4. Mai: Die Schlacht von Victo
Am 29. April verkündete die Liberal Party, dass sie ihre Jahreskonferenz in der kleinen Stadt Victoriaville, zwei Stunden von Montréal und anderthalb von Québec entfernt, abhalten würde. Das Innenstadt-Hotel in Montréal, wo die Veranstaltung zunächst geplant worden war, war durch Blockaden zu angreifbar, und die Liberalen hofften, dass genug Abstand von der Metropole die Militanten davon abhalten würde, zu viel Probleme zu machen. CLASSE, andere Studentenvereinigungen und manche Community-Organisationen und Gewerkschaften verkündeten flott, dass sie Busse hinschicken würden.
Die Versammlung wurde im Hotel le Victorin im nordwestlichen Außenbereich der Stadt veranstaltet, einer Gegend mit leeren Parkplätzen und Feldern, auf denen einzelne niedrige Gebäude stehen. Victo hat keine eigene städtische Polizeibehörde, die Verteidigung musste also von der SQ gestellt werden, einer Einheit, die viel weniger Erfahrungen mit „crowd-control“-Situationen hat und beim Umgang mit Straßenkämpfern weniger raffiniert ist als die SPVM. Mit einem so anderen Gegner und auf einem so andersartigen Terrain, verlief die „Schlacht von Victo“ anders als alles, was in Montréal passiert war.
Auf Seiten der Streikenden waren einige grundlegende Dinge überhaupt nicht organisiert, was weniger problematisch gewesen wäre, wenn es im Voraus deutlich mitgeteilt worden wäre. Viele hatten den Eindruck gehabt, dass CLASSE eine wirkliche Zusammenkunft in Victo organisieren würde, z.B. mit einem Ort zum Übernachten für die Dauer der Versammlung. Es ist nicht klar, ob irgendjemand ernsthaft dergleichen vorhatte. Theoretisch hätte die Cégep von Victoriaville – in welcher die Studentenvereinigung die Taktik eines Studierendenstreiks abgelehnt hatte, wenngleich nicht die Ziele der Bewegung – zu diesem Zweck genutzt werden können, in Zusammenarbeit der Pro-Streik-Studierenden dort. Ironischerweise sorgten die Liberalen dafür, dass die Schule am Freitag, dem 4. Mai, geschlossen wurde, indem den Schulleitern angedeutet wurde, dass Vandalismus auf dem Campus drohen könnte.
Die Leute entstiegen den Bussen auf einem Wal-Mart-Parkplatz etwa 20 Minuten Fußweg südlich des Victorin. Als sich genug Leute gesammelt hatten, marschierten sie direkt die Straße hoch und konfrontierten die SQ, die sich hinter niedrigen Metallbarrikaden unmittelbar vor dem südlichsten Eingang des Hotels verschanzt hatte. Schnell fand sich die Polizei einem „Bombardement“ aus großenteils leeren Plastikflaschen, aber auch einigen Rauchbomben ausgesetzt, während überall um sie herum Leute an den Barrikaden rüttelten und sie auseinanderzunehmen begannen. Es wäre nicht allzu schwierig gewesen, über die Barrikaden zu springen und die sichtbar geängstigte Polizei zu verdrängen und so wohl ins Hotel eindringen zu können – doch die Leute zögerten, so schnell zur Offensive überzugehen und erlaubten der Polizei offen vor der Menge Gasmasken aufziehen.
Wieder einmal zögerten Militante, zuerst anzugreifen. Die Ergebnisse waren vorhersehbar.
Bald wurden Tränengasgranaten abgeschossen und viele Leute waren gezwungen, sich vom Hotel zurückzuziehen. Diese Umgebung war anders, als alles, was Straßenkämpfer von Montréal her kennen. Große Teile der Gegend waren komplett offen: Felder, Parkplätze und leere Straßen, welche die Einheimischen besser kannten. Um auf die Kampfzone zu sprechen zu kommen: Es gab einige Wohnblöcke in der Nähe und viele aufgegrabene Grundstücke, die mehr Steine lieferten als auf den meisten der bröckelnden Innenstadtstraßen gefunden werden können. Vier verschiedene Konfrontationslinien entstanden und an jeder schmissen Straßenkämpfern Wurfgeschosse auf die Polizei oder verwendeten die grünen Recyclingtonnen von Wohnhäusern, um sich vor den Gummigeschossen zu schützen, während die Einwohner zuschauten. Die Luft war voll von einem Gas, das viel stärker war als alles in Montréal verwendete. Es war schwierig für alle, die sich nicht mit Gasmasken oder zumindest essiggetränkten Halstüchern und Schutzbrillen vorbereitet hatten, in der Nähe des Aktionsbereichs zu bleiben. Alle taten dasselbe.
Viele berichteten später, dass Victo für sie die heftigste Erfahrung war, die sie je gehabt hatten. Die Menge an Verletzungen war erschütternd. Ein Militanter, Maxence Valade, war die zweite Person, die ein Auge verlor, und ein anderer, Alex Allard, starb beinahe durch seine Kopfverletzungen. Mindestens drei andere Personen wurden auf Krankentragen fortgebracht. Die SQ, der seit 1970 die Vorstellung eingeflößt worden war, dass sie eines Tages die Militärmacht eines unabhängigen Québec sein könnte, trägt olivgrüne Uniformen, die an Sowjetsoldaten erinnern, und benutzt bewaffnete Mannschaftstransportwagen. Über die ganze Dauer des Konfliktes hinweg flog ihr Hubschrauber erschreckend niedrig über dem Boden, wahrscheinlich um einzuschüchtern.
Ein Transporter der SQ war schon einige Zeit von der Menge umgeben und wurde von den Straßenkämpfern bis zum späten Abend nicht beachtet. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Leute, seine Fenster zu zertrümmern und ihn mit Farbe anzusprühen, was einen einzelnen Polizeibeamten dazu brachte, einen „Vandalen“ zu greifen und seine Festnahme zu versuchen. Andere Militante reagierten und der Beamte wurde geschlagen, bis er seinen Gefangenen losgelassen hatte. Ein hinter der Demonstration versteckter Streifenwagen, versuchte zu intervenieren, aber Kämpfer umrundeten ihn und zerschlugen seine Fenster aus nächster Nähe, während die Beamten in ihm waren; diese zogen sich zurück und gaben den Rettungsversuch auf. Es war ein Angriff mit einer großen Anzahl von Riot-Cops nötig, um den einzelnen Beamten zu retten.
An diesem Tag gab es nur vier Festnahmen. Als klar wurde, dass sich die Mehrheit der Militanten nicht länger mit Projektilen bombardieren lassen wollte, zog sich die Menge zum Wal-Mart-Parkplatz zurück und die meisten bestiegen die Busse ohne Zwischenfall. Drei Busse, die später als die anderen losfuhren, wurden von der SQ auf dem Weg aus der Stadt heraus gestoppt, und einer von ihnen – der Bus, der von den Organisatoren aus McGill und Concordia gemietet worden war – musste zur SQ-Station in Victo zurückkehren, damit die Personalien der tränengasgetränkten Passagiere festgestellt und sie ordentlich angeklagt werden konnten. Dies war der einzige Bus, der von Strafanzeigen betroffen war, obwohl es anscheinend einen Plan gab, die anderen Busse abzufangen, wenn sie nach Montréal zurückkehren würden; glücklicherweise ließen die sympathisierenden Busfahrer die Leute an anderen als den ursprünglich geplanten Orten heraus. Beim Bahnhof von Victo wurden die Leute im McGill/Concordia-Bus 10 Stunden lang im Fahrzeug festgehalten, unter der Aufsicht von bewaffneten SQ-Wachen, die auf dem Mittelgang patrouillierten und die Leute vom Sprechen abhielten.
Obwohl die Versammlung der Liberal Party verzögert wurde, wurde die Veranstaltung nicht abgeblasen. Nachdem alle am Ende des 4. Mai die Stadt verlassen hatten und niemand auch nur eine weitere Sekunde dort bleiben wollte, sah der Rest der Versammlung überhaupt keinen konfrontativen Protest mehr, nur farbige Schilder. An direkter Aktion Interessierte können dies in einem positiven Licht sehen. Der Punkt war nicht, einfach gegen das, was die Liberalen taten, zu protestieren, sondern ins Hotel le Victorin einzudringen und sich physisch mit einigen der Leute auseinanderzusetzen, die uns so unmittelbar zusetzen. Die Leute machten dazu am Freitag, dem 4. Mai, große Anstrengungen und sie waren danach hierzu nicht mehr in der Lage, sie gingen heim, um ihre Wunden zu lecken – eine wesentlich bessere Nutzung ihrer Zeit, als ohne Auswirkungen herumzuhängen.
Eine andere Lehre der Schlacht von Victo: So lange der militante Widerstand immer nur in Montréal konzentriert ist, ist er dazu verdammt, zu verlieren. In dieser besonderen Stadt ist er bis zu dem Grad normalisiert, so dass er in den strategischen Kalkulationen der Autoritäten verarbeitet werden kann. Sicherlich wollen sie ihn in letzter Konsequenz beenden, aber wenn er einstweilen auf Montréal beschränkt bleibt, kann er viel leichter kontrolliert werden. Wann immer es Versuche gibt, die Grenzen in anderen Teilen von Québec auszuweiten, muss das heftigst bezahlt werden. Dies zeigte sich nicht nur am 4. Mai, sondern auch beim brutalen Angriff der SQ gegen harte Streikposten an Schulen in „Outaouais“ und den Vorstädten nördlich von Montréal. Trotz allem ist die Fähigkeit, unsere Macht in andere Regionen der Provinz auszuweiten und vor allem die Widerstandskultur dort zu unterstützen, von entscheidender Bedeutung für die Zukunft.