Bernd Volkert
Gegen das Überleben im Wohlstandsdreck – Die Situationisten und Guy Debord zwischen Nihilismus und Wahnsinn auf der Suche nach dem schönen Leben
Manchmal findet man an unerwarteter Stelle Einsichten, die den Keim der Subversion in sich tragen, ohne daß es dem Autor ganz bewußt zu sein scheint. Ein solcher Fall ist der kleine Nachruf, den Richard Herzinger – Autor bei der Welt, Betreiber des Blogs Freie Welt und „Hardcore-Zionist“, wie seine Feinde empört meinen – auf Amy Winehouse verfaßt hat: „Das Leben war ihr nicht Droge genug. Ich meinerseits kann ihre furchtbare Unruhe, ihren nicht zu betäubenden inneren Aufruhr gut verstehen. Es ist nicht leicht, das Dasein auszuhalten, wenn man sich mit seiner in Wahrheit sinnlosen Absurdität und seinen kläglichen Gemeinheiten nicht abfinden kann. Und es trotzdem in vollen Zügen genießen will. At heart she was a punk. Und deshalb womöglich untherapierbar. [...] Aber sie hatte doch keine andere Waffe bei ihrer Revolte gegen den Druck, Vernunft anzunehmen und mitzumachen, so wie alle anderen auch.“ (1) Mit dieser Sichtweise auf Fragen des Lebens und Überlebens steht Herzinger offenbar einer Einschätzung der Welt nahe, die Guy Debord einmal so formulierte: „Hier sind wir nichts mehr: Kolonisierte, die nicht fähig waren zu revoltieren, Jasager der spektakulären Entfremdung.“ (2) Damit ist der politisch radikal-liberale Herzinger vielleicht auch für die Versuche Debords und der Situationisten, endlich „aus unserer traurigen vorgeschichtlichen Periode auszubrechen“ (3) und den Verein freier Menschen Wirklichkeit werden zu lassen, empfänglicher als beispielsweise die Schreiber der Nachrufe auf Winehouse, die in den sonst eher in Konfrontation stehenden Blättern Junge Welt und Jungle World mit gleichen Worten kühl konstatieren, es habe sich um einen „Tod mit Ansage“ (4) gehandelt. Die Jungle World schließt noch mit dem als Stoßseufzer verpackten Satz: „Ach, hätte Amy Winehouse doch ein etwas langweiligeres Leben gehabt“ (5), also in etwa das rät, was die Brauerei-Industrie in einer neuen Welle der Freiwilligen Selbstkontrolle auf ihre Bierflaschen drucken läßt: „Bier bewußt genießen“.
„Nihilisten, noch eine Anstrengung, wenn ihr Revolutionäre sein wollt!“
Nun, Debord oder etwas allgemeiner: die Situationisten hätten Winehouse und allen anderen der „Gefahr des Zerfalls – Wahnsinn, Krankheit, Pennbruderdasein, Selbstmord –“ (6) Ausgesetzten, allen, die bewußt oder unbewußt sich nihilistisch zur Welt stellen, sicherlich etwas ganz anderes gewunschen: „Diese Mangelkrankheit in der Ökonomie der Libido“ (7) nannten sie die Langeweile und proklamierten: „DIE LANGEWEILE IST KONTERREVOLUTIONÄR. In jeder Form.“ (8) Über die Parteigänger der Zerstörung und Selbstzerstörung, die in ihrem Leben gegen diese Langeweile anrennen, bemerkt Raoul Vaneigem in seinem Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, einer der bedeutenderen Schriften aus situationistischen Kreisen, die 1967 veröffentlicht, allerdings schon zwischen 1963 und 1965 verfaßt worden ist: „Die Nihilisten sind in letzter Instanz unsere einzigen Verbündeten. Sie leben in der Verzweiflung der Nicht-Aufhebung? Eine kohärente Theorie, die die Fehler in ihrer Betrachtungsweise aufzeigt, kann das Energiepotenzial ihres aufgestauten Grolls ihrem Willen zu leben dienstbar machen. [...] Nihilisten, hätte Sade gesagt, noch eine Anstrengung, wenn ihr Revolutionäre sein wollt!“ (9)
Die Nähe zu den Misfits in dieser Gesellschaft, die die Psychiatrien, Entzugsanstalten und Gefängnisse bevölkern, drückte sich im Umfeld Debords auch praktisch aus. So versuchten die Behörden, einige seiner Freunde aus der Lettristischen Internationale 1950 beinahe für „den Rest ihres Lebens als Verrückte wegzusperren“ (10), nachdem diese bei der Ostermesse die Kanzel von Notre Dame erklommen und dort gotteslästerliche Reden gehalten hatten und danach von einem wütenden christlichen Mob gejagt worden waren. In anderen Fällen mischten sich die Situationisten von außen ein, so als der Italiener Nunzio Guglielmi die ‚Kritik der Waffen‘ gegen die Industrie der integrierten Kunst anwandte, indem er 1958 ein Bild von Raffael in einem Mailänder Museum beschädigte. Debord dazu in einem Brief vom 8. Juli 1958 an Asger Jorn: „Wir haben nie die Person Guglielmi verteidigt, sondern ein Prinzip: Die Tat, die ihm vorgeworfen wird, macht ihn nicht schon zum Verrückten (und es spielt keine Rolle, ob er ansonsten tatsächlich verrückt sein mag [...])“. Als Empfehlung schickt Debord dringend hinterher: „Man darf den konventionellen Begriff von Verrücktheit nicht mehr respektieren als den Katholizismus.“ 11
Die Situationisten waren jedoch weit davon entfernt, letalen Drogenkonsum, Irresein und ähnliches fördern oder fordern zu wollen, sondern nahmen zunächst nur das Vorhandensein dieser Phänomene in der Welt als Syndrome wahr und ernst. Sie wußten um die tödlichen Gefahren des individuellen Aufbegehrens in dieser totalisierten, die Menschen in ihren individuellsten Aspekten erfassenden Gesellschaft, in der die Menschen ihre Mündigkeit fast vollends an Spezialisten und Experten aus dem „lächerlichen ‚tertiären Sektor‘“ 12 abgegeben haben, so daß, nur zwei Beispiele aus der heutigen Welt, Schwangerschaften Frauen, Männer und schließlich auch Kinder zu Dauerbetreuungs- und -kontrollfällen machen und Bücher wie Meine perfekte Hochzeit zu Bestsellern werden können, deren Käufer offenbar kein großes Zutrauen in ihre individuelle Gestaltungskraft mehr haben. Die Situationisten waren sich aber auch gewiß, daß Akte des Widerstands oder der Verweigerung beinahe in Permanenz bei den einzelnen Menschen im Alltagsleben auf oft verdruckste Art und Weise geschehen und es daher darum gehe, diese „Gesten [...], die jeden Augenblick und von Tausenden von Menschen angedeutet werden, um zu vermeiden, daß ein Tag nur zu 24 Stunden verpfuschten Lebens wird“ 13, in freier Assoziation in Richtung auf eine kollektive Abschaffung der herrschenden Verhältnisse zu verlängern. So hätten sie vermutlich auch Amy Winehouse die „Verwirklichung des subjektiven Willens durch die Veränderung der Welt“ empfohlen, denn „wer zögert, den Brand, der ihn verzehrt, nach draußen zu schleudern, dem bleibt nur die Wahl zu verzehren, sich nach den Gesetzen des Konsumierbaren in Nessos’ Tunika der Ideologien zu verbrennen – gleich um welche Ideologien es sich handelt, die der Droge, der Kunst, der Psychoanalyse, der Theosophie oder der Revolution: genau das ändert an der Geschichte nichts.“ (14)
Derselbe Wille zur praktischen Veränderung der Welt speist auch die in Vaneigems Handbuch zahlreich zu findenden Denunziationen des Alkoholismus, um an das Winehouse-Beispiel anzuschließen, als einer der beispielhaften Formen, mit denen die Menschen sich ohnmächtig den herrschenden Verhältnissen gleichmachen. Allerdings findet man über das ganze Buch hinweg ebenso Lobpreisungen des starken Rausches durch Hart-Alk oder andere Mittel. Auch Debord selbst konnte in seinem späten Buch Panegyrikus festhalten, daß er deutlich mehr gebechert hat, als der Arzt erlaubt: „Was [...] mein Leben durchgehend geprägt hat, war die schnell angenommene Gewohnheit des Trinkens. [...] Was ich von den wenigen Dingen, die ich mochte und auch beherrschte, am besten beherrschte, war das Trinken. Obwohl ich ausgesprochen viel gelesen habe, habe ich noch mehr getrunken“ (15). Die simple Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs steckt in dem Suffix -ismus: Wie allen anderen Ideologien stehen die Situationisten auch einer Privatideologie des Alkoholismus ablehnend gegenüber, ohne daß sie das in ihrem eigenen Konsum beeinträchtigen würde. Analog könnte man darauf verweisen, daß die Situationisten zwar alle vorhandenen Spielarten des Kommunismus kritisieren und ablehnen, dennoch aber unbeeindruckt ein kommunistisches Leben zu führen versuchten. (16) Es handelt sich aber nicht um Wortklauberei, wenn Debord, Vaneigem und Konsorten auf so scheinbar feinen Differenzierungen bestehen wollten. Vielmehr drückt sich in dieser Abwehr alles Ideologischen das radikale Ausgehen vom Subjekt aus, in dem sie die einzige Möglichkeit sahen, daß die Menschen aus ihrer bisher nicht enden wollenden Misere aus Hierarchie und Ausbeutung ausbrechen könnten.
„Der Rhythmus unseres Lebens, das wir als Freies wollen“
Einerseits baut diese Konzentration aufs Subjekt in ihrer Radikalität erwartungsgemäß auf all den Niederlagen, dem Scheitern, den Verbrechen auf, die mit der modernen organisierten kommunistischen und anarchistischen Geschichte verbunden sind. Andererseits ist sie aber auch schlicht eine Fortsetzung des Wirkens anderer radikal subjektiver Kräfte, die ohne die Situationisten vollständig der Vergessenheit anheimgefallen wären – und es mit ihnen auch schon fast wieder sind. Zu diesen Kräften gehören die in den Wirren des spanischen Bürgerkriegs entstandenen Splittergruppen des Anarchismus wie die Unkontrollierten der Eisenkolonne oder die Freunde Durrutis, die sich nicht auf den Deal einlassen wollten, man müsse zunächst den Bürgerkrieg gegen die Franquisten gewinnen, dann erst könne man sich um die Revolution kümmern. Solange, so lautete die an sie gerichtete Forderung, sollten die Anarchisten auf so eigenartige Marotten wie ein hierarchiefreies Militär verzichten. Die genannten Gruppen und Individuen verweigerten sich dem mit aller Kraft, weil sie ihr Ziel nicht nach taktischen Prioritäten aufspalten wollten und es vor allem ablehnten, „den Rhythmus unseres Lebens, das wir als Freies wollten und wollen, unter[zu]ordnen unter die blödsinnige Willkür von irgendwelchen Leuten, die sich dumm und überheblich als Eigentümer von Menschen betrachtet haben“ (17). Damit gewannen die Unkontrollierbaren den Krieg zwar auch nicht, bekamen aber im Nachhinein insofern recht, da sich die autoritäre Linie der Republikaner und Stalinisten (die ohnehin nach und nach immer weniger unterscheidbar wurden) ja durchsetzte – mit dem bekannten Ergebnis des verheerenden Siegs der Francotruppen.
Diese völlige Kompromißlosigkeit in Grundsatzfragen teilten die Situationisten mit solchen Randgruppen aus Spanien. Guy Debord und Alice Becker-Ho drückten diese Nähe aus, indem sie eine Übersetzung des Aufrufs eines Unkontrollierten der Eisenkolonne aus dem Jahr 1937 Ende der 1970er Jahre in Frankreich veröffentlichten und ihn als „den wahrhaftigsten und schönsten Text, den die spanische proletarische Revolution uns hinterlassen hat“, bezeichneten. Nicht nur in der unverrückbar ablehnenden Haltung der Unkontrollierten zu der von ihnen geforderten Militarisierung haben sich Debord und Becker-Ho wiederfinden können, sondern auch in deren Verständnis von Erfahrung und Theorie: „Das Leben lehrt die Menschen mehr als alle Theorien, mehr als alle Bücher. Jene, die in die Praxis hineintragen wollen, was sie von anderen gelernt haben, indem sie schluckten, was in den Büchern geschrieben steht, irren sich; die, die in Bücher hineintragen, was sie in den Windungen des Lebenswegs gelernt haben, können vielleicht ein Meisterwerk schaffen. Realität und Träumerei sind verschiedene Dinge. Träumen ist schön und gut, denn der Traum ist fast immer die Vorahnung dessen, was sein soll; das Erhabendste jedoch ist es, das Leben schön zu machen, aus dem Leben tatsächlich ein schönes Werk zu machen.“ (18)
Versteht man diese Gemeinsamkeiten zwischen den Situationisten und solchen marginalen Erscheinungen des spanischen Anarchismus, lassen sich wiederum auch all die berühmt-berüchtigten Spaltungen und Rausschmisse der Situationistischen Internationale erklären: Es ging dabei nicht um autoritäre Beschlüsse oder eine gruppeninterne Hierarchie, sondern um die Überzeugung, daß das ganze Projekt gescheitert sei, wenn in fundamentalen Punkten oder Haltungen Zugeständnisse gemacht oder falsche Prioritäten gesetzt würden, wodurch man den das Leben beherrschenden Entfremdungen nur noch eine weitere hinzufügte. In Analogie zu dem Antagonismus, vor den die spanischen Anarchisten gestellt wurden: Bürgerkrieg oder Revolution war die Alternative bei den Situationisten zum Beispiel beim recht frühen Rauswurf der Mitglieder der deutschen Gruppe Spur, die eine Tendenz zur selektiven künstlerischen Umgestaltung des Lebens aufwiesen: Kunst oder Revolution, wobei die Affirmierung des Ersteren allenfalls zur Integration in den ohnehin zu dieser Zeit schon längst auf Neuigkeiten und Skurrilitäten geeichten Kulturbetrieb führen konnte, wie es dann auch den Spur-Mitgliedern (Kunzelmann ausgenommen, der andere verschlungene und verworrene Wege nehmen sollte) im Großen und Ganzen geschah, die – in Debords Worten – „Spezialisten eines einzigen Ziels geworden waren“ (19).
Müßiggang und Kritik mit der Axt
Es wäre falsch, diese zu beinahe allem entschlossene Weigerung, Kompromisse in grundsätzlichen Fragen einzugehen, bei den Situationisten als Voluntarismus abzutun, also als die willkürliche Festsetzung dieser Individuen, daß sie nicht zum schlechten Ganzen gehören und durch einen Akt des totalen Bruchs rein bleiben wollten und könnten. Stattdessen ist diese Haltung eine Folgerung aus den Erkenntnissen, die die Situationisten aus der Erfahrung und Beobachtung der Gesellschaft in Europa nach dem 2. Weltkrieg gezogen haben. Das Schlagwort von der Gesellschaft des Spektakels ist vor allem durch die gleichnamige Schrift Debords von 1967 bekannt, doch ist es weiter gefaßt zu verstehen, als dies gemeinhin geschieht. Angefangen damit, daß Debord nicht sein Erfinder ist und der Begriff sich bei den Situationisten schon vor Debords Text etabliert hatte, ist die „Gesellschaft des Spektakels“ keine Medientheorie. Auch als Gesellschaftskritik ist sie nur beschränkt zu bezeichnen, sofern der Begriff Kritik mit einer rein negativen Denkart, ob dialektisch oder nicht, verbunden wird, bei der sich das Individuum bemüht, nicht völlig in den schlechten Verhältnissen aufzugehen, indem es sie wenigstens gedanklich durchdringt, also sich darauf beschränkt, sich selbst nicht dumm machen zu lassen. Auch wenn jüngst wieder ein Rezensent der Briefe ein wenig mokierend festhielt, daß doch die Situationisten im Ganzen „weniger als ein halbes Dutzend Aktionen“ (20) vorzuweisen hätten, unternahmen sie zumindest den Versuch, das Denken nicht zu entwerten, indem man es vom Handeln, vom konkreten Leben abspaltet, sondern es dem gesellschaftlichen Mechanismus der Trennungen zu entziehen, der einen der zentralen Vorgänge darstellt, warum ‚das Leben nicht lebt‘. Und dieser Versuch hatte durchaus Konsequenzen in ihrem Handeln und Leben: So konnte Debord 1974 auf eine offizielle Nachfrage der Rentenkasse nach einer Liste seiner Berufstätigkeiten wahrheitsgemäß nur auf „zweiundvierzig Jahre des Müßiggangs“ verweisen – „meine familiäre Herkunft, meine geringe Vorliebe für jede Art von Karriere etc. haben bei mir weder die Verpflichtung noch die Lust erzeugt, mich irgendeiner Arbeit hinzugeben“ (21).
Die selbstbewußte, unmittelbare, je subjektive Verwirklichung von freien Verhältnissen, die Überwindung der Familie, die Abschaffung der Hierarchien im Verhältnis zueinander, die Gestaltung des Lebens durch Kooperation von Gleichen, kurz: das Vor- und Ausleben dessen, was man statt der Alten Welt haben will, soweit es die Beschränkungen der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zulassen, dieses an die Individuen gerichtete Programm verweist noch auf einen anderen Vorläufer der Situationisten, der bislang selten in den Blick gerät, aber in ihren Schriften, bis hinein in die Briefe Debords, sehr präsent ist: Wilhelm Reich, der im Prinzip schon in seiner Massenpsychologie des Faschismus – einem Text, der 1932/1933 retrospektiv vor allem eine Fundamentalkritik an den Kommunisten darstellt, nachdem sich die Nationalsozialisten durchgesetzt hatten – ähnliche Vorstellungen von der Verwirklichung einer Organisierung freier Individuen im Alltagsleben anstelle ihrer bisherigen Existenz als „Menschentiere“, wie er das nannte, als unabdingbaren Bestandteil einer revolutionären Möglichkeit entwickelte. (22)
Auch, was sich in Wort, Bild und Schrift von den Situationisten gehalten hat, ist ganz im Sinne Reichs von dem Willen geprägt, das Politische keinesfalls vom sonstigen Alltag trennen zu lassen: Es entstand bis in die Form hinein aus dem von subjektivem Antrieb gespeisten Bemühen, durch Assoziierung mit anderen das ganze Leben – auch und zunächst das eigene – umzugestalten und sollte nicht Gegenstand akademischer oder (pop-)kultureller Debatten werden, sondern unmittelbar wirksam sein – deswegen auch der Stil, den Debord einmal als Ideal so beschrieb: „Kritik mit der Axt (Nietzsche würde ‚mit Hammerschlägen‘ sagen), drohende Denunziation, Beschimpfung, Prophezeihung ad hominem.“ (23) Ob diese Wirksamkeit allemal erreicht worden ist, läßt sich sicher in Frage stellen. So beginnt zwar Vaneigem sein Handbuch mit den Worten: „Ich denke nicht daran, den erlebten Inhalt dieses Buches Leser spüren zu lassen, die nicht ganz bewußt darauf ausgehen, ihn zu neuem Leben zu erwecken. Ich erwarte, daß er sich verliert und in dem Geist einer allgemeinen Bewegung wiederfindet“ (24). Aber im Text selbst erweist Vaneigem sich, zumal im Vergleich zu den Schriften Debords, als doch bei weitem behäbiger, redundanter und beinahe akademisch beflissener, so daß in Zweifel zu ziehen ist, ob dieses Büchlein unmittelbar Feuer in die Herzen oder Poesie ins Leben getragen hat. Dies allerdings tut der Tatsache keinen Abbruch, daß das Verfassen des Texts wenigstens für seinen Autor ein an sein sonstiges Leben gebundener Akt war, dessen objektive Beschränktheit er aber 1972 noch durch einen Toast auf die revolutionären Arbeiter, den er ans Ende des Textes stellte, relativierte, in dem er sich an das Proletariat wendet, das möglicherweise seine Schrift gar nicht lese, und von dem er zwar getrennt, jedoch zur Erfüllung seiner Ziele abhängig sei – wie auch das Proletariat seinerseits, will es sich selbst abschaffen, gezwungen sein werde, die altbekannte Trennung zwischen Hand und Kopf, um es ein wenig veraltet auszudrücken, zu überwinden: „Arbeiter von Asturien, Limburg, Posen, Lyon, Detroit, Csepel, Leningrad, Kanton, Buenos Aires, Johannisburg, Liverpool, Kiruna, Coimbra, an Euch ist es, dem gesamten Proletariat die Macht zu verleihen, die Lust an der für sich und für alle gemachten Revolution um die Lust zu erweitern, die tagtäglich der Liebe entspringt, der Zerstörung der Zwänge, dem Genuß der Leidenschaften.“ (25)
Die schlechte Gesellschaft des organisierten Überlebens
Mag aber auch Vaneigem in seiner Intention, die Leser produktiv zu beunruhigen, gescheitert sein, mag auch völlig ungeklärt sein, ob und wieviel nun die Situationisten selbst zu den im Pariser Mai 1968 in gewisser Hinsicht kulminierenden Ereignissen beigetragen haben: Sicher ist jedenfalls, daß sie mit ihrem Beharren auf der Untrennbarkeit des Lebens, der Revolution des Alltagslebens und der damit verbundenen Abwehr von Hierarchie und Ideologie zu genau den Erscheinungen zu zählen sind, durch die sich die spezifischen Ereignisse der 1960er Jahre abheben von fast allem, was davor und auch danach an Protesten kam. Ein guter Indikator sind – im Prinzip weltweit, aber am prägnantesten in Bezug auf die Proteste in den USA – die verblüfften oder erzürnten Äußerungen von Konservativen, ob sie nun eher den liberalen, den sozial-demokratischen oder republikanischen Flügeln der Einheitspartei zuzurechnen waren, angesichts der tumultartigen Entwicklungen der 1960er, die ein schwer einzuordnender Autor wie Irving Kristol 1994 noch einmal nüchtern zusammenfaßt: „Es ist nur recht und billig, darauf hinzuweisen, daß nichts passiert war, wovon diese Rebellion ausgelöst worden wäre – es war keine Krise in Sicht, nicht einmal die Ahnung einer Krise, weder in der Ökonomie, der Gesellschaft oder der Politik des Westens“ (26). Nathan Glazer, ein anderer Autor, der sein Leben lang zwischen Linksliberalismus und Konservatismus oszillierte, hielt diesen Aspekt 1968 anhand der für ihn als Wendepunkt fungierenden Revolte in Berkeley 1964 so fest: „Der Aufstand der Studenten in Berkeley geschah in einem wohlhabenden Land, daß [...] seine Gebildeten gut behandelte. [...] Aber ebenso wie in Deutschland und Frankreich 1968 schafften es die studentischen Aktivisten in Berkeley, in einer von den meisten Leuten als völlig ruhig empfundenen politischen Atmosphäre aus dem Nichts große Fragen aufzuwerfen. [...] Die Taktik war neu. Es wurden Mittel gefunden, die Rebellion gegen eine demokratische Wohlstandsgesellschaft in Szene zu setzen, indem diese Gesellschaft zu Maßnahmen gezwungen wurde, die sie als repressiv und autoritär erscheinen ließ. [...] Alles in allem ist Berkeley für mich das erste Beispiel einer Studentenrevolte, die in einer Situation stattfindet, in der die Studenten privilegiert sind, ihre Zukunft gesichert ist und sie in einer liberalen parlamentarischen Demokratie leben“ (27).
Der Tenor der Klagen, die die Bürger der erschrockenen Wohlstandsgesellschaft erhoben, war ein fundamentales Unverständnis, was denn all diesen weißen Mittelstands- und Elitekids einfiele, auf diese Art und Weise die Gesellschaftsordnung der USA in Frage zu stellen – gerade jetzt, da die Vorgängergenerationen durch ihren Fleiß und Erfindungsgeist einen vormals völlig unbekannten Reichtum hervorgebracht hätten und das Leben nun befreit sei von den die Menschheit über Jahrtausende drückenden Leiden, von Not und Elend. Dies ist genau die Krux: Eben angesichts dieser materiellen Fülle, verbunden mit der sie ermöglichenden Entwicklung der Produktivkräfte, entstand eine Bewegung von jungen Leuten, die darauf spuckten, was ihnen als „glänzende Karriereaussichten“ feilgeboten wurde, und in dem, was Wohlstand genannt wird, nur eine „statistische Ausdehnung des Überlebens“ (28) und keineswegs eine qualitative Verbesserung des Lebens sehen konnten. Gegen diese „Gesellschaft der Entfremdung, deren untrennbares Projekt es ist, das Leben der Menschen zu verhindern, indem sie gleichzeitig ihr Überleben organisiert“ (29), gegen den Zwang zur Arbeit und zur Fügsamkeit in die gesellschaftlichen Hierarchien, sollte die „Macht des alltäglichen Lebens“ (30) in Stellung gebracht werden. (31) Gebrauchs-Ikonen des Komforts wie Fernsehen, Kühlschränke, Autos etc. (heute zu ergänzen um bewußtseinsverändernde Digitalwaren wie I-Pods, Play-Stations, Laptops, Facebook und die Individuen formende Sendeformate von Big Brother bis Germany’s Next Topmodel, mit denen die Enteignung und Entfremdung der Menschen von ihren eigenen Köpfen und Persönlichkeiten auf ein völlig neues Niveau gehoben wurde (32)) konnten den Fortbestand des ‚sozialer Frieden‘ genannten hyperaktiven Stillstands nicht mehr garantieren. Im Grunde folgten die fortschrittlichsten Kräfte der damaligen Revolte, die sich auch vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs entfaltete, einem Urteil Debords über den Zustand der Welt aus den 1970ern: „Nicht, um uns im Schlaraffenland leben zu lassen, muß ein Teil des Planeten an Hunger sterben; sondern, um uns im Dreck leben zu lassen.“ (33) Ein Dreck, angefüllt mit immer mehr Waren und „Gadgets“, die sich in immer schnellerer Folge ablösen, ohne daß dies die Menschen zu Glück oder Erfüllung bringen würde: „Die Entfremdung macht die Bedürfnisse unzählbar, weil sie kein einziges befriedigt; heute lässt sich die Unbefriedigtheit an der Auto-, Kühlschrank- und Fernseherzahl messen. [...] Heute ist der Reiche derjenige, der die größte ZAHL armer Gegenstände besitzt. Bisher hat uns das Überleben daran gehindert zu leben. Deshalb ist viel von der Unmöglichkeit des Überlebens zu erwarten, die von nun an mit einer um so weniger bestreitbaren Augenscheinlichkeit beginnt, da der Komfort und die Überfülle der Überlebenselemente uns zwangsläufig entweder in den Selbstmord oder die Revolution treiben“ (34) – eine Alternative, die sich vielleicht heute auf erweiterter Stufenleiter aufs Neue stellt: Indikatoren dafür, daß die Organisierung des Überlebens in eine neuartige Krise geraten ist, lassen sich auf allen Ebenen der Gesellschaft finden, angefangen bei der offenbar nun auch offiziell als solche gehandelten spektakulären Dauerkrise im Bereich der Ökonomie und der Finanzwirtschaft – der „pseudo-ökonomischen Illusion“ (35) – über die Ausbreitung von bis vor wenigen Jahren noch als Extremfälle gehandelten Leiden zur Volkskrankheit wie im Falle von Depressionen oder Magersucht, der nach jüngsten Beobachtungen in relevanter Zahl nun auch Kleinkinder anheimfallen, bis hin zu immer wieder aufflammenden konfusen Großrandalen der bedeutungslosen und ideenfreien Armen, die so „wirklich nur noch arm“ (36) sind, wie im August in England, einer Heimstätte des Punks und Geburtsland von Amy Winehouse, die immerhin die Mitteilung enthalten: No Future – zumindest nicht in dieser Ordnung und Ökonomie, worauf zahlreiche Angriffe auf Polizeistationen oder die Zerstörung eines zentralen Warenlagers von Sony hindeuten (37). Bei Lenin hieß es einmal: „Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ (38) Der damalige Situationist Vaneigem, ansonsten ein Gegner Lenins, würde diesem Diktum zustimmen und heute vielleicht, infiziert von der von Lenin diagnostizierten Kinderkrankheit, wie 1967 ergänzen: „In dem verzweifelten Bewußtsein der jungen Generation versöhnen sich allmählich die Bewegung der Auflösung und die Bewegung der Verwirklichung der Geschichte. Nihilismus und Aufhebung vereinigen sich, deshalb wird die Aufhebung total sein. Darin liegt ohne Zweifel der einzige Reichtum der Gesellschaft des Überflusses.“ (39)
Erschienen in Testcard #22, Dezember 2011
Anmerkungen:
(1) Richard Herzinger: Amy Winehouse (1983-2011), http://freie.welt.de/2011/07/24/amy-winehouse-1983-2011/ (24. Juli 2011)
(2) Guy Debord: Ausgewählte Briefe 1957-1994, Berlin: Edition Tiamat 2011, S. 269
(3) Ebd., S. 86
(4) Andreas Hartmann: „Am Tag, als Amy Winehouse starb“, in: Jungle World Nr. 30 (28. Juli 2011). – Nikolaus Korber: „Mit Ansage. Zum Tod von Amy Winehouse“, in: Junge Welt vom 25. Juli 2011, S. 13
(5) Hartmann, ebd.
(6) „Basisbanalitäten II“, in: Situationistische Internationale Nummer 8 (1963). – Alle Texte der Zeitschrift Situationistische Internationale finden sich online: http://www.si-revue.de/ – Eine Auswahl – inklusive Texten von Debord – in gedruckter Form läßt sich hier ordern: www.magazinredaktion.tk
(7) „Wie man situationistische Bücher nicht versteht“, in: Situationistische Internationale Nummer 12 (1969)
(8) „Es werden bessere Tage kommen“, in: Situationistische Internationale Nummer 7, (1962)
(9) Raoul Vaneigem: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationens, Hamburg: Edition Nautilus 2008, S. 221
(10) Debord, Ausgewählte Briefe, S. 11
(11) Ebd. S. 13
(12) Ebd. S. 275
(13) „Basisbanalitäten II“, in: Situationistische Internationale Nummer 8 (1963)
(14) Vaneigem, Handbuch, S. 331
(15) Guy Debord: Panegyrikus, Berlin: Edition Tiamat 1997, S. 41f
(16) Hier kann einem nicht nur Marx mit dem von ihm überlieferten wohlbekannten Ausspruch „Je ne suis pas Marxiste“ in den Sinn kommen, sondern auf andere Weise auch die Situationisten selbst, so Debord, wenn er in seinen Briefen hervorhebt, „daß es den Situationismus im Sinne eines Lehrgebäudes nicht gibt, nicht geben darf. Es gibt eine experimentelle Haltung, situationistisch genannt wegen ihrer Organisationsform. [...] Ich habe in meinem Rapport das Wort ‚Situationismus‘ nur ein einziges Mal – in Anführungszeichen – verwendet und es so vorweg als eine der Dummheiten entlarvt, die unsere Gegner uns zweifelsohne entgegenhalten werden“ (Guy Debord, Ausgewählte Briefe, S. 5f).
(17) Einspruch gegen die Kapitulationen von 1937 vor den Libertären der Gegenwart und der Zukunft. Von einem „Unkontrollierten“ der Eisenkolonne, Berlin: Zweisprachige Ausgabe, Populaerer/Belair 2008, S. 15. Zu finden unter: http://raumgegenzement.blogsport.de
(18) Ebd., S. 5f
(19) Debord, Ausgewählte Briefe, S. 48 – Auch die Nonchalance, mit der die Auflösung der Situationistischen Internationale vollzogen wurde, und das auf diese folgende Ausbleiben jeder Nostalgie erklärt sich so. Forget the friends you’ve left. They will not follow you.
(20) Rudolf Walther: „Nach der ‚Debordmania‘“, in: taz, 2. August 2011, S. 15
(21) Debord, Ausgewählte Briefe, S. 150
(22) Daß auch Reichs spätere Auffassungen – zum Beispiel die vom „Ich-Panzer“, den es zu durchbrechen und zerstören gelte – von den Situationisten aufgenommen wurden, sei hier nur kurz erwähnt – wie auch die vielleicht nicht nebensächliche biographische Parallele zwischen Reich und Debord, die beide die meiste Zeit ihres Lebens im Visier der Geheimdienste und Polizeien standen und mit zunehmenden Alter immer stärker dem Verdacht ausgesetzt waren, sie seien vom Verfolgungs- und Verschwörungswahn ergriffen worden.
(23) Ebd., S. 258
(24) Vaneigem, Handbuch, S. 15
(25) Ebd., S. 341
(26) Irving Kristol: „Countercultures“, in: Commentary, Dezember 1994, S. 35
(27) Nathan Glazer: „Student Power in Berkeley“, in: Daniel Bell und Irving Kristol (Hgb.): Confrontation. The Student Rebellion and the Universities, New York 1969, S. 3ff
(28) „Herrschaft über die Natur, Individuen und Klassen“, in: Situationistische Internationale Nummer 8 (1963)
(29) „Geopolitik der Schlaftherapie“, in: Situationistische Internationale Nummer 7 (1962)
(30) „Basisbanalitäten II“, in: Situationistische Internationale Nummer 8 (1963)
(31) Vaneigem verweist in seinem Handbuch auf eine schon zu dieser Zeit und heute nur noch maximierte Absurdität: „Eine 1938 veröffentlichte Statistik besagt, daß die notwendige Arbeitszeit bei Anwendung moderner Produktionsmethoden auf drei Stunden pro Tag verringert werden könnte.“ (Vaneigem, Handbuch, S. 66f)
(32) Siehe dazu auf jeden Fall: http://www.notbored.org/facebook.html
(33) Debord, Ausgewählte Briefe, S. 263
(34) „Basisbanalitäten“, in: Situationistische Internationale Nummer 7 (1962). – Einen späten Nachhall mag dieser Satz 1994 gefunden haben, als Debord die Option des Selbstmords wählte, um seinem Leben ein Ende zu setzen.
(35) Debord, Ausgewählte Briefe, S. 267
(36) Wolfgang Pohrt: FAQ, Berlin: Edition Tiamat 2004, S.
(37) Prompt werden auch wie in den 1960ern von konservativer Seite die Protagonisten dieser Zerstörung wieder als „Kinder eines falschen Anspruchsdenkens“ zur Ordnung gerufen (Clemens Wergin: „Plünderer sehen sich als Opfer – zu Unrecht“, http://www.welt.de/debatte/kommentare/article13536948/Pluenderer-sehen-sich-als-Opfer-zu-Unrecht.html [10. August 2011]). – Ganz richtig hingegen hat ein an den Krawallen unbeteiligter ältererer Anwohner auf BBC einem sich als Schutzmacht gegen die Zerstörung anbietenden Polizisten entgegnet: „Schützen? Wovor? Uns gehört hier nichts.“
(38) W. I. Lenin: „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, in: W.I.L.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, herausgegeben von: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 5, Berlin 1974, S. 538f
(39) Vaneigem, Handbuch, S. 216