7. – 15. März: Die Lage verschärft sich
Zweieinhalb Wochen nach dem Beginn des Streiks markierte der 7. März einen Wendepunkt. Es hatten bereits mehrere Demonstrationen und einige Blockaden maßgeblicher Infrastrukturen stattgefunden, zum Beispiel die Blockade der Jacques-Cartier-Brücke am 23. Februar. Bis dahin hatte der SPVM von dem Einsatz von Blendgranaten und Tränengas abgesehen; die Nutzung von Schlagstöcken und Pfefferspray wurde für die Zurückdrängung der Studierenden als ausreichend erachtet. Am 7. März wurde es für den SPVM höchste Zeit, die Einsatztaktik zu erweitern; es war überraschend, dass dies nicht bereits vorher geschehen war.
Der Tag erinnerte an die Ereignisse des 31. März 2011. Wie an jenem Tag sammelte sich die Menge auf der Rue Sherbrooke vor dem Loto-Québec-Gebäude, wenn auch diesmal niemand in die Büros der CRÉPUQ eindrang. Die Intention war augenscheinlich, das Gebäude zu betreten und es zu besetzen. Die Menge schleifte außerdem Metallzäune aus der Gegend herbei und nutzt diese, um Barrikaden auf der Rue Sherbrooke, einer der Hauptverkehrsstraßen der Innenstadt, zu errichten. Die Bereitschaftspolizei griff diese Barrikaden an und drang auf die Menge mit Pfefferspray und Schlagstöcken ein, wobei einige Menschen festgenommen wurden. Als die Menge sich nicht auflöste, wurden Blendgranaten eingesetzt, um die Leute auseinanderzutreiben. Granatsplitter trafen einen der Teilnehmer, Francis Grenier, ins Gesicht. Das Glas seiner Sonnenbrille wurde dadurch in sein rechtes Auge gedrückt, was eine dauerhafte Behinderung zur Folge hatte.
Wäre dies nur ein weiterer Augenblick gewesen, in dem eine Menge feststellt, dass die Polizei kein Freund ist – und trotzdem nur ein weiterer Zwischenfall, in dem die Polizei jemanden verkrüppelt, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hätte –, der Vorfall hätte keinerlei Bedeutung für irgendjemanden gehabt außer für die direkt Betroffenen. Die Dinge entwickelten sich jedoch anders.
Für den Abend wurde eine occupy-ähnliche Versammlung auf dem Berri Square einberufen, wobei die Organisator_Innen für Ruhe appellierten und den Menschen die Möglichkeit versprachen, später auf der Versammlung ihrer „Empörung Ausdruck verleihen zu können“. Als die Menge sich jedoch zusammenfand, forderten wütende Aktivist_Innen, die mit der beschwichtigenden Rhetorik der Organisator_Innen nichts zu tun haben wollten, diese auf, ihr Maul zu halten. Diese kleine Gruppe von Anstifter_Innen, das lauteste Element der Menge, rief die Versammelten dazu auf, auf die Straße zu gehen und die meisten folgten ihnen. Im Laufe der anschließenden Demonstration wurden Geschosse auf Polizeibeamte geworfen, Polizeifahrzeuge in einem Parkhaus auf dem Boulevard Réné-Lévesque wurden zerstört, und – in einem wahrhaft epischen Moment – nutzten die Menschen Absperrgitter als Rammböcke gegen die Haupteingänge der Hauptzentrale des SPVM, während die Polizei noch damit beschäftigt war, ihre Bereitschaftsuniformen zusammenzusuchen. Traurigerweise war es die peace police [2] die den indignéEs [den Empörten] die Absperrgitter abrang, da diese, in den Augen der Organisator_Innen der Versammlung, kein angemessen passiver Ausdruck ihrer Empörung waren.
Einer der vernehmbarsten Sprechchöre in dieser Nacht war Le 15 Mars, La Vengeance [Am 15. März – die Rache]. Dies wurde zuerst ein Jahr zuvor gerufen, in der Nacht des 12. März, 2011. Damit wurde angedeutet, dass die Polizei bei der bevorstehenden Anti-Polizei Demonstration, die jährlich am 15. März stattfindet, für ihre Übergriffe bezahlen würde. 2011 war dies nicht eingetreten; 2012 sah dagegen die größte Demonstration der Geschichte dieser Veranstaltung.
In der Woche vom 7. bis zum 15. März bereiteten drei Entwicklungen den Weg dafür. Anarchist_Innen verbreiteten offensiv Flyer und Plakate für die Demonstration am 15. März. Hinzu kam ein äußerst wichtiger Schritt in der politischen Weiterentwicklung von CLASSE, direkt gefolgt von einem sehr interessanten Tag und einer Nacht auf den Straßen.
In starkem Kontrast zur FÉCQ und der FÉUQ werden alle Entscheidungen von CLASSE auf strikt demokratische Weise getroffen. Seit Februar trafen sich Delegierte der CLASSE konstituierenden Studierendenassoziationen sowie unabhängige Aktivist_Innen jedes Wochenende für zwei Tage auf sogenannten Kongressen, um gemeinsam Entscheidungen zu fällen. Was auch immer die Probleme direkter Demokratie sein mögen, die Entscheidungen, die auf diesen Kongressen hervortreten, illustrieren deutlich die Einstellungen und das politische Bewusstsein der Anwesenden. Am 11. März, dem zweiten Tag eines in Montreal stattfindenden Kongresses, stimmten die Mitglieder dafür, die Anti-Polizei Demonstration am 15. März zu unterstützen und Aktivist_Innen dazu aufzurufen, in großen Zahlen teilzunehmen. Dies war in der Geschichte der Studentenbewegung präzedenzlos – der Kongress von CASSÉÉ hatte diese Idee während des Streiks 2005 entschieden abgelehnt – und die Entscheidung hatte enormen Einfluss auf der Straße.
Währenddessen organisierte das Komitee Soziale Kämpfe von CLASSE eine Demonstration für den 13. März, um den Kampf gegen Austerität und Neoliberalismus – nicht jedoch gegen Kapitalismus – in Québec mit ähnlichen Kämpfen in Griechenland, Spanien, Chile und Kolumbien in Verbindung zu bringen. Vor dem Hochhaus, in dem das kolumbianische Konsulat in Montreal sitzt, bekämpfte eine kleine Gruppe von Schwarzer-Block-Aktivist_Innen die Polizei und besprühte einen Polizeiwagen. Ein Streit entbrannte zwischen Pazifist_Innen und Aktivist_Innen, die auf eine Konfrontation vorbereitet gekommen waren. Bilder davon wurden in den Medien ausgestrahlt und genutzt, um Spaltungen in der Studentenbewegung aufzuzeigen oder als Beweis dafür, dass Anarchist_Innen die Studentenbewegung infiltriert hätten. Zu diesem Zeitpunkt versuchten die meisten Teile der Mainstreammedien in Québec, einige Studierende als legitim und andere als gewalttätig darzustellen. Diese Strategie änderte sich später, als die gesamte Bewegung dämonisiert wurde und nur „die 60% der Studierenden, die den Streik ablehnen und friedlich ihre Kurse besuchen“, gelobt wurden.
Für diesen Abend war eine Unlimited Creation Night am Pavillon Hubert-Aquin des Hauptcampus der UQÀM [3] angekündigt worden. Aktivist_Innen dieser Universität hatten Teilnehmende der Bewegung sowie die Gesamtbevölkerung dazu aufgerufen, „zu kommen, um Kunst im weiteren Sinne zu demokratisieren“ – was immer das heißen soll. Wobei die Werbung zu Anfang vage und surreal war, war offensichtlich, dass ein Universitätsgebäude besetzt und für kreativere Zwecke als normalerweise genutzt werden sollte.
Die Universitätsleitung wollte – kaum überraschend – nicht, dass dieses Ereignis stattfinden würde. In den Tagen davor verkündete eine Notiz auf der Startseite der UQÀM Website: „Es gibt keine von Studenten organisierte Veranstaltung unter dem Namen Unlimited Creation Night, egal woher diese Information stammt“. Am Tag selbst war der Pavillon Hubert-Aquin mit seinem großen, viel Platz bietenden Hof geschlossen und wurde von Universitätssicherheitsdiensten bewacht, einige der Organisator_Innen und andere Aktivist_Innen, die zu Beginn des Abends auftauchten, waren weder gewillt noch vorbereitet einzubrechen. Jedoch hatte die Verwaltung ein anderes Gebäude offen gelassen.
Pavillon J.-A.-DeSève, direkt neben dem Pavillon Hubert-Aquin war ein weniger erstrebenswerter Raum, aber eine gigantische Party brach darin aus und dauerte lange in die Nacht hinein. Aus dem Gebäude geplünderte Möbel wurden auf die Straße gestellt, Essen wurde umsonst in der Eingangshalle verteilt und Leute fingen an, Alkohol und andere Rauschmittel in die Runde zu reichen. Die „Demokratisierer_Innen der Kunst im größeren Sinn“ rannten durch die Korridore mit Farbwalze, Graffiti erblühten in der Gegend um das Gebäude und die Teilnehmer_Innen sangen Anti-Bullen Lieder; es endete mit einer spontanen Demonstration in der späten Nacht durch die Stadt, wobei Polizeiwagen attackiert wurden und exzessiv vandaliert wurde, bevor die Leute, die Überwachungskameras zerstörend, durch die Metro entkamen.
All dies geschah in einer freudigen Atmosphäre, die sich sehr von der sogenannten „Feierlichkeit“ durchschnittlicher passiver Protestmärsche unterschied. Zusätzlich zu den fleur-de-lysé Flaggen [4] und der leeren Rhetorik über Demokratie sind solche Märsche für Anarchist_Innen normalerweise deprimierend, weil junge, fähige Menschen jubeln und ganz so aussehen, als ob sie eine gute Zeit hätten, während sie absolut keinen Grund zum Feiern haben; sie rasen Richtung Verelendung ohne irgendetwas zu tun, um sich zu wehren. Während der Unlimited Creation Night schafften die Leute etwas Neues und Erfreuliches, das es zu verteidigen und zu verbreiten lohnt – etwas, gegen das der Staat alles tun würde, um es sobald wie möglich erlöschen zu lassen. Die Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses und der unerwartete Erfolg waren es wert zu feiern, innerhalb und außerhalb.
Dieser letzte Aspekt unterscheidet den 13. März sehr von den Ereignissen auf dem Campus Cépeg du Vieux [5] einige Wochen vorher. In dieser früheren Besetzung war der überwiegende Standpunkt – oder zumindest der am unerträglichsten offensichtliche –, dass es der einzige Zweck der Besetzung sei, Druck auf Verwaltung und Regierung auszuüben. Diesmal jedoch bot die Besetzung einen flüchtigen Eindruck davon, wie man auf eine andere Art sowohl miteinander als auch mit seiner urbanen Umgebung in Beziehung treten kann.
Dies bringt uns zu den Ereignissen des 15. März. 1997 wurde der 15. März zum Internationalen Tag gegen Polizeigewalt bestimmt, wobei Montreal die einzige Stadt ist, in der er seitdem regelmäßig Beachtung findet. Die Demonstration zieht normalerweise viele junge Leute an – hauptsächliche obdachlose Jugendliche aus dem Stadtzentrum und Hochelaga [6] oder schwarze und arabische Jugendliche aus der ganzen Stadt – sowie Anarchist_Innen, Maoist_Innen und andere Aktivist_Innen, von denen viele dazu bereit sind, gegen die Polizei vorzugehen. Die Demonstrationen 2010 und 2011 wurden von einer übermäßigen Polizeipräsenz, vorbeugenden Festnahmen von Organisator_Innen des Collective Opposed to Police Brutality [Kollektiv gegen Polizeigewalt] und der schlechten Wahl der Demo-Route und Anfangspunkte mundtot gemacht.
Diese Tendenz wurde 2012 komplett umgekehrt. Mit der Unterstützung des Protestmarsches durch CLASSE übertraf die Zahl der sich am Berri Square sammelnden Menschen die der letzten Jahre bei weitem. Obwohl die Polizei, nachdem sie angegriffen wurde, die Menge teilen konnte, löste sich die Demonstration nicht auf. Stattdessen durchstreiften, zum ersten Mal seit Beginn des Streiks, mehrere randalierende Gruppen verschiedene Teile der Innenstadt und die Polizei verlor jede Kontrolle über die Situation. Eigentumswohnungen, Polizeifahrzeuge und Geschäfte wurden angegriffen, Graffiti erblühte überall und einige Leute schafften es sogar, einen Future Shop [7] auszuplündern.
Es war nicht überraschend, dass der 15. März konfrontativ verlief – er ist immer konfrontativ, allerdings nicht immer erfolgreich konfrontativ. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass dies den Verlauf des Streiks verändern würde und für einige Wochen tat es dies auch nicht. Jedoch nahm eine deutlich größere Anzahl von Menschen daran teil als in den Jahren zuvor, und wie während des Widerstandes gegen den G20 Gipfel in Toronto 2010 lernten sie, dass diejenigen, die sich wehren, deutlich bessere Aussichten haben, zu entkommen. Die Massenfestnahme – bei der etwa 100 von den an dem Tag 226 festgenommenen Menschen verhaftet wurden – fand am späten Abend in der Nähe der Berri-UQÀM Metrostation statt und traf vor allem Menschen, die auf ihrem Recht beharrten, friedlich zu demonstrieren – lange nachdem die SPVM die Demonstration zur illegalen Versammlung erklärt hatte.
Der Umstand, dass mehr Menschen auf den Straßen waren, half denjenigen, die gekommen waren, um Auseinandersetzungen mit der Polizei zu suchen; obwohl die meisten Menschen nichts taten, bereiteten sie ein wesentliches logistisches Problem für die Polizeibeamten, die alles versuchten, um die Menge aufzulösen oder zumindest zurück auf den Bürgersteig zu drängen. Auch das beunruhigend warme Wetter war ein Segen. Wie in den letzten Jahren wurde jedoch leider kein Versuch unternommen, längere Verbindungen zu den Jugendlichen aufzubauen, die immer am 15. März in großen Zahlen teilnehmen, aber nur sehr selten auf anderen Demonstrationen zu sehen sind. Es gibt wenige Anzeichen dafür, dass die Randschicht der Stadt den Streik als relevant für sich betrachtete.
[2] A.d.Ü: peace police: ‚Friedenspolizei‘ – auf verschiedenen Occupy-Bewegungen in den USA und Kanada haben sich Pazifist_Innen zur peace police formiert, um andere Protestierende von Gewalttaten abzuhalten und deeskalierend zu wirken.
[3] A.d.Ü: Université de Québec à Montréal (UQÀM): staatliche Universität in Montreal.
[4] A.d.Ü: fleur-de-lysé: heraldische Lilie / Bestandteil des Wappens von Québec.
[5] A.d.Ü: Collège d’enseignement général et professionnel (Cégep): Bildungseinrichtung, in der technische und voruniversitäre Ausbildung stattfindet; Cégep du Vieux: eine dieser Einrichtungen in Montreal.
[6] A.d.Ü: Hochelaga: indigene Bevölkerung Montreals.
[7] A.d.Ü: Future Shop: Kanadas größter Elektronik-Händler (etwa wie Saturn oder Media-Markt).