An die Teilnehmer der landesweiten Konferenz von Pouvoir Ouvrier (1)
Paris, den 5. Mai 1961
Genossen,
wie die große Mehrheit der Teilnehmer sicher weiß, war die vergangene landesweite Konferenz (2) von PO sehr unbefriedigend. Mehr noch als die schwachen Thesen, die diskutiert wurden, war es die Art und Weise der Diskussion selbst, die permanent gezeigt hat, wie fundamental die tatsächliche Organisation von PO von dem abweicht, was in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie als neue revolutionäre Organisationsform verteidigt und beschrieben wird. Dieser Vorwurf ist überhaupt nicht neu und die Organisation hat sich nie gescheut, in diesem Punkt eine ganz allgemeine Selbstkritik offen zu formulieren.
Leider ist es aber durchaus neu, daraus Konsequenzen zu ziehen. Die Fragen nach dem Innenleben einer Organisation und ihrer Arbeit nach außen sind nicht zu trennen. Sie werden beherrscht vom Misstrauen gegenüber jeglichen Neuerungen – auch gegenüber solchen, die in den eigenen Programmentwürfen explizit angestrebt werden – und davon, dass so gut wie kein Gebrauch von der Beteiligung und der Kreativität der Mitglieder gemacht wird, die sich doch gerade auf der Grundlage umfassender Beteiligung zusammenfinden.
Das Überdauern der Vorstellung einer spezialisierten revolutionären Tätigkeit in der Praxis führt bei PO keineswegs zur Bildung eines bürokratischen Kerns (denn PO hat das ausgeschlossen, was das logische Ende eines spezialisierten Aktivisten ist: den Funktionär), aber es öffnet die Tür für diverse Spielarten des Dogmatismus. Die wahre Trennlinie innerhalb von PO – in der echte politische Differenzen gar nicht erst entstehen – verläuft offensichtlich zwischen zwei Altersstufen; in letzter Instanz hat sie aber mit Alter nichts zu tun: Es ist eine uneingestandene und noch nicht einmal nützliche Trennung zwischen Lehrern und Schülern!
Die gesellschaftliche Spaltung in Anleitende und Ausführende ist als solche innerhalb von PO beinahe abgeschafft (durch eine revolutionäre Ideologie, die Statuten und das geringe Ausmaß der Organisation und der aktuellen Aufgaben). Aber sie taucht in der Spaltung zwischen „Machern“ und Zuschauern zwangsläufig wieder auf. Dieses Spektakel hat durchaus äußerst lehrreiche Seiten; aber die andauernde Rechtfertigung des Spektakels in Hinblick auf seine Bildungsfunktion gehört zum Betrieb, nicht zum revolutionären Projekt, ebenso wie klassischerweise jede Bildung im Modus des Spektakels daherkommt.
Im Spektakel von PO gibt es also Stars – ich muss nicht wiederholen, dass mir einige davon recht interessant scheinen. Es ist allerdings bedauerlich, dass ihre Beziehung zu den Zuschauern, die sie angelockt haben (selbst wenn es um Punkte geht, wo sie mit einem dieser Zuschauer völlig übereinstimmen), kaum eine Rolle spielt in dem immergleichen Spiel, das sie ganz für sich spielen. Weil der spektakuläre Streit zwischen den Stars nie irgendwelche Konsequenzen hat, wird nie ein Star den anderen überzeugen: Sie neutralisieren sich jedes Mal aufs Neue. Daher endet die Intervention von Zuschauern, selbst im besten Fall, nämlich wenn sie von einem der Stars aufgegriffen wird, auch nur bei der Entscheidungsunfähigkeit, die auch diese unbesiegbaren Kämpfer auszeichnet.
Die offiziellen Treffen von PO haben wirklich etwas Episches; nicht nur wegen des Zanks der Götter, die hier aufeinandertreffen, sondern wegen der Unsterblichkeit dieses Kampfes, der, so scheint es, angetreten wurde, um auf ewig über die Häupter von Generationen von – sterblichen – Aktivisten hinweg ausgetragen zu werden. (Ein Beispiel für diesen eingeschliffenen Mechanismus: Bei einigen Elite-Mitgliedern von PO wird es – leider – akzeptiert, wenn sie aus taktischen Gründen heftig werden; sie haben sich das Recht dazu vor langer Zeit erzwungen. Ich glaube, das schüchtert viele Genossen ein, die dann lieber schweigen oder sich bei den wichtigsten Fragen selbst zensieren. Wenn man jedoch dieser Taktik mit ihren eigenen Mitteln begegnet, wird der ungewohnte Ton meist als frech oder sogar böswillig aufgenommen.)
Um eines klarzustellen: Ich bestreite in keiner Weise, dass es einigen jungen Aktivisten möglich ist, recht schnell zur Gruppe der Stars aufzusteigen. Was ich bestreite, ist, dass solche Beförderungen irgendeinen Sinn haben.
Diese drückende Rollenverteilung – und nicht etwa irgendeine mit jeder kollektiven Aktion verbundene Unvermeidlichkeit – verdrängt jede informelle Kommunikation, sei sie noch so interessant und effektiv (selbstverständlich auch noch zwischen den „Stars“ selbst, von deren Verhältnis im offiziellen Spektakel von PO nur ein verarmter Rest durchscheint). Diese überwältigende, unbewusste und unkritisierte Rolle der Gewohnheit in allen Beziehungen zwischen den Genossen von PO erklärt das – auf den ersten Blick unmöglich scheinende – Überleben bestimmter Denkgewohnheiten, die nicht zu dem Projekt passen, das PO in der Theorie entwickelt hat.
Aus „menschlicher“ Sicht kann man viele der Fehler von PO (den Vorrang einiger verbitterter oder automatisierter persönlicher Kontakte) „verstehen“, wenn man sie als Resultat der Isolation betrachtet, die diese kleine Gruppe einst tapfer auf sich genommen hat. Aus politischer Sicht gibt es aber keine Ausrede dafür, diese Probleme seelenruhig vor sich hingammeln zu lassen, weil sie die Entwicklung von einer Gruppe, die sich vorübergehend auf „Kritik und Kursbestimmung“ konzentriert, zu einer revolutionären Organisation behindern.
Die Aufgabe von Revolutionären ist derzeit, wie PO selbst sagt, die Entwicklung einer Organisation „auf einer anderen Stufe“ der Politik. Diese Aufgabe kann nicht bis zur Stunde Null warten; man muss sie jetzt erledigen oder wird es vermutlich nie machen, denn die Zeit arbeitet nicht für, sondern gegen jede Organisation, die diesen qualitativen Sprung noch nicht gemacht hat.
Die abwartende Haltung vieler Genossen, die glauben, mit der zahlenmäßigen Zunahme würde sich auch eine Praxis einstellen, die mit den grundlegenden Zielen von PO eher übereinstimmt, scheint mir kaum berechtigt. Ich habe festgestellt, dass es bei PO bereits Leute gibt, die sehr wohl in der Lage sind, alle Implikationen dieser Plattform zu begreifen. Gäbe es sie nicht, könnte man darüber reden, ob es nötig ist, auf sie zu warten. Aber es gibt sie. Allerdings äußern sie sich kaum: PO ist zwar angetreten, um alle Bereiche der gegenwärtigen Gesellschaft in Frage zu stellen, ist aber wenig geneigt, die banalsten eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen. Eine Art Konformismus, in dem sich wahrscheinlich keiner der Genossen einzeln wiedererkennen würde, erscheint in der Funktionsweise der Organisation als ihr entfremdeter Wille.
Die unerfreulichen Folgen für eine Ansammlung von Leuten, die sich doch in der Perspektive einer radikalen Kritik zusammengetan haben, sind offensichtlich. Barjot (3) schreibt in einer Notiz am Ende von BI (4) Nr. 17 (vom Mai ’60): „Die Organisation muss wachsen. Wie groß auch immer ihr ideologischer Reichtum zur Zeit sein mag, er wird sicher gering sein im Vergleich zum Beitrag, den neue Gruppen von Mitgliedern beisteuern können. Wenn wir uns nicht von unserem ererbten Sektierertum verabschieden, werden wir nicht nur unfähig sein, die Ideologie der Organisation zu bereichern, sondern schlicht und einfach auch, diese neuen Mitglieder zu integrieren…“ Man kann es nicht besser formulieren.
Ein bei PO weit verbreitetes Argument lautet, dass man trotz aller Defizite immer noch „die beste“, die bewussteste Organisation sei – und daher die Grundlage bilde für eine spätere, eher den Prinzipien entsprechende Weiterentwicklung. Man setzt offenbar voraus, dass man sich an Menschen richtet, die sich von vornherein als Revolutionäre verstehen (bzw. die jedenfalls entschlossen sind, sich in derjenigen politischen Organisation zu engagieren, die ihren Ideen am nächsten steht). Dieses Argument steht im absoluten Widerspruch zu der allgemeinen Analyse einer Entpolitisierung als Charakteristikum der modernen kapitalistischen Gesellschaft; ebenso steht es im absoluten Widerspruch zum Entwurf einer neuen Organisationsform; diese wird auf einem anderen Geiste gründen müssen als dem des traditionellen Revolutionärs, der überall auf dem Planeten am Verschwinden ist.
Die ebenso lächerliche wie verhängnisvolle Idee, die Realität der Organisation könne (ja müsse) über jede Kritik erhaben sein, hat natürlich zur Folge, dass diese Kritik nur von jenen geübt wird, die die Organisation verlassen, oder von denen, die gar nicht erst eintreten. Die Last dieser Idee ist es auch, die die „Sanierung“ von PO so schwierig macht: Jede Kritik an dem, was die Organisation in ihr „Unbewusstes“ verbannt, wird – von den lähmenden Kräften des Über-Ichs der Organisation, um die zweifelhafte psychoanalytische Analogie fortzuführen – kurzerhand als Sabotage bezeichnet. Nachdem man so jede fundamentale Kritik verhindert hat, macht man bei allem anderen Zugeständnisse. Man sagt uns: Die Organisation ist, wie sie ist, aber immerhin gibt es sie. Anderswo gebe es so etwas nicht. Pikanterweise findet sich in dieser emotionalen Erpressung angesichts der gefühlten Leere jene bolschewistische Illusion Trotzkis – dort wenigstens mit Massenbasis – beim 13. Parteitag wieder („Recht oder Unrecht – es ist meine Partei.“); die Ausschlachtung dieser Illusion kann man seit langem beobachten. Ich glaube, es ist korrekter, sich wie die englischen Genossen in ihrer Plattform zunächst zu fragen, ob ein gescheiterter Versuch neuer revolutionärer Organisierung die Arbeiter nicht noch mehr entmutigt. In der französischen Gruppe liegt die Sache ein wenig anders, da es sich vor allem um Studenten handelt. Die Lehrer-Schüler-Beziehung stört manche gar nicht und sie tut es umso weniger, als sie von einer Ideologie verdeckt wird, die gerade solche Beziehungen ausdrücklich kritisiert. Aber schlussendlich reicht es auch nicht aus, der Organisation einfach eine für die Revolution enorm große Bedeutung zu attestieren, um die Entmutigung selbst von Studenten zu verhindern, die nie so integriert waren, dass sie in der Organisation ihre eigene Sache gesehen hätten. Sicher ist nur: Wenn sie die wahren Gründe ihrer Enttäuschung nicht erkennen, werden sie sich davonstehlen, leise und mit schlechtem Gewissen.
Was die Tatsache betrifft, dass PO für viele einen Ort der Sozialisation, des Spiels etc. bietet: Ich denke nicht, dass das in Hinblick auf eine revolutionäre Kritik der menschlichen Beziehungen Beachtung verdient; diese Kritik führt normalerweise eher dazu, dass man zahlreiche Risiken eingeht, mit anderen zu brechen. Das schließt auch solche Brüche ein, die Barjot am Ende dieser landesweiten Konferenz mit Blick auf einige jüngere Leute zu befürchten schien, als er meinte, dass die Organisation, so sie sich vergrößern wolle, „nicht nur aus Leuten bestehen darf, die ins Berufsleben integriert sind“ (meine taktische Differenz zu Barjot in diesem Punkt würde darin bestehen, daran zu erinnern, dass es noch nicht darum geht, die Organisation zu „vergrößern“, sondern darum, sie aufzubauen).
Um zum Ende zu kommen: Aufgrund der Abwesenheit von Tendenzen in PO, die sich mit den meiner Ansicht nach wirklich zentralen Problemen befassen – weswegen man die Organisation als Ganzes für ihre Funktionsweise verantwortlich machen muss, die ihr nicht bürokratisch aufgezwungen wird – habe ich, als Delegierter, bei der Konferenz für die einfache Beibehaltung des alten Redaktionskomitees gestimmt.
Aufgrund meiner oben ausgeführten Ablehnung der Organisation, wie sie jetzt besteht, sehe ich mich gezwungen, mich aus ihr zurückzuziehen (umso mehr, als ich auf meine situationistischen Genossen Rücksicht nehmen muss; eine Frage, die seit dem Weggang von Canjuers bei PO nie thematisiert wurde, die deshalb aber nicht einfach aus der Welt ist).
Ich präzisiere, sollte all dies irgendeinen Nutzen haben, dass ich nicht aus einer Lefort’schen Perspektive gesprochen habe, sondern aus der Perspektive der Notwendigkeit einer wirklich effizienten Organisation (utopisch ist hingegen, was einige Mitglieder von PO denken). Und ich habe auch nicht irgendeinem Rückzug ins Private das Wort geredet, sondern mich gegen den Anteil von Privatem ausgesprochen, der in PO unkritisiert bleibt: in der Organisation selbst und auch außerhalb – als illusorische Kompensation der unbefriedigten Aktivisten.
In jedem Fall versichere ich Euch, Genossen, meiner großen Sympathie für Euch und für alles, was das Programm Eurer Aktion vertieft und seiner Umsetzung förderlich ist.
Guy
(1) Pouvoir Ouverier, PO (Arbeitermacht). Monatszeitschrift von Socialisme ou Barbarie.
(2) Am 23. April 1961.
(3) Pseudonym von Cornelius Castoriadis.
(4) Bulletin interne (Interne Mitteilungen).