Bernd Volkert
Das Territorium nicht besetzen. Das Territorium sein.
Nachrichten aus dem Kriegsgebiet
Am Einlaß muß jeder Besucher des Konzerts sich einer Durchsuchung durch Beschäftigte einer Security-Firma unterziehen lassen – außer natürlich diejenigen, die auf der Gästeliste stehen, um nicht auch denen noch zu vermitteln, daß sie hier letztlich verdächtig oder unerwünscht sind. Drinnen in der Columbiahalle sind strategischen Überlegungen folgend zahlreiche Securities in der Menschenmenge postiert, die auch sofort bei der kleinsten Unregelmäßigkeit – beispielsweise, wenn jemand sich auf ein Geländer setzt oder sich eine Zigarette anzündet – einschreiten und für die gewünschte Ordnung sorgen. Vor der Bühne sind die Sicherheitskräfte besonders konzentriert und halten permanent aus ihrem Schützengraben wachsam das Publikum im Auge. Und in ihrem Rücken singt Dirk von Lowtzow dazu: „Aber hier leben, nein danke.“
Diese Vorgänge beim Tocotronic-Konzert letzten Herbst in Berlin sind reizvoll, weil sie nicht nur die mittlerweile ohnehin flächendeckend durchgeführte Kontrolle und Sicherung kommerzieller und sogenannter öffentlicher Räume durch ein weiteres Beispiel aufzeigen, sondern vielmehr dies mit erklärten Propagandisten von Subversion und linker Popkultur verbinden. Daß Dirk von Lowtzow während des Auftritts zudem zahllose Male „Berlin! Berlin!“ und „Endlich zuhause!“ sympathieheischend dem ähnlich sicher wie auf der fröhlichen Fanmeile oder im Fußballstadion bewachten Publikum zurief und danach noch für die mit dem privilegerienden schwarzen Plastikarmband versehenen Besucher Gelegenheit zum Besuch der ‚After-Show-Party‘ mit 0,3er-Bier für 3,50 Euro bestand, waren weitere Schlaglichter auf den Umgang mit Orten und Räumen auch in den Szenen der prominenten Dissidenz.
Um nicht den Verdacht zu erregen, hier ginge es um den Vorwurf des Ausverkaufs an eine Band, die ja doch nur ihre Arbeit macht, also ein Publikum bei Laune zu halten, sei zum Beispiel noch die sich wieder wachsender Beliebtheit erfreuende Praxis in sogenannten selbstverwalteten oder im Kollektiv betriebenen Orten erwähnt, Hausverbote an Leute zu erteilen, die man mit dem einen oder anderen -ismus glaubt identifizieren zu können. Sowohl – kommerziell betrachtet – am oberen wie am unteren Ende der linken Szene kommt es also zu Phänomenen, bei denen sich Orte etwas aufdringlich mit Repression und Kontrolle verbinden, das heißt, es kommen Tendenzen zum Vorschein, die außerhalb dieser Nischen ohnehin allgegenwärtig sind, beispielsweise wenn – um einen Sprung in die internationale Alltagswelt zu machen – regelmäßig nächstens um 12 in Barcelona zunächst Wasserwerfer die Straßen und Plätze in den Stadtvierteln mit Unmengen von Wasser naß spritzen, damit sich dort keine Menschen mehr sitzend einfinden können, und dann noch die Polizei in Einsatztrupps hinterherpatroulliert, damit sie dies auch nicht mehr stehend tun. Befinden wir uns also in einer Art Kriegsgebiet ohne Hinterland?
Zumindest außerhalb Deutschlands denken einige, die sich weitgehend aus solchen ‚Szenezusammenhängen‘ entfernt haben, genau dies – und richten auch ihr auf den Umsturz dieser Verhältnisse zielendes Handeln darauf ein. „Das aktuelle Territorium ist das Produkt mehrerer Jahrhunderte polizeilicher Operationen“ [S. 72], heißt es in dem bündigen und apodiktischen Ton, den die Autoren vom Comité Invisible auch im Rest des Textes sich anzuschlagen trauen, in „Der kommende Aufstand“, über den hier eher referierend und nur zurückhaltend kommentierend geschrieben werden soll.1 Das Büchlein von weniger als hundert Seiten ist nach seinem Erscheinen in Frankreich 2007 zu einiger Berühmtheit gelangt, vor allem seit neun seiner mutmaßlichen Autoren in einem militärisch durchgeführten polizeilichen Großeinsatz unter dem Vorwurf des Terrorismus durch die Sabotage einer TGV-Strecke in dem Dörfchen Tarnac im Zentralmassiv festgenommen worden waren. Nachdem es im letzten Jahr auch auf Deutsch erschienen ist – gleich zweimal: bei der edition nautilus und als eine Art Raubdruck und billiger von anonymen Herausgebern – ist hier nun ebenfalls um den Text eine Debatte entstanden – und eine gewisse Unruhe.2
Milieuflucht
Nicht zuletzt liegt diese Unruhe und die damit oft verbundene entschiedene Ablehnung der Schrift wohl auch an dem Umgang, den ‚Der kommende Aufstand‘ mit Orten beschreibt und der in der hier vorliegenden Betrachtung damit anfängt, daß sie einen bevorzugten Aufenthaltsraum von Linken – ob nun Kommunisten, Anarchisten. Autonome oder what have you– schon mal rabiat ablehnen: nämlich die Szene oder das Milieu: „Alle Milieus sind zu fliehen. Jedes einzelne von ihnen ist beauftragt, eine Wahrheit zu neutralisieren.“ [S.67] Für das Komitee sind diese Milieus, ob sie sich nun eher kulturell oder politisch geben, unfreiwillig zwar, aber faktisch doch Teil einer Befriedungsstrategie, durch die den darin Gefangenen alles umstürzlerische Treiben abgewöhnt wird, zum Beispiel indem zwar alle sich in der radikalen Ablehnung der Verhältnisse einig sind, dann aber ihre Zeit doch fleißig und gewissenhaft damit verbringen, sich über die Unterschiede zu streiten, wie und warum man jeweils zu seiner Ablehnung komme, wer denn die „bessere Analyse“ vorbringen könne etc. In ätzendem und Kompromisse ausschließendem Ton heißt es deshalb in ‚Der kommende Aufstand‘: „Insbesondere zu fliehen sind die kulturellen und politischen Milieus. Sie sind die zwei Hospize, in denen traditionellerweise alles revolutionäre Verlangen zerschellt. Die Aufgabe der kulturellen Milieus besteht darin, alle aufkeimenden Intensitäten aufzuspüren und den Sinn dessen, was ihr tut, zu unterschlagen, durch das Ausstellen; die Aufgabe des politischen Milieus, Euch die Energie wegzunehmen, es zu tun. Die politischen Netzwerke erstrecken ihre diffusen Netzwerke über das ganze französische Territorium und stehen jeglichem revolutionären Werden im Weg. Sie sind nur Träger der Anzahl ihrer Niederlagen und der daraus erwachsenden Bitterkeit. Ihr Verschleiß genauso wie ihr Übermaß an Ohnmacht hat sie unfähig gemacht, die Möglichkeiten der Gegenwart aufzugreifen. [...] So wie es vergeblich ist, von ihnen etwas zu erhoffen, ist es dumm, von ihrer Sklerose enttäuscht zu sein. Es reicht, sie verrecken zu lassen.“ [S. 67] Als weitere Zumutung, mit der der linke Leser erstmal zurechtkommen muß, meiden diese französischen Unruhestifter das linke Milieu nicht nur atmosphärisch, sondern sind auch an den physischen Orten nicht interessiert, weshalb sie vor einigen Jahren entschieden haben, der ‚Weltstadt Paris‘ den Rücken zu kehren, um ein Häuschen eben in dem Dörfchen Tarnac zur zentralen Stätte ihres Lebens und Wirkens zu machen.
Es gebietet: Die Metropole
Ein Irrglaube wäre es allerdings, zu meinen, das Unsichtbare Komitee wäre in seinem Vorgehen von einem manischen Abgrenzungsbedürfnis von der Linken getrieben. Vielmehr resultiert diese Absage an linkes Leben eher als Nebeneffekt aus ihren Welterfahrungen und -betrachtungen. Nicht aus einem Fluchtinstinkt heraus sind sie in die Provinz gezogen, auch nicht aus einer Sehnsucht nach dem ‚einfachen Leben‘, wie ein häufiges Fehlurteil über die Schrift meint, sondern aus strategischen Erwägungen und vor dem Hintergrund, daß ihrer Ansicht nach dieses ‚Land‘ ohnehin gar nicht mehr existiert, ebensowenig wie die ‚Stadt‘. Diese uralte Gegenüberstellung Stadt-Land betrachten sie als heutzutage praktisch aufgehoben und ersetzt durch ein territorial sich durchsetzendes Prinzip der repressiven Vergesellschaftung, das sie mit dem Begriff ‚Metropole‘ einzufangen versuchen: „Erzählt uns nichts mehr von ‚der Stadt‘ und ‚dem Land‘ und noch weniger von ihrer althergebrachten Opposition. Was sich um uns herum ausbreitet, ähnelt dem weder von nah noch von fern: Eine einzige urbane Schwade ist es, ohne Form und Ordnung, eine trostlose Zone, unbestimmt und unbegrenzt, ein weltweites Kontinuum von musealisierten Mega-Cities und Naturschutzgebieten, von Hochhaussiedlungen und riesigen Agrarbetrieben, von industriellen Zonen und Reihenhaussiedlungen, Landgasthöfen und Yuppie-Kneipen: die Metropole. [...] Die Metropole strebt nach der Synthese aller Territorien. In ihr lebt alles zusammen, weniger im geographischen Sinn als durch Verwebung ihrer Netzwerke.“ [S. 33] Diese ‚Netzwerke‘ halten die Bevölkerung jedoch nicht nur durch kulturellen Kitt oder Kitsch zusammen, vielmehr fließen rohe Gewalt und lauer Genuß beständig in einer nicht so schönen neuen Welt zusammen: „Die Kontrolle fügt sich wunderbar in die Welt der Waren ein und zeigt jedem, der es sehen will, ihr autoritäres Gesicht. Trend der Epoche ist die Durchmischung von fader Musik mit Teleskopschlagstöcken und Zuckerwatte. Was sie an polizeilicher Überwachung bedarf, diese Bezauberung!“ [S. 33]
Und was sie an klassenmäßigen Spaltungen und Trennungen hervorbringt, die sich in die Landschaft einschreiben: Da ist einerseits die quantitativ dominante Oberflächenschicht. „Die Metropole ist der gleichzeitige Tod der Stadt und des Landes an der Kreuzung, an der alle Mittelklassen zusammenlaufen, in diesem Milieu der Klasse-der-Mitte, das sich in der Landflucht um-die-Urbanisation-herum unendlich räkelt.“ [S. 34] Dann gibt es, zweitens, Gebiete, die zwar pauperisiert sein mögen, aber dennoch durch eine Kombination verschiedenartiger Maßnahmen befriedet werden konnten: „Man hat sich seit – sagen wir 1945 – darauf geeinigt, daß die Manipulation der Massen, die Aktivitäten der Geheimdienste, die Einschränkung der öffentlichen Freiheiten und die vollständige Souveränität der verschiedenen Polizeien angemessene Mittel zur Sicherung von Demokratie, Freiheit und Zivilisation sind. Im letzten Stadium dieser Evolution: der erste sozialistische Bürgermeister von Paris, der letzte Hand anlegt an die urbane Befriedigung, an die polizeiliche Erneuerung eines Arbeiterviertels, und sich mit sorgfältig abgewogenen Worten rechtfertigt: ‚Hier wird ein zivilisierter Raum errichtet‘. Nichts ist dem hinzuzufügen, alles ist zu zerstören.“ [S. 56]
Leben und Sterben in der Verbannung
Zum Dritten aber das Gegenstück zu diesen Äußerungsformen einer effektiv verwalteten Welt: die „Stadtteile der ‚Verbannung‘“ [S. 20] die „Rückseite des elektronischen Bühnenbilds der Weltmetropole“, anhand dessen das Unsichtbare Komitte ein widersprüchliches Potential zur Aneignung dieser Welt zu beschreiben versucht: „Aber das Lebendige hat sein Quartier in den Orten des totalen Ausschlusses aufgeschlagen. Das Paradox will, daß die augenscheinlich unbewohnbarsten Orte die einzigen noch in irgendeiner Art und Weise bewohnten sind. Eine alte besetzte Baracke wird immer einen viel bewohnteren Eindruck machen als all diese steifen Apartments, wo man seine Möbel hinstellen und die Ausstattung perfektionieren kann, während man auf den nächsten Umzug wartet. Die Slums sind in vielen Mega-Cities die letzten lebendigen und lebenswerten Orte; aber auch, was keine Überraschung ist, die tödlichsten.“ Und es sind auch diese Slums, in denen ein ausdrückliches Gegenbild zum den Menschen enteigneten Raum in der Metropole zu beobachten ist, der in der Darstellung des Unsichtbaren Komitees an die Anfangspassagen in David Finchers ‚Fight Club‘ und die Ikea-definierte Wohnung des Protagonisten erinnert. Am spektakulärsten zeigte sich diese Spezifik solcher Randterritorien zuletzt bei den Banlieue-Unruhen in Paris, die ohnehin für die Verfasser von ‚Der kommende Aufstand‘ ein anspornendes Ereignis darstellten: „Die Brände vom November 2005 sind nicht aus der extremen Enteignung geboren, wie es so oft daher geredet wurde, sondern aus dem vollständigen Besitz eines Territoriums.“ [S. 35]
In solchen Gebieten am Rande der Städte, in denen sich die Überflüssigen und Unwilligen wiederfinden, äußert sich ein die Gesellschaft beständig durchziehender Konflikt, der hier allerdings in aller Regel ohne die kulturellen, sozialpädagogischen und -politischen Ertüchtigungen auskommt beziehungsweise wo solche Methoden bislang nur ihr Scheitern erleben, weswegen das „Gesindel“ (Sarkozy) in diesen Outlaw-Zonen, wenn überhaupt, eher einseitig nur die militärische und polizeiliche Betreuung gewährt bekommt. Daher können die folgenden in ‚Der kommende Aufstand‘ beschriebenen Verhältnisse und Vorgänge dort noch am deutlichsten zum Vorschein treten: „Die Metropole ist das Terrain eines unaufhörlichen Konflikts niedriger Intensität [...] Die Metropole ist selbst mit dem Krieg völlig kompatibel. Der bewaffnete Konflikt ist nur ein Moment ihrer permanenten Umgestaltung. [...] Die ‚Polizeieinsätze‘ zielen weder auf den Sieg noch darauf, Ordnung und Frieden wiederherzustellen, sondern auf das Fortsetzen einer Sicherheitsunternehmung, die immer schon am Werk ist. Der Krieg kann nicht mehr isoliert werden in der Zeit, denn er teilt sich auf in eine Reihe militärischer und polizeilicher Mikro-Operationen, um die Sicherheit zu gewährleisten.“ [S. 35f]
Angriff auf die Adern der Bestie
Im Zuge dieser Einschätzung der Welt als so verstandene Metropole gelangt das Unsichtbare Komitee auch zu Vorstellungen über die Revolution – auf die in erbitterter Entschiedenheit für sie alles hinauszulaufen hat –, die sich auch in territorialer oder räumlicher Weise stark von vielem Althergebrachtem unterscheiden. „Der Dezentralisierung der Macht entspricht in dieser Epoche das Ende der revolutionären Zentralitäten. Winterpaläste gibt es wohl immer noch, sie werden aber vielmehr Ziel des Sturms von Touristen als von Aufständischen. Paris, Rom oder Buenos Aires können heutzutage eingenommen werden, ohne damit eine Entscheidung zu erringen. [...] Ein Tag wird kommen, an dem dieses fürchterliche Konzentrat der Macht, die Hauptstadt, in großem Stil zerfallen sein wird, dies aber im Abschluß eines Prozesses, der überall sonst schon weiter fortgeschritten sein wird als dort.“ [S. 88f] Anstatt also sich auf die Eroberung von Gebäuden, das Habhaftwerden von einzelnen Politikern oder Bossen zu konzentrieren, wie es Konzepten der Massenrevolution oder der modernen Stadtguerilla eigen war, sei auf die Entzerrung und Verflüssigung der Macht zu reagieren, die so beschrieben wird: „Die Metropole ist nicht nur diese urbane Anhäufung, dieses finale Aufeinandertreffen zwischen der Stadt und dem Lande, sie ist gleichermaßen ein Fluß von Wesen und Dingen. Ein Strom, der durch ein ganzes Netzwerk aus Fiberglasleitungen, TGV-Linien, Satelliten und Videoüberwachungskameras fließt, damit diese Welt nie aufhört, ihrem Untergang hinterherzurennen.“ [S. 36f] Diesen permanenten Strom von Waren, Menschen, Informationen gilt es zu unterbrechen, sozusagen eher die Adern und Kapillaren der Bestie anzugreifen als ihr Herz: „Eben weil sie diese Architektur der Flüsse ist, ist die Metropole eine der verwundbarsten menschlichen Formationen, die jemals existiert hat. Biegsam, subtil, aber verwundbar.“ [S. 37] Das Unsichtbare Komitee kommt allerdings an keiner Stelle zu einer Vorstellung, daß sich alleine dadurch schon ein Umsturz erreichen ließe. Trotz aller starken Rhetorik bleiben sie doch nicht nur einigermaßen vage, was einen zukünftigen Verlauf dieses von ihnen behaupteten Aufstands betrifft, sondern auch recht zurückhaltend, wie weit er denn schon fortgeschritten sei. Eher scheinen sie durch die Akte der Sabotage, die sie nahelegen, nicht mehr als eine Art Denkpause anzustreben, die den sonst im Dauerbetrieb der Gesellschaft aufgesogenen Menschen gewährt werden müsse, um eine Erkenntnis über ihre Lebensumstände und die darin liegenden Möglichkeiten überhaupt erst zulassen zu können: „Die erste Geste, damit etwas in der Metropole hervorbrechen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, besteht darin, ihr Perpetuum Mobile zu stoppen.“ [S. 38]
Kommunen: Die Spaltpilze der Bewegung der Aneignung
Was sie derart im Großen sich vorstellen, als auf Befreiung zielenden Beitrag zu einer Zivilisation, die sie im Untergang sehen, drängen sie jetzt schon, so gut wie möglich, im Kleinen, individuell zu tun. Und dies sind die Passagen, in denen das Unsichtbare Komitee – inklusive dramatisierender Kursivsetzung – am ominösesten klingt, in denen in einer Art Tonfall der Apokalypse der Leser beschworen werden soll: „Wir haben einen Kadaver auf dem Rücken, aber den werden wir nicht so einfach los. Vom Ende der Zivilisation haben wir nichts zu erwarten. So wie sie ist, kann sie nur Historiker interessieren. Das ist eine Tatsache, aus der eine Entscheidung werden muß. Die Tatsachen können vertuscht werden, die Entscheidung bleibt politisch. Sich für den Tod der Zivilisation zu entscheiden, in die Hand zu nehmen, wie dies geschieht: Nur durch die Entscheidung werden wir uns des Kadavers entledigen.“ [S. 61] Was hier allerdings so düster und existentialistisch klingt, ist immerhin noch ergänzt um allerlei entspannte und frohgemute Passagen, die vorstellen, was aus einer solchen Entscheidung folgen kann, und die sich beim Unsichtbaren Komitee hauptsächlich um den schillernden Begriff der Kommune gruppieren, der seinerseits allerlei territoriale und räumliche Konnotationen hat. So sollen diese Kommunen, die überall und immer sich bilden, die dauerhafte Zusammenschlüsse von Menschen wie auch nur zeitlich eng begrenzte Aktionseinheiten sein können, im Prinzip sich ausweiten, vervielfachen, pilzartig überall aus dem Boden der existierenden Gesellschaft hervorgehen und, ebenfalls Pilzstrukturen ähnlich, in einer zwar nicht unbedingt an der Oberfläche sichtbaren Weise, doch eng miteinander verbunden sein, um schließlich dieses zu bewirken: „Für uns stellt sich die Frage des Territoriums nicht in gleicher Weise wie für den Staat. Es geht nicht darum, es zu halten. Es geht darum, auf lokaler Ebene die Kommunen, die Zirkulation und die Solidaritäten zu verdichten, bis zu dem Punkt, an dem das Territorium unlesbar, undurchdrunglich wird für jegliche Autorität. Es geht nicht darum, ein Territorium zu besetzen, sondern es zu sein.“ [S. 72] Und weil sie offenbar entsprechende Einwände und Kritik an einer solchen Konzeption schon vorausgesehen haben, beeilen sie sich, gleich anzufügen: „Das Prinzip der Kommunen ist nicht, der Metropole und ihrer Mobilität die lokale Verwurzelung und die Langsamkeit entgegenzusetzen. Die sich ausbreitende Bewegung der Bildung von Kommunen muß diejenige der Metropole unterirdisch überholen. [...] Die permanente Bewegung zwischen den befreundeten Kommunen gehört zu den Dingen, die sie vor dem Austrocknen und dem Verhängnis des Verzichts bewahrt.“ [S. 73]
Ein anderer Aspekt bei dieser Ausbreitung der Kommunen, der ebenfalls vieles gerne unter dem Begriff ‚Organisationsfrage‘ Diskutierte gegen den Strich bürstet, ist die Empfehlung zur rechtzeitigen Spaltung: „Bei der Ausweitung der Kommunen muß jede einzelne der Sorge Rechnung tragen, eine gewisse Größe nicht zu überschreiten, eine Größe, ab der sie den Kontakt zu sich selbst verliert und damit unweigerlich eine dominante Kaste ins Leben ruft. Die Kommune zieht es also vor, sich aufzuspalten und sich auf diese Weise auszudehnen, wodurch sie gleichzeitig einem unglücklichen Ende zuvorkommt.“ [S. 79] Statt also eine Reproduktion beispielsweise der thematisch wie territorial begrenzten ‚Reclaim-the-Street‘-Kampagnen sein zu wollen, versucht das Unsichtbare Komitee ein Konzept vorzulegen, das eher einem ‚Reclaim the World‘ ähnelt und es unterhalb des völligen Umsturzes (oder zumindest des Versuchs dazu) keinesfalls machen will. Und auch die Methoden dazu nehmen zwar vielleicht gewisse Anleihen bei der Stadtguerilla der 1980er Jahre (zum Beispiel, auf deutschem Gebiet, bei der Variante die unter dem Namen Revolutionäre Zellen auftrat), indem sie jedoch zum einen eher auf Sabotage als auf Zerstörung aus sind und zum anderen dies weder als ‚Berufs-‘ noch als ‚Feierabendrevolutionäre‘ betreiben wollen, sind sie auch davon kein reiner Wiedergänger. Und selbst wenn einige Beteiligte des Unsichtbaren Komitees sicherlich ihre Erfahrungen mit militantem Vorgehen beim für ein paar Jahre im Kontext der Globalisierungsproteste beliebtem Gipfelhopping gesammelt haben, ist auch das kein passendes Vorbild für die Vorschläge eines radikal dezentralen und kleinteiligen Vorgehens, in dem ein revolutionärer Prozeß weniger als großer Clash, sondern eher als schleichende feindliche Übernahme – auch der Orte, Wege und Mittel der Produktion – vorgestellt wird, im Zuge dessen Räume nicht als Selbstzweck erobert werden sollen, sondern weil der Kommunismus, den das Unsichtbare Komitee anstrebt und mit herbeiführen will, im Raum und auf dem Territorium stattfindet, der die Welt nunmal ist. Wo sonst? Diese Art von Erdung mit starkem Expansions- und Replikationsdrang könnte ein Konzept, wie es in „Der kommende Aufstand“ vorgeschlagen wird, davor bewahren, entweder eine Art Wiedergeburt der Autonomenszene herbeizuführen, also ihr eigenes ‚Milieu‘ zu begründen, oder nur einer postmodernen akademischen Diskursmaschine Treibstoff zu verleihen – beides Kreise, an deren Rändern sich das Unsichtbare Komitee – vermutlich allein schon biographisch – zuweilen riskant nah bewegt. In einem anderen, dem Unsichtbaren Komitee sicher bekannten Zusammenhang, dessen psychogeographische Überlegungen sich in „Der kommende Aufstand“ verlängert wiederfinden, sind solche unerwünschten Resultate der Publikation von Texten schon einmal mit dem Wort ‚Pro-Situationismus‘ belegt und daraufhin auch von den ‚Situationisten‘ mit den zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft worden.
Der schönste Platz im All
Für ein solches Vorgehen gegen mögliche Pseudoerfolge der Schrift könnte es bald an der Zeit sein, nicht nur wegen des Spektakels, das „Der kommende Aufstand“ in der hiesigen etablierten Medienmaschine ausgelöst hat, sondern auch angesichts von allerlei Geschehnissen, die drei Jahre nach Erscheinen des französischen Originals den Eindruck erwecken, das Unsichtbare Komitee besitze zumindest mit seinen praktischen Anregungen entweder schon eine gewisse Ausstrahlungskraft oder habe schlicht einen Nerv der Zeit getroffen: Daß bei den Streiks in Frankreich im letzten Oktober die Raffinerien blockiert und stillgelegt wurden und tatsächlich Regierungsvertreter selbst schon von „Krieg“ sprachen, paßt auf jeden Fall zum ‚Drehbuch‘ des kommenden Aufstands. Ebenso viele der Vorgänge, die die griechische Gesellschaft spätestens seit den Unruhen im Dezember 2008 in beständiger niedrigschwelliger Nervosität halten, mittlerweile zuweilen auch beleuchtet von feurigen Zellen. Noch etwas bescheidener, aber in eine ähnliche Richtung gehend, war im Herbst letzten Jahres der erfolgreiche Versuch von Unbekannten in Berlin durch Zerstörung eines einzelnen Verteilerkastens die Berliner-S-Bahn für mehrere Tage in ein mittleres Chaos zu stürzen.
Doch handelt es sich bei solchen Aufsehen erregenden Ereignissen nur um eine Seite des Szenarios, das „Der kommende Aufstand“ skizziert – und zwar um die – vor allem auch medial – sichtbare Seite. Zur eigenwilligen Dialektik von Subversion und Revolution, die das Komitee darlegt und gleichzeitig in der Welt zu spüren vermeint, gehören auch Elemente eines unsichtbaren Aufstands, der auf und unter dem Boden des Alltäglichen sein Geflecht ausbilden will. Wie genau sich das Untergründige und die Eruptionen, das Langsame und das Schnelle, die Geduld und die Eile zueinander verhalten, wie sie sich ergänzen, befruchten und gegenseitig eskalierend wandeln, um die Erde wirklich zum schönsten Platz im All werden zu lassen: darüber wollen die Franzosen vielleicht gar keinen Nachfolgeband verfassen, der die Vagheiten von „Der kommende Aufstand“ penibel und räsonierend erhellt. Es stattdessen anzunehmen, daß sie hoffen, diese Erklärungen mögen eher von der Geschichte geschrieben werden.
Nachbemerkung: Der Verfasser dieses Texts ist sich bewußt, daß die Autoren von ‚Der kommende Aufstand‘ aufmerksame Leser gewesen sind von Derrida, Heidegger, Foucault, Negri, Hardt, Schmitt, Debord, Vaneigem, Agamben, Benjamin. Er selbst glaubt auch Spurenelemente entdeckt zu haben von Rimbaud, Kropotkin, Lenin, Bakunin, Marcuse und da und dort sogar Marx. Anstatt sich deswegen dem Geschäft der Literaturanalyse zu widmen, hielt der Verfasser diese eines Hauptseminars würdige Literaturliste eher für ein weiteres Zeichen, daß die Autoren von ‚Der kommende Aufstand‘ sich für die Welt, die sie vorgefunden haben, interessieren. Ihr Interesse scheint ihm dabei erfreulicherweise die freiheitliche Abschaffung der Welt, wie sie ist.
Erschienen in Testcard #20, November 2010