Wie kann eine herrschaftsfreie Gesellschaft erreicht werden?
Die Verwirklichung unserer Ideen mag schwierig sein – noch viel unrealistischer ist es jedoch, zu glauben, die bestehende Ordnung könnte die Probleme der Gegenwart auf befriedigende Weise lösen
Euer Ideal einer befreiten Gesellschaft ist schön, aber wie wollt ihr es verwirklichen? Ihr seid doch nur eine winzige Minderheit, die meisten Leute wollen von euren Gedanken nichts wissen und ihr habt es mit einem übermächtigen Gegner zu tun. Ihr mögt sympathische Spinner sein, aber Spinner seid ihr dennoch! – So oder ähnlich reagieren häufig selbst wohlmeinende Menschen, die bereit sind, sich die Gedanken der Anarchisten anzuhören.
Zugegeben: Die Aufgabe, an der wir mitwirken möchten, ist ungeheuer schwierig. Was jedoch den Vorwurf angeht, wir seien verrückt: Wenn es als vernünftig gilt, die bestehende Gesellschaft zu bejahen, trotz all der Katastrophen, die sie fortwährend produziert, trotz des Diebstahls unserer Lebenszeit durch die Lohnarbeit, trotz der psychischen und körperlichen Verheerungen, die diese für so viele Menschen bedeutet, trotz der Kriege, der ökologischen Desaster, der vermeidbaren Hungertoten, des Elends der Flüchtlinge – wenn es trotz alldem als Ausweis von Realitätstauglichkeit gilt, diese Ordnung als die beste aller möglichen Welten zu akzeptieren – dann wollen wir gern verrückt sein!
Und täuschen wir uns nicht: So allmächtig die heutigen Staaten mit ihren Bürokratien, Polizei- und Militärapparaten auch erscheinen, sie sitzen möglicherweise weniger fest im Sattel als wir glauben. Dass der Kapitalismus ein zutiefst krisenhaftes und instabiles System ist, wird mittlerweile selbst hierzulande, im reichen und wirtschaftlich erfolgsverwöhnten Deutschland, immer mehr Menschen klar. In den letzten zehn Jahren hat eine ununterbrochene Serie von Revolten und Aufständen die verschiedensten Länder erschüttert, der Ruf nach Freiheit ertönte von Kairo bis Rio de Janeiro, von Istanbul bis New York.
Jedoch ist es keiner dieser Bewegungen gelungen, freiere Verhältnisse zu schaffen. Im Gegenteil, häufig folgten auf die Revolten brutale Repression, übernahmen Militärregimes die Macht, gewannen faschistische oder islamistische Banden an Einfluss. Gruppierungen, die die Abschaffung des Staates und des Eigentums als Lösung für die Probleme der Gegenwart ins Spiel brachten, waren zwar fast überall irgendwie beteiligt, aber stets zu schwach, um einen entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse zu nehmen. Die Krisen des Bestehenden führen niemals automatisch zu besseren Verhältnissen, das geschieht nur dann, wenn Menschen bewusst und aktiv dafür kämpfen.
Die geringe Zahl der revolutionären Kräfte ist dabei an sich kein Argument gegen diese. Revolutionen werden nicht von Revolutionären gemacht, sondern von den Massen „ganz normaler“ Menschen, die sich in einem bestimmten Augenblick weigern, ihr bisheriges Leben länger zu ertragen. Neue Ideen können sich in einer solchen Situation rasant ausbreiten, wenn die Umstände günstig sind. „Jene, die am Vorabend der Revolution in der Minorität waren, [können] am Tage der Revolution zur überwiegenden Mehrheit werden, wenn sie den wahren Ausdruck der Bestrebung des Volkes darstellen“, schreibt Kropotkin. „Wir waren kaum ein Dutzend Republikaner im Paris von 1789“, erinnert sich der französische Revolutionär Camille Desmoulins. Nur drei Jahre danach wurde die Monarchie abgeschafft und wenig später der König Louis XVI. hingerichtet.
Dass die revolutionären Kräfte derzeit so schlecht aufgestellt sind, liegt denn auch weniger an ihrer zahlenmäßigen Schwäche, sondern vielmehr daran, dass sie sich, gemessen an ihren Zielen, in den meisten Ländern in einem ziemlich desolaten Zustand befinden. Oft igelt sich die „revolutionäre Szene“ in ihren kleinen Ghettos ein, klammert sich an überkommene Traditionen und ist unfähig, eine Sprache zu finden, um sich mit Menschen außerhalb ihres Milieus zu verständigen. Es geht ja nicht „nur“ darum, die Regierung zu stürzen und eine neue Wirtschaftsweise einzuführen. Da die kapitalistische Gesellschaft vom Städtebau bis zu den Liebesbeziehungen, von den wissenschaftlichen Methoden bis zur Kindererziehung alle Lebensbereiche prägt, müssten auf all diesen Gebieten neue Ideen entstehen und es müsste mit neuen Handlungsweisen experimentiert werden, um tatsächlich eine bessere Gesellschaft aufbauen zu können. Davon ist das radikale Milieu noch weit entfernt. Ansätze existieren zwar hier und da, aber in isolierter und einseitiger Form; nirgends fügen sich die Splitter zur Ganzheit eines lebendigen revolutionären Experiments.
Die hier geäußerte Kritik gilt auch für unsere eigenen anarchistischen Zusammenhänge. Wir bilden uns nicht ein, dass die existierenden anarchistischen Grüppchen lediglich immer mehr Mitglieder gewinnen müssen, um dann irgendwann die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umgestalten zu können. Vielmehr werden sie sich im Prozess der kommenden Auseinandersetzungen selbst von Grund auf revolutionieren, auf allen Gebieten Neues lernen, sich umgruppieren, auflösen und neu gründen müssen, um vielleicht irgendwann ihrer selbst gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Es ist auch gut möglich, dass eine gesellschaftliche Umwälzung von neu entstehenden Kräften ausgehen wird, die sich um die heute bestehenden Gruppen nicht kümmern werden, weil sie sie von Anfang an für unzureichend halten.
Im völligen Bewusstsein der eigenen Schwäche werden wir aber nicht aufhören, unsere Ideen zu propagieren und mit ihrer Verwirklichung zu experimentieren. Denn die Unruhe ist in der Welt, die Krisen der bestehenden Ordnung verschärfen sich. Wie wir eingangs festgestellt haben, erkennen immer mehr Menschen die Versprechungen der parlamentarischen Demokratie als Illusion und suchen nach neuen Antworten. Wenn sie keine freiheitlichen Antworten finden, so werden es Faschisten und andere Autoritäre sein, denen sie zuhören und die von der Situation profitieren. Es steht viel auf dem Spiel – nehmen wir die Herausforderung an!
Aber womit beginnen? Wir können hier keine Patentrezepte anbieten. Vieles kann richtig sein, wenn es zu einer Vertiefung und Verbreiterung der Gegnerschaft zum Bestehenden beiträgt. Wichtig ist, überhaupt irgendwo anzufangen und den Kampf aufzunehmen. Lest alle subversiven Schriften, die ihr in die Finger bekommt. Vergleicht, diskutiert und kritisiert sie, lasst sie im Bekanntenkreis zirkulieren. Nehmt eure Freundschaften ernster als euren Job. Weigert euch, euer Leiden, eure Depression als persönliches Problem abzutun, geht deren gesellschaftlichen Ursachen auf den Grund. Bleibt nicht allein, sprecht mit Leuten am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder wo immer ihr euch aufhaltet über die alltäglichen Probleme, setzt euch gemeinsam für eure Interessen ein und vertraut nicht auf Politiker oder andere, die sich als eure Fürsprecher anbieten. Informiert euch genau über eure Rechte auf der Arbeit, beim Jobcenter etc., nutzt diese und versucht, durch gemeinsames Handeln darüber hinausgehende Spielräume zu schaffen. Findet heraus, ob es Anarchisten, freiheitliche Kommunisten oder andere für eine freie Welt eintretende Leute in eurer Stadt gibt, besucht deren Treffpunkte, Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen. Seid euch bewusst, dass ihr dort keine fertige revolutionäre Organisation vorfinden werdet, der ihr nur noch beizutreten braucht – aktiv werden müsstet ihr vor allen Dingen selbst. Aber vielleicht werdet ihr dort einigen Individuen begegnen, mit denen sich ein Austausch und weitere Zusammenarbeit lohnt. Oder ignoriert alle unsere Vorschläge und macht, was ihr selbst für richtig erachtet.
Dies ist eine Einladung – Wir sehen uns auf den Barrikaden!
Anarchistische Gruppe Dortmund, im August 2017