Franz Hahn
Wagner oder das Scheitern der Kunst wie deren Aufhebung
Aufhebung vs. Autonomie der Kunst
Der Streit »Aufhebung der Kunst« vs. »Autonomes Kunstwerk« hat keinen Gegenstand. Es gibt keine Kunst mehr. Immerhin gibt es noch Künstler, aber die werkeln vor sich hin, mystifizieren vielleicht einen kleinen Bekanntenkreis, schaffen es als Newcomer manchmal in eine Galerie, auf eine Bühne, in einen Verlag oder auf ein alternatives Festival für zeitgenössische Musik. Dabei wird aber die Kunst weder aufgehoben noch erscheint sie dem Konformismus des Weltlaufs enthoben in einem eigenen, demselben entgegengesetzten Bereich. Es handelt sich mehr um ein Hobby. Wirkliche Kunst ist dagegen nur noch im Museum anzutreffen, als welches auch Konzerthäuser benutzt werden. Oder aber im Antiquariat. Es ist daher klar, dass solche Debatten nur unter Kunstrezipientinnen geführt werden, nicht aber unter sogenannten Künstlern.
Aber scheinbar war da mal was und wo gerade alles drunter und drüber geht und keiner eine praktische Idee hat, wie wir uns aus dem Zustand herausziehen könnten, in den die Menschheit gekommen ist, warum nicht über Kunst reden. Oder über Philosophie. Oder über Religion. Zunächst muss festgehalten werden, dass es sich in allen drei Gebieten um den Versuch der Selbstreflexion der Gattung handelt, egal ob Aischylos in der Orestie den Übergang zum Patriarchat und zur Zivilisation verklärt, Michelangelo versucht das harmonische Muskelspiel zu erfinden oder Feuerbach die Entfremdung der Trias Kunst, Religion, Philosophie loszuwerden trachtet, indem er sie als mystifizierte Gattungsäußerungen benennt, die man auf die Erde holen müsste. Aber diese geschichtlichen Manifestationen menschlicher Reflexionstätigkeit zogen ihre Kraft gerade aus der Entfremdung des Menschen voneinander und von ihrer eigenen Gesellschaft. Nur weil die Gattung in ihren Individuen nicht über ihren eigenen Reproduktionsprozess gebietet, erscheint das Nachdenken über denselben in abgespaltener Form. Alles erscheint doppelt in der falschen Welt: Der gesellschaftliche Reichtum erscheint nochmal als Geld, die gesellschaftliche Assoziation erscheint nochmal als autoritärer Staat über der Gesellschaft, die Not findet keine irdische Abhilfe und flüchtet sich in die Kirche oder die Privatreligion, der Gedanke kann sich nicht praktisch betätige und flieht in die Philosophie, überall blüht die Irrationalität, also flieht sich die Wissenschaft in die formale Logik. Nicht anders bei der Kunst: Die Gestaltung der wirklichen Welt ist von Gesetzen abhängig über die das Künstlerindividuum nichts vermag und so zieht es sich in eine eigene Welt, gestaltet diese anders, möglicherweise freier: »Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre. Nur vermöge der Trennung von der empirischen Realität, die der Kunst gestattet, nach ihrem Bedürfnis das Verhältnis von Ganzen und Teilen zu modeln, wird das Kunstwerk zum Sein zweiter Potenz.« (1)
Autonome Kunst hat also ihre Berechtigung in der gesellschaftlichen Entfremdung seit dem Sündenfall. So klingt das Spiel eines guten Streichquartetts wie ein Gespräch unter vier vernünftigen Leuten. Die einzelnen Stimmen sind gleichzeitig aufeinander bezogen, ergeben so eine harmonische Bewegung und bleiben dabei gleichzeitig gegeneinander freie, selbstständige Stimmen. Die Harmonie erhebt die einzelnen Stimmen in neue Sphären, die Mucken der Stimmführung eröffnen neue harmonische Felder. Das alles sogar in Zeiten, in denen sich höchst selten vier vernünftige Menschen unterhalten. Johannes Sebastian Bach malt flugs Punkte auf Linien und hält andere dazu an, das getreu zu reproduzieren – wobei er ständig Ärger mit Notenkopierern und Musikern hatte. Und so können wir bis heute vernünftige Unterhaltungen nach Art des Bach hören, ohne dabei schon vernünftig zu sein. Gut gemacht ist Kunst so gesehen Avantgarde, indem wir uns erfahren können, wie wir sein könnten oder noch werden. Daher auch die Anforderung an Kunst, autonom zu sein/bleiben/werden. Sie soll sich, filosofisch ausgedrückt, negativ zur empirischen Wirklichkeit verhalten und muss als solche Kraft der Negativität erst einmal für sich einen eigenen Platz beanspruchen, der dann wieder das an sich der falschen Gesellschaft ist und irgendwie zurückwirkt, sich in ihr realisiert – So die Hoffnung: »Erhebet euch mit kühnem Flügel / Hoch über euren Zeitenlauf! / Fern dämmre schon in eurem Spiegel / Das kommende Jahrhundert auf!« (2)
Kunst ist als Avantgarde von der Wirklichkeit entfremdet. Es handelt sich allerdings um Entfremdung von der Entfremdung und damit um die Versöhnung als Potential, wenn man der Dialektik von Negation der Negation folgt. Das wäre aber ein praktischer Prozess: »Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-wider-sprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden.« Die Idee ist dabei, dass, indem die Gattung ihre Probleme realiter löst, die Reflexionstätigkeit der Gattung sich nicht weiter ihrer Grundlage entgegenstellt, das Denken endlich der Kopf der Leidenschaft wird und keine Leidenschaft des Kopfes bleibt. Dadurch würde die Kunst aufgehoben – aber nur, indem die Welt zur Kunst erhoben wird.
Bekanntlich gab es einen facettenreichen, sich lange hinziehenden Versuch, diese Probleme zu lösen und die gesamte Organisation der Gesellschaft umzuwälzen: die erste Arbeiterbewegung. Alle Strömungen, die sich der Aufhebung der Kunst verpflichtet haben, stützen sich bewusst oder unbewusst auf diese wirkliche Bewegung der Produzenten. Alle Versuche weiter an der Autonomie des Kunstwerks festzuhalten ebenso, indem sie das Scheitern dieses Versuches mehr oder weniger klar vor Augen hatten oder oft sogar diesen Versuch ignorierten, der – wenn man das 20. Jahrhundert betrachtet – schon in der Anlage etwas unseriös blieb. Kein Wunder also, dass etwa die französischen Revolutionäre der 60’er Jahre des letzten Jahrhunderts die Aufhebung der Kunst propagierten, solange sie wähnten, sie stünden am Beginn einer Epoche eines neuerlichen Ansturms auf die Herrschaft, während die deutschen Revolutionäre derselben Zeit die museale Kunst als Refugium ihrer Ideen auffassten und den bellenden Studenten der Haupt- und Frontstadt Berlin keine besondere Aufmerksamkeit widmeten. Gegen die, die die Bombe verwalten, helfen keine Barrikaden. Aber das würde zu sehr in die Gegenwart führen. Die hier in Betracht kommende Periode beginnt grob mit dem Revolutionsversuch 1848/49 und endet mit der Niederschlagung der Pariser Kommune. Es handelt sich also u. a. um die Zeit Richard Wagners.
Maiaufstand in Dresden
Wagner war 1849 Kapellmeister in Dresden und beteiligte sich am Rande an der Revolution. Insbesondere traf er mehrmals auf Bakunin, den russischen Anarchisten und fand in ihm und den von ihm geforderten Revolutionären sein Urbild für Siegfried: »Alles war an ihm kolossal, mit einer auf primitive Frische deutenden Wucht. Ich habe nie den Eindruck von ihm empfangen, als ob er besonders viel auf meine Bekanntschaft gäbe, da ihm im Grunde auf geistig begabte Menschen nicht mehr viel anzukommen schien, wogegen er einzig rücksichtslos tatkräftige Naturen verlangte.« Dementsprechend hart scheint Bakunin an der Oberfläche: Als Wagner ihm von seinem Plan erzählt, Jesus von Nazareth zu vertonen, wünscht er nur viel Glück, bat darum Jesus möglichst »schwach erscheinen zu lassen. Im Betreff der Musik riet er in allen Variationen die Komposition nur eines Textes an: der Tenor solle singen: ›Köpfet ihn‹, der Sopran: ›Hängt ihn‹, und der Basso contino: ›Feuer, Feuer‹« . Aber dann spielt Wagner ihm einige Passagen aus seiner jüngsten Oper vor und Bakunin lässt sich erweichen, sagt: »›Das ist ungeheuer schön‹, und wollte immer mehr davon hören.« Ein anderes mal, beim gemeinsamen Abendessen, bei dem sich Bakunin zum Verdruss von Wagners Ehefrau Minna recht unmanierlich betrug, gesteht Bakunin, dass »der einzige Genuß des Lebens menschenwürdig doch nur in der Liebe bestehen könnte.« Man findet hier bereits Wagners Motiv, dass für eine Revolution die rohe Stärke durch die Schönheit und Liebe geläutert werden müsse.
Im Maiaufstand fanden die Aufständischen »in dem russischen Flüchtling Michail Bakunin einen fähigen, kaltblütigen Führer« (Engels). Wagner hat sich immer wieder mit ihm unterhalten und der »mitteilsame« Bakunin hat immer wieder in »höchster Präzession« den Stand der Dinge erklärt und dabei hauptsächlich die unzureichenden, kindlichen Verteidigungsmaßnahmen kritisiert, da die Revolution naiv auf Verhandlungen setzte, während schon die Konterrevolution anmarschierte. Aber immerhin habe »er sich jetzt vor der Polizei nicht mehr zu hüten.« Während aber Bakunin strategische Maßregelungen zur Verteidigung aufstellte, blieb Wagner hauptsächlich Augenzeuge, sah das alte Opernhaus in hellen Brand aufgehen – es war von den Verteidigern aus strategischen Gründen in Brand gesetzt worden. Wagner hatte dort noch vor wenigen Wochen Beethovens Neunte dirigiert. Ein Leutnant begrüßt ihn mit den Worten: »Herr Kapellmeister, der Freude schöner Götterfunken hat gezündet, das morsche Gebäude ist in Grund und Boden verbrannt.« Die Konterrevolution siegte, Wagner floh steckbrieflich gesucht nach Zürich, Bakunin wurde gefangen, später nach Russland ausgeliefert und bis zu seiner Flucht 12 Jahre im Kerker gehalten. (3)
Kunst und Revolution
In Zürich schrieb Wagner ästhetische und politische Essais. Allgemein folgt er der durch Feuerbach angestoßenen materialistischen Mode, widmet ihm den Text Das Kunstwerk der Zukunft und huldigt der Natur. Er behandelt aber auch allgemeine gesellschaftliche Fragen, immer geneigt, »gegen unsere Kunst- und Lebensumstände von Grund aus sich zu empören.« Insbesondere in seiner Schrift Kunst und Revolution geht er der eingangs aufgeworfenen Frage nach, wie Kunst aufgehoben werden könnte. Er geht von der allgemeinen durch die Civilisation verursachten Entfremdung des Menschen von der Natur, seiner Arbeit und den anderen Menschen aus. Die Arbeiter seien nur »Sklaven der Industrie« und die Fabriken böten »das jammervolle Bild tiefster Entwürdigung des Menschen«. Die Arbeit erscheint dem Arbeiter äußerlich, sie »erfreut ihn nicht«, »gilt ihm nur als Mühe« oder »als traurige, saure Arbeit« und vermag ihn daher »nur aus Zwang zu fesseln.« Der Arbeitsprozess sei »ein beständiges, geist- und leibtötendes Mühen ohne Luft und Liebe, oft kaum ohne Zweck« bzw. zum fremden Zweck »jener gebietenden abstrakten Mächte«. Dagegen käme es darauf an, sich im Rahmen allgemeiner Verbrüderung vom »Knecht der Industrie zum schönen selbstbewußten Menschen« zu erheben dem »die Welt gehört«. Die Arbeit solle den Maschinen überlassen werden, »diesen künstlichen Sklaven des freien, schöpferischen Menschen«.
Wagner stellt klar: »Zu diesem Ziele bedürfen wir der allgewaltigsten Kraft der Revolution«. Aber gleichsam weist er der Kunst einen Zweck bei der Vorbereitung dieses Umsturzes zu. Insbesondere sollte man sich unmittelbar darum kümmern, die Kunst von den Mechanismen der Ware-Geld-Beziehung zu lösen. Das Theater solle kostenfrei organisiert werden, »die theatralischen Vorstellungen die ersten gemeinsamen Unternehmungen sein, bei denen der Begriff von Geld und Erwerb gänzlich schwindet«. Quasi als Vorbild der freien Assoziation solle die Kollektivierung der Kunst »allem Übrigen vorangehen«. In diesem Rahmen hat die berühmte Autonomie der Kunst ihren Platz, indem der »wirkliche Künstler« ohne Sorgen »schon jetzt den rechten Standpunkt erfaßt«, um so durch seine Kunst »dem leicht an wilde Klippen und in seichte Flächen abweichenden Strome leidenschaftlicher sozialer Bewegungen ein schönes und hohes Ziel zuzuweisen.« »Dieses Ziel ist der starke und schöne Mensch: die Revolution gebe ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit!« Dabei ist klar, dass »der einsame, nach seiner Erlösung in der Natur künstlerisch strebende Geist« die zukünftige Schönheit nicht vorwegnehmen wird, da dies den »durch das Leben befriedigten« Menschen vorbehalten bliebe, die erst durch die Revolution sich entwickeln. Aber der Künstler, er kann sich die schöne Gattung schon vorstellen und auch, »daß diese Vorstellung nicht nur ein Wähnen bliebe«. Im Verein mit der Revolution würde dann aber schließlich die Kunst im »freien künstlerischen Menschenthume« aufgehoben. Schließlich würden wir »einst so weit alle selbst Künstler sein«. Die Arbeit wird zum Spiel und der »befreite Thätigkeitstrieb sich nur noch als künstlerischer Trieb kundgeben«. Die Kunst würde so in die Gesellschaft zurückgenommen und damit als getrennte Sphäre ihren Sinn verlieren. (4)
Ring
Soweit so pathetisch. Wagner hat nicht weiter an der revolutionären Bewegung teilgenommen, dafür aber an der ästhetischen Seite derselben Bewegung gearbeitet. Insbesondere hat er den Ring geschrieben und daran muss man wohl das oben Umrissene messen. Aber wer hört das schon, schöner Mensch hin oder her: Stundenlange Gesänge zu dichtem Orchesterklang. Andererseits, wer Herr der Ringe oder Star Wars mag wird seinen Spaß haben, zumal wenn man sich nur an den Gesang gewöhnt und dadurch die Gabe bekommt, den immer ulkigen und doppelsinnigen Text zu verstehen. Dann sind das ganz putzige Singspiele. Das kann alles so nützlich und unnützlich sein, wie etwa Marx lesen. Zur Handlung.
Das Ganze geht um den Sündenfall, diesmal als Ring. Der Ring besteht eigentlich aus dem reinen Gold der Rheintöchter, diese scheinbar unschuldigen Wesen aus reinem Es-Dur. Dann kommt Alberich der Zwerg und wird klar übergriffig, kneift den Töchtern in den Po, verliebt sich. Sie machen ihre derben Scherze über den hässlichen Zwerg und er, geknickt, schwört der Liebe ab und nimmt statt dessen ihr Gold, zwingt die Arbeiter (Nibelungen) daraus einen verfluchten Ring zu schmieden und fortan ist die Welt verhext: Der Ring ist los, die Musik beginnt. Er treibt die Bourgeoisie zur Ausbeutung der Zwerge und infiziert selbst die Götter und ihren Staat. Er hat kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung. (Rheingold)
Es ist Zeit für einen Helden. Eine ganze Oper vergeht, damit der Held geboren werden kann und vor allem, damit ihm eine Frau bestimmt wird. (Walküre)
Dann kommt der Held. Er ist Waise, wird von Mime dem Zwerg aufgezogen. Der ist nett, kocht ihm Suppe, kann singen, aber Siegfried findet ihn schwach, hetzt einen Bären auf den Zwerg und kann nicht singen. Er wird paranoid, glaubt Mime wolle ihn vergiften und erschlägt den Zwerg. Dann erschlägt er einen Drachen, der aus irgendeinem Grunde auf dem Ring sitzt. Er ist also stark, aber ihm fehlt die Schönheit und da zwitschert sein Vöglein ihm, dass hinter einem Feuerring auf einem Berg Brunhilde wartet. Er ist voller Tatendrang und will auch diese Aufgabe meistern und durch das Feuer gehen. En passant zerstört er noch »der Herrschaft Haft«, nämlich Wotans Speer. Dann dringt er kühn durch ihren Feuergürtel. Bis dahin war für ihn alles nur ein Abenteuer und eine Probe seiner Kraft, bis er Brunhilde sieht und er von ihrer Schönheit dermaßen geblendet wird, dass er zum ersten Mal in seinem Leben aus der Fassung gerät: »Das ist kein Mann – – / Brennender Zauber / zückt mir ins Herz; feurige Angst fasst meine Augen: mir schwankt und schwindet der Sinn! – / ... / Im Schlafe liegt eine Frau: – / die hat ihn das Fürchten gelehrt! –« Sie singen zusammen auf die Liebe und die Stärke Siegfrieds ist durch die Schönheit Brunhildens geläutert. (Siegfried)
Und jetzt? Organisation der Nibelungen, indem sie alle im Kampf stark und in der Liebe schön werden und dann die Kunst im Leben verwirklichen? Weit gefehlt. Wagner ist seinen Jugendflausen entwachsen und hat irgendwann festgestellt, dass der große revolutionäre Weltbrand ausbleibt. »Das Auffallendste in diesem Bezug« – schreibt er in einem Brief – »mußte ich endlich an meiner Niebelungendichte erleben. Ich gestaltete sie zu einer Zeit, wo ich mit meinen Begriffen nur eine hellenistisch-optimistische Welt aufgebaut hatte, deren Realisierung ich durchaus für möglich hielt, sobald die Menschen nur wollten, wobei ich mir selbst über das Problem, warum sie eigentlich doch nicht wollten, ziemlich kunstreich hinwegzuhelfen suchte.« (5) Er liest Schopenauer und verliert diese Hoffnung. »Keiner von uns soll das gelobte Land sehen; wir werden alle in der Wüste sterben.« (6) Für die Pariser Kommune hat er nur Spott übrig, vielleicht erinnerte er sich an Bakunins Sprüche über die Naivität solcher Revolutionsbemühungen. Das ist der biographische Hintergrund für die Götterdämmerung, in der es schlicht keine Nibelungen gibt. Siegfried verlangt es zwar nach neuen Abenteuern, da die Ehe mit Brunhilde dann nach einer Weile etwas unbefriedigend ist. Aber statt dass sie gemeinsam ihre Befriedigung in der Organisation der kollektiven revolutionären Inbesitznahme der Industrie suchten, zieht er alleine aus und verliebt sich prompt in die nächstbeste Frau. Brunhilde wird unglaublich eifersüchtig, allerlei Intrigen finden statt und am Ende ist Siegfried tot und Walhalla brennt: Die Herrschenden können nicht mehr und die Beherrschten können auch nicht. Die Welt fließt in den Abgrund. Vorhang. Applaus. – (Also nach Libretto geht das am Ende etwas anders. Aber ich denke, so sollte es besser sein.)
Musik
Der Sinn eines Musikstück ergibt ich aus der Musik selbst. Aber wie will man darüber reden. Hier nur einige Gedanken.
Wagners Musik ist nicht besonders reich an pathetischen Aufmärschen. Insbesondere der bekannte Walkürenritt ist nicht besonders charakteristisch. Ebensowenig ist die einfältige Verklärung der Natur besonders charakteristisch und so ist etwa die harmonisch mit sich selbst identische Einleitung des Rheingolds auch nicht besonders stilbildend, wenn man sich über diese auch leicht lustig machen kann. Die Oper fängt letztlich erst mit dem Auftreten von Alberich an, der etwas Farbe ins Leben der jungen Schönen bringt. Die körperliche Liebe oder vielmehr das Verlangen nach ihr ist musikalisch bestimmend und dementsprechend eine wabernde, ambivalente Harmonik. Die starke Tonalität ist nicht mehr, sie wird von den bisherigen Nebenklängen erobert. Im Ring oft noch als äußerlicher Dualismus, im Tristan schon immanenter.
Die Musik verdichtet sich zum Feld, die einzelnen Stimmen treten zurück. Dadurch gewinnt das Orchester an Kraft und bildet die materielle Basis der Sängerinnen und ist nicht einfach Begleitung sondern gleichberechtigt: es gibt bei Wagner keine Arien. (Gewissermaßen die feuerbachsche Wendung in der Oper.) Die einzelnen Stimmen in der Orchesterbegleitung verlieren sich dabei im Orchesterkollektiv. Bei aller durch neuartige Harmonien und seltsame Klangfarben ausgedrückten und aufscheinenden Sehnsucht ist Wagner darin grob. Die Stimmen weben sich nicht individuell und gegenläufig zu Harmonien zusammen. Die Individuen werden nicht durchs Orchester dargestellt, sondern in einzelnen Charaktermasken mit ihren endlosen Gesängen. Dabei ist Wagner gut darin, seine Musik unvermerkt allerlei Seelenstimmungen und -verstimmungen durchlaufen zu lassen, von der »leuchtenden Liebe« zum »lachenden Tod«.
Antisemitismus
Man muss dazu sagen, dass Wagner Antisemit war. Er schrieb bereits 1850 eine antisemitische Schrift und ist auch als Antisemit gestorben. Wagner hat weder die gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaut, noch sich jemals der damals keimenden Idee einer organisierten Aneignung der Mittel der Produktion gestellt und so kam er über die Schimpferei gegen die alles beherrschenden abstrakten Kräfte kaum hinaus. Gegen diese wiederum ist sein Siegfried nur Trotz und nicht geeignet den kräftigen Handwerkersozialismus herbeizuführen, den er in Jugendjahren sich ersehnte. Das ahnend schreibt er schon 1850 entsprechend frustriert an einen Bekannten über die Revolution: »Mit völligster Besonnenheit und ohne allen Schwindel versichere ich Dir, daß ich an keine andere Revolution mehr glaube, als an die, die mit dem Niederbrande von Paris beginnt. ... Laß einmal sehen, wie wir uns nach dieser Feuerkur wiederfinden. ... Sieh, wie einer Wasserkur – um unsre Leiber gesund zu machen, haben wir einer Feuerkur nötig, um die uns umgebenden Bedingungen unsrer Krankheit zu heilen, d.h. zu vernichten.« Soviel zur Möglichkeit einer »hellenistisch-optimistischen Welt«.
Vielleicht hätte er zum wissenschaftlichen Sozialismus fortschreiten sollen, aber dann hätte er sicher keine Musik mehr machen können. In dieser herrschen bei ihm nämlich ebendiese unverstandenen Kräfte, als er seine neuen und damals auch misstrauisch beäugten bzw. beohrten Harmonien eher experimentell entwickelt hat, ohne ihrer so recht Herr zu werden. Das soll hier am Beispiel der Tristan-Harmonik mit ihrem berühmten Tristanakkord ausgeführt werden, wobei ich nur den Anfang der Einleitung eines Klavierauszuges genau gelesen habe, der allerdings vom harmonischen Verlauf soweit noch stimmen sollte. Die Gelehrten sind sich über all das scheinbar nicht einig und auch ich übernehme kein Gewähr.
Wissenschaftlich betrachtet gibt der Tristanakkord nicht unbedingt Sinn. Er hat über einen Grundton zwei kleine Terzen und dadurch eine Teufelsquint und dazu noch eine Sept zum Grundton. (Etwa F-Gis-H-Dis) Er ist allerdings als Klang dem tonalen Geflecht nicht völlig fremd und erscheint als Septakkord der siebten Stufe von Dur, aber Wagner benutzt ihn nicht als Septakkord der siebten Stufe, sondern in anderen, vielleicht neuen Zusammenhängen. Jedenfalls gefällt der Klang dem Ohr, wohl gerade weil darin der Widersacher als charakteristisches Intervall zum Grundton auftaucht. Daher gefällt ja auch der Dominantseptakkord ohne Grundton, weil dadurch der Tritonus zwischen Terz und Sept betont wird. Die für das Gehör einfachste Ausflucht ist es dann, den Grundton implizit mitzuhören und erschöpft eine Quint zu fallen, wobei diese Stufe dann bereitwillig als neue Tonart akzeptiert wird, zumal wenn sie zur Haupttonart in einfacher Beziehung steht. Man kann den Tristanakkord als alterierten verminderten Akkord behandeln: Man läßt dann die Sept einen halben Schritt fallen und hat einen verminderten Akkord mit vier kleinen Terzen, der dann das musikalische Feld verwirrt und gleichzeitig in zahlreiche Richtungen öffnet. Auf diese Weise verwendet etwa Beethoven den Tristanakkord in seiner 18. Klaviersonate. Nachdem die Geliebte ihren Verehrer einige Male hingehalten hat, stellt letzterer seine wiederholte Frage: »Liebst du mich?« im Tristangewand (7) und prompt gerät die Geliebte aus ihrem Trott, hüpft gleich auf zwei Stufen in je zwei Lagen nachdenklich durch nämliche Intervallverbindung, wobei sie sie es jeweils schafft, den ernsten Akkord zum verminderten Klang zu entschärfen, indem sie eben die Sept fallen lässt. Und obwohl am Ende ein Ges7 andeutet, dass dieses Intermezzo auch ernstere Folgen hätte haben können, kennt man dann wieder schon zur Genüge und so springen die Beiden ganz unbeschwert von Fragen und Zweifeln im Seitensatz umher, als ob Mozart Trauzeuge gestanden hätte, bis es wieder anders weitergeht.
Fig. 2: Tristaneskes Intermezzo in Beethovens 18. Klaviersonate. Die Experten sind sich nicht einig, was dieser Ausflug von Es nach Ges und möglicherweise sogar nach Ces eigentlich soll und am Ende gehts glücklicherweise normal weiter. Die im Text erwähnte Entschärfung der Tristanharmonik hat in Takt 36 und 38 statt, sie das es zum d fallen läßt (Müßte m. E. eigentlich eher als eses geschrieben werden) Und dann wieder in Takt 40, 41, in denen sie das f zum e fallen läßt. (Müßte eigentlich als fes geschrieben werden.) Anmerkung einige Jahre später (2023): Die Experten sind sich natürlich einig. Es handelt sich um einen übermäßigen Quint-Sext-Akkord in der Funktion einer Doppeldominante. Das Intervall Ges-E spreizt sich dabei zum Intervall F-F, also zur Dominante.
So leicht kommen Tristan und Isolde aber nicht aus der Verwirrung der Liebe heraus. Bei Beethoven ist das eine Episode, um dann recht abrupt in den überdrehten Seitensatz zu modulieren. Bei Wagner wird er zum Leitklang geadelt, er darf auf verschiedenen Stufen lange und sehr häufig klingen, deutlich länger als die Konsonanzen und Auflösungen und erscheint dadurch als eine Art magisches Siegel dieses Stücks, welches selbst Tiroler zu mystifizieren vermag. (8) Es kommt natürlich auch hier alles auf den Zusammenhang an, in dem Wagner diesen ungewohnten Akkord verwendet, aber klar scheint damals sowohl den Antiwagnerianern wie den Wagnerianern gewesen zu sein, dass die alte Harmoniewelt hier an eine Grenzen gerät.
Genauer: Nach Adorno ist Wagner »vollständig tonal erklärbar«. Ich berücksichtige hier im wesentlichen drei Gesetze der Tonalität. 1. Alles geht um einen Grundton herum, will zu ihm zurück oder harmonisch ausgedrückt, alle Modulationen kreisen um die Haupttonart und wie weit auch immer der Ausflug, am Ende landet man Daheim. 2. Die primitive musikalische Schwerkraft liebt Quintsprünge abwärts. Daraus ergibt sich, dass zu jedem Grundakkord (Tonika) auch dessen Auflösung eine Quint weiter unten (Subdominante) wie dessen Anspannung eine Quint hoch (Dominante) gehört. Grob die drei Akkorde des Punk. Diese Anziehungskraft wird gestärkt, wenn man die Dominante in Dur und mit einer Sept spielt. Dann folgt recht zwingend die Auflösung mittels Quintabfall. 3. Bei allem gibt es wenigstens zwei Geschlechter in der Musik, Moll & Dur. Daher kann man die drei gerade erwähnten Akkorde auch im parallelen Moll spielen. Überhaupt hat man dann in jeder Tonart 6 Akkorde mit bestimmten Verwandschaftsbeziehungen.
Gerne lässt man ein Musikstück mit einer Kadenz anfangen, um die Haupttonart einzuführen oder zu festigen. Sehr einfach wäre Tonika – Subdominante – Dominante – Tonika oder in C-Dur: C – F – G7 – C. Im parallelen Moll wäre das dann a – d – H7 – a, wobei die Dominante in Dur gespielt wird, um ihre Zugkraft zur Ausgangstonart zu verstärken. Abweichend kann man beispielsweise auch die Subdominante durch die dritte Stufe ersetzen, zumal in Moll, da diese dann C ist, der Ehemann von a. Wir hätten dann a – C – E7 – a. Das ist letztlich die tonale Kadenz am Anfang der Tristaneinleitung. Allerdings benutzt Wagner zwei Tricks, um die unterlegte Tonalität zu verstecken. Er verschiebt die Kadenz eine Quint höher und benutzt, um die Spannung zur Urkadenz anzudeuten durchweg Septakkorde: E7 – G7 – H7 – E7. Die Zieltonart wird durch das a im Auftakt angedeutet und am Ende gestreift. Die Doppeldominate H7 wird gestreckt. Letzlich ergibt sich also a – E7 – G7 – H7 – H7 – E7 – a. Formell ist alles weiter korrekt, aber der Charakter der Kadenz verschiebt sich in Richtung Dissonanz mit nur angedeuteter Auflösung. Die musikalische Kraft zieht nach a-Moll, aber a-Moll wird vermieden, der Tristan soll seine Isolde nicht finden. Der zweite Trick ist noch auflösender: Statt des jeweiligen Septakkords benutzt Wagner zunächst einen seltsamen, dissonierenden Gleichklang, eben den Tristanakkord. Den läßt er klingen und dann langsam auf chromatischem Weg in den E7 zu wechseln. Er läßt die beiden Akkorde quasi ineinanderfließen. (9) Danach ist erstmal Pause und der Septakkord wird lustigerweise nicht weiter aufgelöst, was sich dadurch rechtfertigt, dass das Ohr nach seiner Verwirrung durch den seltsamen Akkord hinreichend beruhigt ist, wenn es einen Septakkord hört. Diese Figur wird auf jeder Stufe der Kadenz wiederholt: Immer wieder wird ein Tristanakkord auf jeweils anderer Stufe in einen der Kadenz entsprechenden Septakkord transformiert und dieser dann stehen gelassen, bis Wagner 2 Mal zur Doppeldominante H7 gelangt, um dann formal korrekt über die Dominante E7 kurz nach a-Moll aufzulösen, wenn auch noch ein F mitklingt und die Sache eigenwillig trübt (10). Nach einer weiteren, wesentlich konsonanteren Kadenz mit einem schönen Ausflug nach Es-Dur (11) und einer anschließenden freien Variation/Fortspinnung des Anfangs kommt Wagner tatsächlich in A an, wenn auch in Dur. (12) Aber dieses A, ob nun in Moll oder Dur, es klingt nie lange, der unendliche Strom reißt die Liebenden immer wieder fort.
Fig. 1: Anfang der Overtrüe in Tristan und Isolde (Klavierauszug): Tristanakkorde sind mit Tr gekennzeichnet und in Klammern steht der Grundton, über den er jeweils gebildet ist. Ansonsten sind die Harmonien eingetragen, wobei man bedenken muß, dass sie oft erst nach einem Vorhalt eintreten, meistens auf der zweiten Achtel.
Wagner hat durch diese Harmonieführung einerseits zahllose neue Möglichkeiten angedeutet, aber schlussendlich entpuppt sie sich doch wieder als ein einfaches tonales Konstrukt. Am Ende ist man sogar überrascht, wie einfach das Grundgerüst ist. Die ganze Chromatik ist etwas beliebig, aber sie wirkt als Kleister, um die seltsame Harmonik überhaupt zu bewältigen. Die Dissonanz beansprucht ihren Raum, steht aber weiter im Dienst Konsonanz, der Tristanakkord ist quasi ein Jugendstilornament, ein wenig an den Intervallen geruckelt und schon ist es wieder wie im Lot. Vielleicht kann man sagen, dass seine Dissonanz kaschierte Konsonanz bleibt. Gleichzeitig ist das alte Gefüge der Tonwelt aber bereits genügend durch den romantischen Angriff geschwächt und die unterliegende Tonart wird kaum wirklich je erreicht und damit keine Befriedigung, nicht einmal die tonale Scheinbefriedigung. Darin war Wagner Realist. Auch rhythmisch erreicht er seine Harmoniebausteine nie direkt, sondern durch ständige chromatisch-dissonierende Vorhalte, so dass die Harmonie selten auf dem geraden Taktteil eintritt. Überhaupt muß man sagen, dass die Verwendung von alterierten Akkorden der Tonalitätszersetzung Tür und Tor öffnet, als man dann alles nach Belieben umdeuten kann, vollends, wenn man den chromatischen Kleister verwendet, mittels dem man alle Alterierungen in alle Richtungen verschieben kann, wenn man einmal an den Sound gewöhnt ist. Tatsächlich benutzt Wagner auch zahlreiche Variationen, um seine auf verschiedenen Grundtönen gebildeten Tristanakkorde in irgendeinen harmonisch genehmeren Septakkord einer anderen Stufe fließen zu lassen. (13) In der Tristanharmonik ist Alberichs Angriff auf die Rheintöchter gelungen. Es gibt das tonale Paradies hier von Anfang an nicht mehr und auch kein zurück.
Nur wurde Wagner die Geister die er rief, weder los, noch assimilierte oder gar transzendierte er sie. Als Auflösung aus dem Dilemma gibt es daher die faschistische Reaktion wie im Tannhäuser, den Weltuntergang wie im Ring oder den individuellen Tod wie im Tristan: »In des WeltAtems wehendem All« – »ertrinken, versinken, unbewusst – höchste Lust!« – Es fehlt der Durchbruch in die richtige Richtung und so erscheint die neue Harmonie nur negativ. Man kann sie gewaltsam auswerfen, aber damals war noch kein Terrorregime in Sicht, das diese Wiederherstellung der Tonalität auch hätte leisten können. Oder aber man muss wenigstens offen die Probleme ansprechen und angehen, die es bedeutet, die patriarchalische Tonsitte grundlegend und frei zu überwinden. In Wagners Worten: »Ob der Verfall unsrer Kultur durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elements aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehören müßten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist. Soll dagegen dieses Element uns in der Weise assimiliert werden, dass es mit uns gemeinschaftlich der höheren Ausbildung unsrer edleren menschlichen Anlagen zureife, so ist es ersichtlich, dass nicht die Verdeckung der Schwierigkeiten dieser Assimilation, sondern nur die offenste Aufdeckung derselben hierzu förderlich sein kann.« (Wagner über die Judenfrage) Letzteres ist es, was Wagner harmonisch gesehen versucht hat.
Soviel zu Wagners Antisemitismus. Der bessere Komponist war allemal Brahms. Dieser verblieb mehr in der Tradition, komponierte theoretisch gebildeter und war kein Antisemit. Wenn Wagner die Tonalität eher durch willkürliche Außerkraftsetzung bzw. Verwässerung der Regeln angreift, um dann intuitiv die Musik harmonisch und farblich auf ein breiteres Niveau zu heben, versucht Brahms die immanente Negation der überkommenen Musik. Er knüpft dabei an Beethoven an und ist insofern der Sprengung des Kontinuums verpflichtet. Die Sache erscheint hier geplanter und nachhaltiger. Der Gegensatz zwischen Wagner und Brahms war dabei so fruchtbar wie der zwischen Bakunin und Marx. Gustav Mahler führt beide Linien stärker zusammen, aber erst Schönberg hat einen ersten großen musikalischen Versuch unternommen, das Kontinuum wirklich zu sprengen und das tonale Zentrum zu verlassen, indem er anfing schwerelose Musik zu schreiben. Schönberg hatte mit der Tristanharmonik dann auch kein Problem. (14)
Gedanken
Aber diese Linie führt uns zu weit Richtung Autonomie der Kunst, während gerade der professionelle Dilettantismus Wagners zurück in die Gegenwart führt. Eingangs wurde apodiktisch behauptet, es gäbe keine gegenwärtige Kunst und daher weder die Möglichkeit ihrer Aufhebung noch dieselbe als entrückter Abglanz einer besseren Idee der Menschheit und sei es nur, indem sie zuallererst einmal deren Leiden ins gefühlte Bewusstsein bringt. Aber es gibt natürlich ein schöpferisches Bedürfnis und ergo tausende von Möchtegernkünstlern. Mehr wahrscheinlich als jemals. Von Wagner kann man lernen, dass man es trotzdem versuchen darf. Man darf sich dabei natürlich kürzer fassen, aber das Unvermögen soll nicht abhalten. Autonomie der Kunst zu fordern ist dabei nicht unbedingt zielführend, weil dieses l’art pour l’art leicht dazu missbraucht werden kann, die Weltferne des Künstlers zu kaschieren.
Kunst ist weltlich, hat immer auch die Gegenwart zum Gegenstand. Sie steht nicht alleine und sollte sich mit der politischen oder der theoretischen Radikalität verbünden. Insbesondere braucht man sich nicht fürchten, zum Beiwerk zu verkommen. Wenn die Hobbykritiker ihre Gedanken seitenlang präsentieren und Pseudopraktiker ihre Kampagnen fahren, warum dann nicht die Pseudokunst. Plakate wollen gestaltet, Texte gesetzt und Flugschriften gestaltet sein. Kollektive wie private Räume müssen gestaltet werden, Demonstrationen den Schein der Radikalität sichtbar machen. Tanzfeste müssen gefeiert werden. Natürlich braucht es dafür eine neue experimentelle Kultur und alle, die irgendwie Musik, Dekoration, Bilder, Collagen etc. beisteuern können, sind da ganz recht am Platz. Der ganze Gedankenausdruck bekäme so einen schönen Grund, würde an Kraft gewinnen. Umgekehrt sollte man sich dabei davor hüten, das Gegebene einfach zu verdoppeln. Alle diese ästhetischen Verzierungen können sich auch gegen ihren Inhalt setzen, sei es, dass er schöner dargestellt wird als er ist oder dass er seine eigene Fratze gespiegelt bekommt. Darin würde sich eine gewisse Autonomie durchsetzen, die immer erst entsteht, wenn das Kunstschaffen sich andererseits mit der Realität abmüht.
Der erste Schritt dieser Neuaneignung ist selbstverständlich der vollständige Bruch mit dem bestehenden Kunstbetrieb. Ein Teil der Entstehung der neuen Kunst wird aus der Negation dieses Sektors folgen, in Athen haben Aufständische schon das alte Theater angezündet.
Aber gleichzeitig kann es hilfreich sein, wenn die Scheu vor der Autorität abgelegt wird, die Regeln der Kunst zur Kenntnis genommen werden, die sogenannte Tradition danach durchsucht wird, ob sich brauchbares findet. (Von der Klassik zum Dada.) Ein Dilettant braucht ja nicht ungebildet und faul zu sein und natürlich hat z.B. Wagner sein Fach gelernt. Wer ein Stillleben einer durchzechten Nacht zeichnen will, sollte vielleicht schon mal einige Äpfel gemalt haben. Wer die Musik künftiger Verwirrungen erzeugen will, sollte vielleicht einige elementare Regeln der Tonkunst kennen, ob er die nun am Ende benutzt oder nicht. Dabei muß immer klar sein, dass die Kunst ihrer Aufhebung entgegenarbeitet, sie muss dieselbe in sich tragen, indem sie danach trachtet ihren Gegenstand unerträglich zu machen. Nur so kann das Büro für mentale Randale seine Wirkung entfalten.
Anmerkungen
(1) Adorno, zitiert nach Ernst Bloch (Hrsg.): Totengespräch. Magazin N° 1.
(2) Schiller, zitiert nach Ernst Bloch (Hrsg.): Totengespräch. Magazin N° 1.
(3) Alle folgenden Zitate aus Unterhaltungen mit Bakunin.
(4) Alle Zitate aus Kunst und Revolution und manchmal auch Das Kunstwerk der Zukunft.
(5) Nach Shaw, Wagner-Brevier.
(6) Nach Shaw, Wagner-Brevier.
(7) Ab Takt 33.
(8) http://www.youtube.com/watch?v=ZNxQJ8jQYm0
(9) Das geht auf die eine oder andere Weise immer. Im Grunde kann man einen beliebigen Vierklang chromatisch in einen anderen überführen, z.B. einen in den Harmonievelauf gehörenden konsonanten Akkord. Wenn man sich aber die Töne des Tristans etwas genauer anschaut, gibt es auch Verwandschaftsbeziehungen zwischen dem Tristanakkord über F und E7. Sei es dass man ihn als alterierte Variante unmittelbar von E7 aufgreift, so daß der Tristanakkord eher ein Subsititut für E7 darstellt. Dis und F wären in dieser Interpretation einfach der auseinandergezogene Grundton. Oder, daß man nämlichen Tristanakkord als alterierte Variante der Dominante von E auffasst, also als H7, dann wäre E7 tatsächlich eine teilweise Auflösung. Dann würde man die große Terz H-Dis als charakeristisch nehmen. Aber in Takt 10,11 sind der Verwandschaften schon weniger und trotzdem kommt Wagner Zwanglos nach H7.
(10) Takt 17.
(11) Takt 18 bis 24. Grob: D7 – C – D7 – G7 – C – g – A7 – d – Es – A – dis – H7 – Tristan über dis – cis – E7 – A
(12) Takt 44.
(13) In Takt 2 und 3 ein Tristanakkord über f in E 7 gewandelt. Analog in Takt Takt 6 und 7 ein Tristanakkord über gis in G 7. Das wäre jeweils ein korrespondierender Septakkord eine Halbe Stufe unter dem Grundton des Tristanakkords. In Takt 10 und 11 und nochmal in 12 und 13 fließt dann aber ein Tristanakkord über d nach H7, der Septakkord liegt also diesmal eine kleine Terz tiefer. Dann in Takt 25, 26 und davor schon in Takt 23, 24 fließt ein Tristanakkord über dis nach E7, so daß der Grundton sich einen halben Schritt nach oben verschiebt. Es gibt keine wirkliche Regel, außer eben wahrscheinlich die unterliegende weitgehend tonale Harmonik.
(14) Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 310f. Universal Edition.