An Afonso Monteiro
8. Mai 74
Lieber Afonso,
unser Telefongespräch wurde ja plötzlich unterbrochen, sei es durch Zufall oder bösen Willen. Auf jeden Fall wird dieses Telefon exzessiv abgehört – beinahe seitdem ich es habe, aber besonders wegen der skandalösen Filmpremiere, in einer Zeit, die ohnehin schon durch viele Unsicherheiten der Regierung erschüttert wird.
In Portugal kann momentan alles passieren, aber nicht auf jede Weise. Die barocke Schönheit der gegenwärtigen Situation – die, so wie sie ist, offensichtlich nicht andauern kann – scheint mir eher ein Produkt der außerordentlichen objektiven Schwäche der portugiesischen Staatsmacht als der außerordentlichen Dummheit Eurer Kapitalisten oder General Spínolas (1) zu sein. Der gegenwärtige Kerenskismus (2) wird von einem Kornilow (3) angeführt (und Alvaro Cunhal (4) ist sicher kein Lenin). Die Armee, die gemäß ihrer Hierarchie und noch nicht gegen diese handelt, hat ganz allein die neuen Verhältnisse geschaffen, die ihr an allen Enden zu entgleiten drohen. Bevor man also diese mutigen Putschisten besingt, die „vom Weststrand Lusitaniens ausgesandt … ein neues Reich, dem so viel Glanz sie gaben,“ (5) errichteten, muss man sich deren offensichtliches Ziel vergegenwärtigen. Der portugiesische Kapitalismus will und muss sich modernisieren – politisch und ökonomisch – er will sich rationalisieren, und er ist so weit abgehängt, dass er dies nur durch ein sehr kühnes und gefährliches Spiel unternehmen kann, das folglich recht hübsche Irrationalismen hervorbringt.
Das Ziel dieses modernsten Sektors des portugiesischen Kapitalismus ist ein Gaullismus, eine autoritäre Demokratie, die in der Lage ist, die ruinösen Formen der vorangegangenen archaischen Herrschaft zu beseitigen (endlose Kolonialkriege und die salazaristische Ordnung) und ihr Spiel im Europäischen Markt zu spielen. Spínola muss also, sofern er erfolgreich ist, die Rolle de Gaulles spielen – aber in einem viel schwierigeren Kontext. Indem er den Rebellen einfach ein Ende der Kämpfe anbietet, beginnt er seine Politik der Entkolonisierung, die de Gaulle als „den Frieden der Tapferen“ bezeichnete. Zweifellos wird Spínola damit ebenso wenig Erfolg haben. Der Krieg wird weitergehen und die Nähe des rassistischen Südafrika verstärkt die Möglichkeit einer Sezession der portugiesischen Kolonisten in Angola und Mosambik. Das ist der zentrale „offizielle“ Konflikt, der Spínolas Verhältnis zu den sich gerade formierenden linken Parteien vergiften wird. Die Offiziere, auch wenn sie halblinke „Hauptmänner“ sind, werden den Abzug der Truppen, die „Preisgabe“ der Kolonien und der Fahne nicht einfach akzeptieren. Aber die Soldaten und Matrosen könnten zu einem späteren Zeitpunkt darauf drängen.
Was die innere Situation betrifft, ist klar, dass alle Parteien, die jetzt auftauchen oder sich konstituieren – einschließlich der Stalinisten -, die Perspektive der bürgerlichen und sobald wie möglich parlamentarischen Demokratie bereits prinzipiell akzeptiert haben. Aber diese Parteien werden einen Drahtseilakt aufführen müssen, weil Spínola nicht gerade ein vorzeigbarer Verbündeter ist – obwohl sie vorgeben, er sei einer – und weil sie sich auch nicht vollständig gegen die Forderungen der Arbeiter stellen können. Doch die Erfüllung genau dieser Aufgabe ist der Grund, weshalb Spínola ihnen überhaupt erlaubt, zu existieren und ihre Stimme zu erheben. Und hier wird die Wurzel vieler Anlässe für wirkliche Diskussionen unter ihnen liegen. Diese Parteien träumen davon, die Massen sofort unter Kontrolle zu bringen und anschließend mit Spínola dasselbe zu tun, wenn alles gut für sie läuft. Weil aber alle „demokratischen“ Parteien ständig fürchten, dass ein anderer, noch autoritärerer Spínola den gegenwärtigen ablösen könnte, möchten sie unbedingt die Massen entwaffnen.
Bis jetzt sind die Massen nur mit ihren Hoffnungen und, wie ich hoffe, mit ihren Forderungen bewaffnet. Vieles wird von der Qualität dieser Forderungen abhängen. Die gegenwärtige Atmosphäre scheint mir weniger dem Mai 68 oder Budapest zu ähneln als vielmehr der Befreiung von Paris 44 oder von Norditalien 45. Das Ende des Faschismus und der Gestapo, die Jagd auf Kollaborateure etc. Aber damals reichte die Anerkennung eines „demokratischen“ Staates – unterstützt von den Stalinisten – aus, um sehr schnell alle revolutionären Aspekte der Situation zum Verschwinden zu bringen. Und dies, obwohl es damals eine große Zahl bewaffneter Partisanen gab, die gerade in einer Reihe siegreicher lokaler Aufstände selbst gekämpft hatten (wobei sie jedoch auch durch die Anwesenheit regulärer – nationaler oder alliierter – Truppen unterstützt wurden, die im Sinne der alten Ordnung wirkten). Bis jetzt hat Portugal eine „Befreiung“ erlebt, keine Revolution. Doch auch wenn das Fest ganz und gar nicht ausreicht, um eine Revolution anzuzeigen, so bietet es doch viele Möglichkeiten aufgrund der bloßen Tatsache, dass es auf diese Weise existiert.
Der bisher interessanteste Punkt ist offensichtlich die Verbrüderung der Soldaten und besonders der Matrosen mit dem Volk. Dies kann zur Bildung von Soldaten- und Matrosenräten führen, wenn die Arbeiter selbst Räte in den Unternehmen bilden und sich der Ökonomie bemächtigen wollen (also an Parlamentswahlen, im Vergleich zur direkten Arbeiterdemokratie, das Interesse verlieren). In diesem Fall würde die Bewegung der Arbeiter von den Offizieren, dem Kleinbürgertum sowie der sozialistischen und der stalinistischen Partei bekämpft, die Soldaten aber könnten sich auf ihre Seite schlagen.
Im Moment verfügt der Kapitalismus über zwei wesentliche Kräfte: einerseits die Bürokratie der Parteien und Gewerkschaften, die sich in raschem Aufbau befindet, andererseits die Armee, deren Basis sich in rascher Auflösung wiederfinden kann, wenn der am 1. Mai (6) begonnene Prozess sich fortsetzt. Es wird einen Wettlauf zwischen diesen beiden Entwicklungen geben, wobei die zweite nur Sinn macht, wenn das Proletariat sie von sich aus unterstützt. Der portugiesische Kapitalismus hat kein leichtes Spiel, auch in Bezug auf die allgemeinen Bedingungen der Welt, in denen er sich bewegt. Aufgrund seines Rückstands kommt Portugal erst jetzt in der europäischen Epoche von 1944-45 an. Aber die damals geborene Welt ist just zwischen 1968 und heute zusammengebrochen. Die Modernisierung, die Portugal anstrebt, ist anderswo bereits ein Archaismus. Der europäische Binnenmarkt, Traum der gesamten iberischen Technokratie, ist dabei, sich dank der Energiekrise, die bereits eine Wirtschaftskrise ist, aufzulösen (Italien ist aus ihm letzte Woche de facto ausgetreten). Der Gaullismus, der seit 68 tot ist, wurde letzten Sonntag (7) beerdigt (er hatte begonnen zu stinken). Nun, da Portugal verspätet zur kapitalistischen Demokratie aufschließen will, befindet sich diese in England, Frankreich und Italien in einer fortgeschrittenen sozio- politischen Krise. Die Regierungsformen dieser Länder funktionieren nicht mehr, während die revolutionäre Infragestellung sich in den Fabriken und in allen Sektoren der Gesellschaft zeigt.
Wenn sich also in diesem Moment eine wirklich radikale Strömung in Portugal konstituieren kann, so muss sie all das verstehen und sagen. Was man uns hier anbietet, hat anderswo bereits versagt. Portugal kennt, besser als jedes andere Land, das Geheimnis des Staates. 48 Jahre lang hat es dieses in seiner reinen Form erlebt. Man muss daher über den Staat hinausgehen, durch die bewaffnete Demokratie der Arbeiter (hinausgehen über das bürokratische Stadium der Wahlen und Gewerkschaften, welches sich fröhlich präsentiert; und welches sich übrigens nur präsentiert, um zu verlieren). Das oberste Ziel portugiesischer Revolutionäre muss daher sein: die aktuelle Situation in eine wirkliche Revolution unserer Zeit zu verwandeln. Sie müssen das Minimalprogramm einer solchen Revolution bestimmen, indem sie das weltweite Spektakel wie auch das „revolutionäre Spektakel“ der verspäteten Geburt einer bürgerlichen Demokratie denunzieren. Dieses Minimalprogramm ist schnell gefunden: es sind die fortgeschrittensten Teile von dem, was in den letzten zehn Jahren in der Welt getan, gesagt und geschrieben werden konnte. Aber vor allem muss das Aufzeigen einer revolutionären Perspektive stets darin bestehen, zu beschreiben und zu erklären, was Tag für Tag passiert; es darf sich niemals auf die Lächerlichkeit beschränken, in abstrakter Weise allgemeine Ziele zu proklamieren.
Es ist natürlich notwendig, die Maoisten zu denunzieren: ihre konterrevolutionären Illusionen über China und ihre bürokratischen Organisationsformen hier. Was die Themen permanenter Agitation angeht, so halte ich die folgenden für vordringlich: der sofortige Abzug der Truppen aus Afrika; die tagtägliche Denunziation des ganzen heimlichen Einverständnisses der linken Parteien mit Spínola, der Kirche und den Banken; die Autonomie der Arbeiterversammlungen und deren Bewaffnung (gegen beunruhigende Momente, die unvermeidlich bald auftauchen werden: Bedrohung durch die Generäle, die Wiedereinrichtung einer politischen Polizei). Ich weiß überhaupt nicht, in welchem Maße die arme Bauernschaft bereit ist, sich in Kollektiven zu organisieren. Aber es scheint mir, dass die Arbeiterklasse, wenn sie sich das Ziel gibt, die Bosse zu enteignen, die Millionen von portugiesischen Subproletariern in Europa zur Rückkehr auffordern muss, indem sie ihnen versichert, dass es nach der Abschaffung des Marktsystems für alle möglich wäre, hier ein auskömmliches Leben zu führen, anstatt beim Auflesen der Brotkrumen des reichen Europa zu krepieren. Diese „utopische“ Gewalt wird sich schrecklich von den Projekten kapitalistischer Expansion abheben – und von den viel schlimmeren „Opfern“, die diese verlangen -, welche die Stalinisten und alle anderen zwangsläufig verteidigen werden. Und angesichts des wirklichen Zustands der europäischen Wirtschaft, die ihr Wachstum nicht mehr fortsetzen kann, schlägt ihr scheinbarer Primitivismus tatsächlich den modernsten Weg ein.
Schreib mir, sobald Du ankommst, was Du vorfindest. Ich nehme an, dass Ribeiro de Mello (8) (sei es durch Enthusiasmus oder unter Drohung) Dir helfen kann, das zu publizieren, was nützlich sein wird. Sag mir auch, in welchem Maße die Ankunft einiger Ausländer hilfreich sein könnte. Du kannst beruhigt jeden empfangen, der „im Auftrag Glaucos’“ (9) kommt (Du weißt, das Gondi (9) und Decayeux (9) jetzt in einigen Ländern sehr bekannt sind – sogar unter kultivierten Portugiesen).
Herzliche Grüße. Sag L[eonor], dass ich sie immer noch liebe.
Guy
PS: Nach dem, was Du mir gesagt hast, werden einige Portugiesen zu ihrer Überraschung entdecken, zu welchen Äußerungen und Taten der unglückliche Vaneigem fähig ist, wenn er in konkreten Situationen auf sich allein gestellt ist – sofern er es nicht vorzieht, schnell seinen Zug zu nehmen, um ins Büro zurückzukehren!
(1) General António de Spínola, den aufständische Militärs am 26. April an die Spitze der Junta zur nationalen Errettung gewählt hatten.
(2) Von Alexander Kerenski, russischer Justiz- und Kriegsminister, später Chef der Übergangsregierung nach der Februarrevolution 1917; im Oktober von den Bolschewiki gestürzt.
(3) Generalmajor Kornilow, der von Kerenski nach einem missglückten Putschversuch abgesetzt worden war, bekämpfte an der Spitze eines Kosakenkorps die Bolschewiki.
(4) Alvaro Cunhal, der seit 1960 in Moskau gelebt hatte, kehrte am 30. April 1974 nach Portugal zurück, um die Kommunistische Partei zu führen, die gerade legalisiert worden war.
(5) A.d.Ü.: Zitat aus dem portugiesischen Nationalepos Die Lusiaden (1572) von Luís Vaz de Camões, 1. Gesang, 1. Strophe.
(6) Am 1. Mai feierte eine riesige Menschenmenge das Ende der PIDE- DGS (Geheimpolizei), die Abschaffung der Zensur und das neue Recht auf freie Versammlung und Streik.
(7) A.d.Ü.: Am 5. Mai 1974 setzte sich Valéry Giscard d’Estaing im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen mit Unterstützung aus den Reihen der Gaullisten gegen den traditionellen Gaullisten Jacques Chaban-Delmas durch.
(8) Herausgeber von Die Gesellschaft des Spektakels in Portugal.
(9) Pseudonyme Debords im Briefverkehr.