularen Aufstände aufnehmen. Alle Sinfonien handeln im Prinzip vom gleichen Thema und jede fußt auf der vorherigen. Der allgemeine und offene Aufstand im Finalsatz von Mahlers sechster Sinfonie wird durch die ersten Sätze dieses Werks genauso vorbereitet, wie durch die Kämpfe der ersten fünf Sinfonien. In jeder dieser Sinfonien gibt es wieder zahlreiche Durchbruchversuche, immer wieder läßt Mahler sich seine Instrumente assoziieren, immer wieder brechen sie nach vorne, werden versprengt, sind dem Weltlauf ungebrochen ausgesetzt, jammern, sammeln sich neu. Die Rebellionen gegen den Weltlauf verlaufen selbst zyklisch.
Rosa Luxemburg beschreibt die Dynamik dieser Kämpfe unter dem sehr frischen Eindruck der von ihr besuchten russischen Revolution von 1905 mit folgenden Worten: Der Massenaufstand „eröffnet plötzlich neue, weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpaß geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen.“ Man braucht nur die hier verwendeten politischen Begriffe durch musikalische Pendants zu ersetzen und erhält eine fiktive Beschreibung der durch Mahler niedergeschriebenen musikalischen Bewegung: „Die Weckrufe der Hörner und Klarinetten, die Fanfaren der Trompeten und Triller der Flöten, die lyrischen Intermezzi und besinnlichen Choräle, die Fugatoangriffe der Celli, das Getöse des Blechs, das Geschrei des Holzes und der Ausbruch einer Baßtube, die Märsche, Kollisionen und Explosionen des ganzen Orchesters – alles läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen.“. Oder in Mahlers eigenem Kommentar: „Das Publikum – o Himmel – was soll es zu diesem Chaos, das ewig aufs Neue eine Welt gebärt, die im nächsten Moment wieder zugrunde geht, zu diesen Urweltsklängen, zu diesen sausenden, brüllenden, tosenden Meer, zu diesen tanzenden Sternen, zu diesen verathmenden, schillernden, blitzenden Wellen für ein Gesicht machen. … Die Beweglichkeit und Wechselhaftigkeit der Motive darin ist dem spielenden Wasser einer Stromquelle vergleichbar, wo in jedem Augenblick die Millionen Tropfen andere sind. Das rast in einem ununterbrochenen Wirbel dahin, kaum die Erde berührend, immer höher sich erhebend und zum Himmel aufschäumend, nur durch den Widerstand, den die starre Materie in Stein und Felsgeröll des Strombettes entgegensetzt, hie und da plötzlich auf- und angehalten.“
Apokalypse
Die erste Arbeiterbewegung zur Zeit der II. Internationale hatte ein gewisses messianisches Vertrauen in eine letzte Schlacht, durch die dann das private Eigentum abgeschafft und der Himmel auf Erden errichtet werden sollte. Alles Muskelanspannen bloß partieller Kämpfe galt, zumindest der revolutionären Theorie, weniger deren unmittelbaren Zielen, als daß sich die Arbeiter für dieses letzte Gefecht rüsten sollten. Die Arbeiterbewegung sollte nach Kautsky in „einen Kampf auf Leben und Tod“ kulminieren; „einen Kampf, der unsere Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und unsere ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt“. Luxemburg spricht von „jenem apokalyptischen Massenstreik, bei dem die stärksten Eichen krachen, die Erde berstet und die Gräber sich öffnen.“ Die kommunistische Revolution wurde so als Auferstehung des Gebeins gefaßt.
Auch Mahler war vollständig beseelt von dieser jüdisch-christlichen Idee der Erlösung: Seine Märsche haben oft die Assoziation von „Totenmärschen“ geweckt, seine Tänze die von „Totentänzen“; schon die zweite Sinfonie ist mit „Auferstehung“ überschrieben. Im Finale der Sechsten ist es dann soweit: Die Töne rüsten sich für das letzte Gefecht. Der Satz bildet den Höhepunkt des Werkes; Mahler bietet alles auf, was er hat, es kommt zum „großen Kladderadatsch“ (Bebel). Es hatte eine solche Zuspitzung in der Musik bisher nicht gegeben und zumindest in dieser epischen Breite (er dauert beinahe eine halbe Stunde) konnte er auch danach nicht wieder komponiert werden (sieht man mal vom Tanz ums goldene Kalb in Schönbergs Moses und Aaron ab). Allerdings schaffen es die Töne genausowenig wie die Arbeiter damals und die Sache endet mit einer gewaltigen Niederlage. „Es soll noch Kampf und Lärm weiter sein. Wir sollen noch weiter kämpfen und ringen, sehnen und wünschen. Und es soll uns weiter versagt sein.“ (Schönberg)
Der Satz ist lang und dicht, aber da Exposition, Durchführung und Reprise durch eine leicht erkennbare Einleitung getrennt werden, die jeweils in einer Variation wiederkehrt, und sich außerdem die Durchführung durch sehr markante Orchestermittel (Hammerschläge und Generalpause) übersichtlich gliedert, ist er trotzdem überschaubar. Mahler gönnt seinem Material in der wiederkehrenden Einleitung einige Zeit zum sammeln. Das Stück geht durch eine längere Periode der schüchternen Assoziation zunächst nur für sich daseiender Fetzen hindurch. Inmitten dieser Einleitung ertönt ein Choral zunächst nur der Holzbläser, dann aber immerhin vom Blech erhört. Nach ihm setzt die Sammlungsbewegung vom neuen an, um sich aber diesmal sukzessive zu einem Marsch zusammenzusetzen, als dessen Teile sich im Resultat einige der Fetzen erweisen. Durch diese Kompositionsweise ist das Hauptthema quasi schon bekannt, wenn es zum ersten Mal gespielt wird. Diese Introduktion ist – im Gegensatz zum oben behandelten Kopfsatz der Dritten – sehr individuell gehalten. Hier ist kein Mythos komponiert, wie der des erwachenden Pan, sondern bereits ein musikalisches Abbild wirklicher Menschen. Anders als im Kopfsatz der Dritten scheinen die Akteure außerdem bereits zu wissen, was ihnen blüht. Der schließlich die Exposition eröffnende Hauptmarsch ist kein fröhlicher Maiumzug, sondern aggressiv und bereits zielgerichtet, es kommt einem eher der Begriff Bolschewisierung in den Sinn als der des Frühlings. Die erste Schlacht wird dann auch schon in der Exposition angedeutet, welche von einem kurzen Seitensatz abgeschlossen wird. Die Durchführung wird, wie gesagt, wieder durch eine Variante der Einleitung vorbereitet. Die Revolution bekommt ihre kleinen Ruhephasen, wenn es auch kaum Momente der Suspension gibt. In drei Wellen werden danach die Schlachtformationen losgelassen. Dazwischen gibt es wieder ruhige Passagen des Schmerzes und Abschieds, aber sehr kurz gehalten und die Entwicklung kaum bremsend. Zweimal wird das gesamte Orchester von einem Hammerschlag getroffen und bäumt sich auf (Erste und Dritte Welle) Im Klimax (zweite Welle) entlädt sich nach einer Generalpause die aufgebaute Spannung in einem verzweifelten durch Ruten und Trommeln angetriebenen Marsch. Es hilft aber alles nichts, die Reihen halten dem Druck nicht stand und die Einleitung mit ihren isolierten Glocken und dumpfen Motiven bricht schließlich wieder herein; die Scheiße geht von vorne los. Statt aber daß die Sache gelaufen wäre, taucht aus dem Nichts eine Sologeige auf, macht der Menge wieder Mut. Der Choral erklingt von neuem, mit gesteigerter Kraft und es kommt urplötzlich zu einer letzten verzweifelten Eruption in der Reprise, die wie eine zweite Durchführung klingt und endgültig alle Kraft verbraucht. Folgerrichtig ist die Coda knapp gehalten: Die Sinfonie verklingt.
Im tragischen Ende will die bürgerliche Mystik die Darstellung des Todes eines Helden gefunden haben. Tatsächlich kennt Mahlers Werk aber keinen Helden etwa im Sinne des Prometheus im vierten Satz der Eroica von Beethoven. Es gibt hier nur einen kollektiven Held und dessen Sterben ist im übertragenen Sinn die Niederlage der ersten Arbeiterbewegung, ein wenig so, wie es Kautsky befüchtete: „Unsere Organisationen und unsere ganze Macht sind für Jahre hinaus zerschmettert.“ Der Satz ist dann auch u.a. von Adorno als eine auskomponierte Katastrophe gehört worden. Die dargebotene Schlacht – Gielen spricht von „Kriegsmusik“ – ist tatsächlich eine Katastrophe und trotz derbster Anstrengungen gibt es kein Entrinnen. Aber man muß beim Wort Katastrophe in Erinnerung rufen, daß zumindest zur Zeit Mahlers dieser Begriff doppeldeutig benutzt wurde. Kautsky geht in Sozialreform oder Revolution soweit zu sagen, daß „eine Gesellschaft nur durch eine Katastrophe auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben werden“ kann. Mahlers Sechste ist so im doppelten Sinne eine Katastrophe. Einmal die absolute Niederlage und dann die Explosion der alten Welt. Musikalisch betrachtet kann man die Sinfonie auch als Katastrophe der Tonalität auffassen, quasi als Geburtswehen der neuen schwerkraftlosen Musik, die dann nach dem ersten großen Krieg vor allem durch Schönberg erfunden wurde.
Grenzen dieser Interpretation
Mahler war skeptisch, was Programme zu seiner Musik angeht. Er hatte den frühen Sinfonien manchmal welche verpaßt und dann erleben müssen, „auf welch falsche Wege hierdurch das Publikum geriet.“ Allerdings hat er sich nie grundsätzlich gegen den Versuch von Programmen ausgesprochen: „Es wäre auch nichts weiter gegen ein Programm einzuwenden (wenn es auch nicht grade die höchste Staffel der Leiter ist)“. Mahler hat mehrere Einwände gegen Programmusik erhoben. Erstens hielt er fest, daß man keine Musik zu einem gegebenen Programm machen könne. Vielmehr müsse man sich vollständig innerhalb der Eigengesetzlichkeit der Musik bewegen. Zweitens solle man kein subjektives Programm entwerfen: „So sehe ich es als unbefriedigend und unfruchtbar an, zu einem Musikwerk ein Programm geben zu wollen. Daran ändert die Tatsache nichts, daß die Veranlassung zu einem musikalischem Gebilde gewiß ein Erlebnis des Autors ist, also ein Tatsächliches, welches doch immerhin konkret genug wäre, um in Worte gekleidet werden zu können.“ Wichtig ist, daß er eben nicht die unmittelbaren Anstöße zu einer Komposition als ihr Programm verstanden haben wollte. Es geht in der sechsten Sinfonie z.B. nicht um die subjektive Verarbeitung eines individuellen Todes, selbst wenn der Komponist solchen Schmerz durch Komponieren verarbeitete. Aber ein objektives Programm – wie das hier angegebene – fällt nicht unter dieses Edikt. Im Gegenteil gäbe es „von Beethoven angefangen, keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat.“ Er schiebt aber gleich nach: „Keine Musik ist etwas wert, von der man dem Hörer zuerst berichten muß, was darin erlebt ist – respektive was er zu erleben hat. – Und so nochmals: pereat – jedes Programm! – Man muß eben Ohren und ein Herz mitbringen und – nicht zuletzt – sich willig dem Rhapsodien hingeben. Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer!“ Diesem dritten Argument kann man kaum entgegnen und auch Schönberg kommt in seiner Lobesrede auf Mahler zu keinem anderen Schluß, als das es am besten wäre, man würde sich Mahler einfach anhören. Aber ohne Krücken würde das nicht funktionieren und so schiebt auch Schönberg lieber einige Seiten nach, in denen er beweist, was eigentlich unmittelbar klar sein soll.
Das hier angegebene Programm – der Aufstand und die Niederlage der ersten Arbeiterbewegung – ist aber auch seinem Inhalt nach zu kurz gegriffen. Die Arbeiterbewegung wußte mit den Frauen nicht viel mehr anzufangen, als sie zu Männern zu machen; Sie sollten arbeiten und kämpfen. Es fehlt dadurch weitgehend die sinnliche Seite der durchweg streng diszipliniert gedachten Revolution. Lenin z. B. liebte zwar die Sirenenklänge der Musik: „Ich kenne nichts Schöneres als die ‚Appassionata‘ und könnte sie jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik!“, lehnte aber zugleich deren Menschlichkeit ab: „Aber allzu oft kann ich diese Musik doch nicht hören. Sie wirkt auf die Nerven, man möchte liebe Dummheiten reden und Menschen den Kopf streicheln, die in schmutziger Hölle leben und trotzdem solche Schönheiten schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln – die Hand wird einem sonst abgebissen.“ Die Appassionata von Beethoven ist nicht gerade gewaltfrei und auch die Mahlerschen Sinfonien sind es nicht, aber es gibt hier jeweils auch Phasen der Entspannung. Wer den roten Terror anführen will, kann das nicht ertragen. Mahler dagegen erkennt die weibliche Seite der Welt an und komponiert Mars niemals ohne Venus; es gibt bei ihm schöne Adagios, mühsame Einleitungen und lyrische Intermezzi. Bisweilen suspendiert er die Entwicklung; alle Anspannung wird fahren gelassen. Die Musik überläßt sich dann – im Auge des Sturms – vollständig dem Augenblick, bis die Welt oft sehr brutal wieder hereinbricht. Die Mahlerschen Sinfonien spiegeln daher nicht die empirische Arbeiterbewegung, sondern eine utopische Variante derselben: „So werden wir einst sein, wenn wir uns durchgerungen haben.“ (Schönberg)
Franz Hahn, Dirigent und Gesangspädagoge, wurde 1959 im hessischen Butzbach geboren. Schon früh lernte er im dörflichen Chor die Faszination des Singens kennen. Später machte er die Musik zu seiner Profession. Er studierte in Frankfurt, Fukuoka und Heidelberg und erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen. Bei allem Erfolg ist Franz Hahn ein bodenständiger Mensch geblieben. Er züchtet Schafe, schlägt sein Holz selbst und genießt das oberhessische Essen.