C’est arrivé près de chez toi
Banlieue-Unruhen – Naturkatastrophen
I.
Nicht lange ist es her, daß ein Gewässer wegen stärkerer Windbewegungen aufs Festland schwappte und die Jazzmetropole New Orleans zusammen mit einigen vornehmlich schwarzhäutigen oder alten Menschen, die sich die von Regierungsseite dezent anempfohlene Flucht nicht leisten konnten, wegspülte. Etwas länger her die Überschwemmung großer Teile der Küsten Asiens.
Im November 2005 schien sich etwas Ähnliches zu wiederholen: Zuerst in Vororten von Paris, später von ganz Frankreich zündeten Jugendliche im Alter bis 25 Nacht für Nacht Tausende von PKWs und Bussen, ferner Schulen und Kindergärten, Geschäfte, Fabrikhallen, öffentliche Gebäude und Polizeiwachen in ihrer unmittelbaren Umgebung an, drei Wochen lang – bis das kleine Erdbeben von selbst und ergebnislos aufhörte. Die Staatsorgane setzten dennoch einen dreimonatigen Ausnahmezustand für die betroffenen Gebiete in Kraft, verhängten nächtliche Ausgangssperren und durchsuchten einige Wohnungen. Man war erstaunt; die ganze Welt beschaute via Draht zum Allgemeinen jene Kapuzenpullover-Kreaturen, von denen sonst kaum ein Franzose Notiz nimmt, und diskutierte über ihre Motive und vor allem darüber, ob Sarko mit Hilfe seiner Kärcher mit der racaille aufräumen solle, oder lieber nicht, oder doch.
Die Sozialexperten, die Erklärungen für die Aufstände geben sollten, glichen den Erd- und Wasserspezialisten, die für New Orleans und schon für Asien herangezogen worden waren, indes nicht nur in ihrem drögen Aussehen, sondern auch in dem, was sie da so zur Beurteilung der Lage in den Äther hineinparlierten. Die Erd- und Wasserspezialisten hatten von tektonischen Verschiebungen und Temperaturunterschieden in den Luftmassen über dem Meer erzählt, die zu solchen Naturkatastrophen führen, und die Sozialexperten nutzten nun die Gelegenheit, von einem ihrer Lieblingsthemen zu reden, den Rassen- und Integrationsproblemen nämlich, die von Zeit zu Zeit soziale Verwerfungen hervorbringen würden. Da man aber nach allen Erklärungen spürbar doch nichts erklärt hatte, wurden nahezu auf der ganzen Welt (also vor allem in Deutschland) beliebige Leute zu der Frage interviewt, ob „so etwas auch bei uns passieren“ könne. Niemand war sich ganz sicher. Denn schließlich hatte man ja schon 2004 dabei zusehen müssen, wie das ein oder andere unterasiatische Urlaubsland überspült worden war. Und wo die Franzosen Maghrebiens haben, die USA sowieso viele Schwarze, die bereits den einen oder anderen Aufstand angezettelt haben, so gibt es in England viele Pakistani und in Deutschland viele Türken.
Aber was auf diese oder jene Weise als eine Art Naturkatastrophe behandelt wird, gegen die man nur mit Wissenschaft und der Polizei ankommen kann, ist in Wirklichkeit natürlich gesellschaftlichen Ursprungs (also etwas, gegen das man gegenwärtig ebenfalls mit Polizei und Wissenschaft anzugehen pflegt). Wenn man will, dann kann man zur Kenntnis nehmen, daß New Orleans unterhalb des Wasserspiegels erbaut ist und die Dammsysteme allem Anschein nach so billig und stümperhaft konstruiert sind, daß – anders übrigens als etwa in Holland – bei der ersten größeren Wind- und Wasserbewegung Überschwemmungen zu erwarten sind. Und erst recht kann man, wenn man will, wissen, daß die Gründe für die französischen Aufstände nicht vornehmlich im migrantischen Hintergrund der Banlieuejugendlichen zu suchen sind, sondern in den weltweit wirksamen Konzentrationsbewegungen, die immer mehr Menschen aus dem Produktionsprozeß ausschließen und zu einem Teil derjenigen stummen und gesichtslosen Masse machen, die Marx als industrielle Reservearmee beschrieben hat.
Jedweder Veränderung im Produktionsprozeß von warenproduzierenden Gesellschaften eignet Naturcharakter, weil die Bedingungen, die zu diesen Veränderungen führen, schlechthin unbegriffene sind. Veränderungen geschehen durch die zeitlich – geschichtlich – und räumlich – weltweit – bestimmte Totalität der Bewegung der Produktionsverhältnisse hindurch. Diese Totalität verschleiert sich selbst zu einer Folge von isolierten Phänomenen, und deswegen bedeutet es nichts anderes als die schlechte Verdoppelung dieser Wirklichkeit, die Phänomene weiterhin als isolierte zu denken. Nur wenn man diese Totalität verdrängt, kann man sich weiterhin an den Zirkelschlüssen des alltäglichen Positivismus weiden, der glaubt, überall die bestehende Ordnung als natürliche Ordnung wiederzufinden, da er seine sogenannte Wissenschaft so weit getrieben hat, daß er die gesellschaftliche Oberfläche für das Wesen der Gesellschaft nimmt. Und in genau dieser Weise diskutiert man weiter, auf Soziologenkongressen und in Talkshows, und jedes modrige Expertenpissoir glaubt besser zu wissen, worum es sich eigentlich dreht, als das andere.
Viele – vor allem Journalisten – haben sich gewundert, daß die Jugendlichen die Schulen und öffentlichen Einrichtungen zerschlagen und verbrennen, die ihnen doch den sozialen Aufstieg oder überhaupt den Einstieg ins Soziale versprachen.
Ein entsetzter Moralphilosophenschwachkopf namens Glucksmann, der kurz zuvor ein blitzgescheites Buch über die „Rückkehr des Hasses“ zusammengeschmiert hatte und den Journalisten daher wie gerufen kam, beantwortete die Fragen, die sich durch die Aufstände stellten, in einem Interview am 11.11.05 auf dem Hintergrund seiner stupenden Belesenheit folgendermaßen:
„Es gibt den Hass in allen Gesellschaften, nicht nur in unserer. Der Hass hat seine Wurzeln nicht in der Gesellschaft, sondern in der menschlichen Natur. Es gibt kein ‚Warum?‘ Die Erklärung für den Hass ist der Hass.“
Aha. Hm. Und die verschiedenen Äußerungen des „Hasses“?
„Sie finden das schön, ästhetisch und veranstalten einen regelrechten Wettbewerb: wer hat mehr in Brand gesteckt? Und sie zünden Fabriken an, die ihnen doch Arbeit – zumindest ein bisschen – geben könnten, Bibliotheken und Schulen, in denen sie sich fortbilden könnten, Kindergärten – es ist völlig destruktiv!“
Der Heilige macht also ein, zwei Zirkelschlüsse, ruft: Zerfall der Werte! Nihilismus!, und schon hat er – „zumindest ein bisschen“ – Geld verdient und – „zumindest ein bisschen“ – die Welt aus dem Prinzip des „Hasses“ erklärt. Es nicht nicht völlig destruktiv! Denn seichte Denker wie er können als Barometer für steigenden gesellschaftlichen Druck gelten. Wenn sich die Klassengegensätze zuspitzen, platzt solchen Leuten das Quecksilber, und sie faseln nurmehr völlig unverständliches Zeug daher.
„Die Gesundheit ist auch kein Paradies“, so der heilige Glucksmann in seinem Fazit. „Sie ist eher der Nullpunkt der Krankheit. Das gilt auch im Politischen. Es gibt in der Politik kein Paradies. Aber es gibt die Hölle.“
Das Moralphilosophendasein ist auch kein Paradies. Es ist eher der Nullpunkt des Denkens. Das gilt auch im Politischen. Es gibt in der Politik keine Wahrheit. Aber es gibt die grenzenlose Dummheit.
Natürlich muß es für kleinbürgerliche Gemüter wie den heiligen Glucksmann, die darauf aus sind, zu sichern und zu bewahren, unbegreiflich bleiben, daß diese Jugendlichen nichts mehr zu versichern haben, das ihnen gehören könnte: sondern daß sie im Gegenteil alle bisher bekannten Formen privater Sicherheit oder Versicherung zu zerstören haben. „Man hat auch immer schon viele Wagen in Brand gesteckt. Das ist nichts Neues. Im vorigen Jahr sind in Frankreich 28.000 Autos angezündet worden!“, jammert der Heilige.
Was Leute wie ihn „zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber [der Kleinkrämer] im Leben nicht hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“ Und so ist dieser Kleinbürgerheilige weit davon entfernt, zu ahnen, daß das Auto für denjenigen kein Respekt- und Fetischobjekt mehr sein kann, der nicht weiß, wohin er fahren soll, weil er nicht weiß, wo das Ende der endlosen Tristesse der Vorstädte ohne Ende ist, und weil er keinen Arbeitsplatz hat, zu dem er noch fahren könnte. Der Schein von Sinn und Beschäftigung scheint nicht für die Jugendlichen der Banlieues. So haben sie 28.000 Autos angezündet, statt sie zu klauen.
Es gab keine Plünderungen während der Aufstände, weil die Jugendlichen ohnehin schon die ganze Zeit Autos, Kleider, Handys etc. rauben. Nun wollten sie die Waren anzünden, da sie sich als nutzlos erwiesen haben. So waren die Aufstände auch eine – unbewußte – Revolte gegen die Welt der Ware. Indem die Jugendlichen die Waren zerstörten, lehnten sie für einen Moment ihren Tauschwert und die Warenwirklichkeit ab, die Gußform dieser Gegenstände, ihre Rechtfertigung und letzter Zweck, die Wirklichkeit, die alles ausgewählt hat. Der Mensch, der die Waren zerstört, zeigt dadurch seine Überlegenheit gegenüber den Waren und der hierarchischen Organisation der warenförmigen Wirklichkeit. Er ist nicht mehr in den willkürlichen Formen gefangen, die das Bild seiner Bedürfnisse angenommen hat. Aber wo die quasi-naturwüchsigen Bedürfnisse waren, muß ihre bewußte Aufhebung werden. Geschieht das nicht, bleibt nichts von dieser Selbstermächtigung des Menschen gegenüber der Warenwelt, nicht einmal die Erinnerung. So im Falle der Banlieueaufstände: In Jahresfrist werden sie vergessen sein.
Von Vorstadtbewohnern abstrakt negierte Teppichfabrik
II.
Die November-Revolte erscheint genau dann als ein Migrantenproblem, wenn man sie – wie es ja denn auch durchweg geschehen ist – als ein solches behandelt, und besonders, wenn diese Deutung auch noch von den Akteuren selbst angenommen wird. Aber die Frage nach der Integration ist immer eine interessierte. Denn abgesehen davon, daß all dieses sozialpädagogische Geseiere über Gleichheit und Identität rassistische Züge trägt, bringt es systematisch außer Acht, daß die vergleichbar sicheren Bedingungen, unter denen ein Durchschnittsmensch in Europa seine Arbeitskraft verwerten konnte, immer instabileren gewichen sind, und daß die alten Rezepte, den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital einzudämmen (Sozialversicherungssysteme und sonstige sozialstaatliche Lösungsversuche, die Gewerkschaftler so gerne feiern), in dem Maße nicht mehr greifen, in dem die Produktivkraftentwicklung die Arbeit auf der einen Seite intensiviert, auf der anderen überflüssig macht. Andere Konzepte werden entwickelt, welche die Arbeitslosen in direktere Abhängigkeit zum, und damit direktere Kontrollierbarkeit durch den Staat zwingt (die spezifisch deutsche Variante davon heißt bekanntlich „Hartz IV“ – eine Art Reichsarbeitsdienst).
Während die Arbeit also immer knapper wird und die Konzepte, diese Tatsache zu übertünchen, immer deutlicher als bloß falsches Bewußtsein erkennbar werden, sind die Menschen nichtsdestotrotz weiterhin dazu gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verwerten, wenn sie leben wollen. Die Jugendlichen, die sich spontan in den Revolten zusammengetan haben, wissen das sehr gut, und sie wissen, daß sie wahrscheinlich eine noch schlechtere Zukunft vor sich haben als es ihre Eltern vor sich hatten, die ihrerseits schon aus regulären Beschäftigungsverhältnissen heraus- und in die Armut gefallen waren. Sie haben zu spüren bekommen, daß es sich nicht um die Krise des Status der Migranten in Frankreich handelt, sondern um die Krise der verlotterten „Grande Nation“, die zunächst unter diesen Angehörigen des Lumpenproletariats auftritt. Sie spüren, daß sie zu den Verlierern einer Rationalisierung ohne Ratio gehören, deren Ende nicht in Sicht ist. Da sie in der sich ausweitenden Organisationshierarchie des Überlebens am Ende stehen, stellen sie die Probleme des Lebens auf die Tagesordnung, indem sie dennoch eine Zukunft einfordern. Deswegen wollen die Jugendlichen in den Banlieues – diesen quadratkilometerweiten Anhäufungen von Menschenlagerhäusern – ein anderes Leben, ein ganz anderes Leben – oder sie wollen nichts.
Wo die wirklichen Widersprüche in der Gesellschaft zutage treten, da sind auch die Abwiegler und Antagonismenausbügler nicht weit, all diese Bürokraten, die Integrationsspezialisten und Gewerkschaftler, und ganz nach vorne drängen sich stets diejenigen unter ihnen, die sich als Führer berufen glauben.
So haben sich die islamfaschistischen Pfaffen und sonstigen Vertreter der Intifada beeilt, den Jugendlichen und der Welt zu versichern, daß es sich hier um einen religiösen und ethnischen Konflikt handele. Dadurch hofften sie, ähnlich wie in den amerikanischen Gefängnissen, Einfluß auf die Revoltierenden zu erlangen, bzw. den Protest der Jugendlichen in ihren Kampf gegen die angebliche Unterdrückung der maltraitierten Muselmänner etc. einzugliedern.
Aber die Jugendlichen haben sie diesmal abgewiesen: in ihrer Masse war die Unruhe keine unter dem Banner des Islams. Die Rufe Mohammeds sind unter den Jugendlichen also wenigstens dieses Mal ungehört geblieben. (1) Und so fiel den Propheten-Hundesöhnen zuletzt nichts anderes mehr ein, als eine Fatwa gegen die Rebellierenden auszusprechen.
„Selbst der von der islamistischen Hisbollah-Bewegung finanzierte Sender Al Manar, der wegen antisemitischer Hetze von der französischen Regierung verboten und in Frankreich seitdem nur noch über das Internet zu empfangen ist, geht auf Distanz zur Gewalt“, schrieb die Berliner Zeitung vom 9.11.2005. Und weiter heißt es dort: „Grundsätzlich rufen die arabischen Medien zur Ruhe auf. Ihre Berichterstattung zeigt, dass sie die Krawalle in Frankreich als innerarabische Angelegenheit verstehen. Besonders deutlich wird dies bei Al-Dschasira: Um der Anti-Gewalt-Kampagne des Senders religiöses Gewicht zu verleihen, wurde ein ganz besonderer Interviewpartner in eine Sendung geschaltet: Scheich Yusuf al Karadawi. Der bekannte Fernsehprediger und Religionsgelehrte hat in der Vergangenheit eher als Befürworter von Gewalt von sich reden gemacht. Er erklärte den Kampf gegen die US-Armee im Irak 2003 als Pflicht eines Muslims und die Selbstmordattentäterinnen in Palästina als Vorbild für islamische Frauen. Auch Frankreich hatte Scheich Karadawi in der Vergangenheit heftig wegen des Verbot des Kopftuches an öffentlichen Schulen kritisiert. ‚Gewalt ist keine Lösung‘, sagte er jetzt in der Al-Dschasira-Sendung. Die nächtlichen Ausschreitungen in Frankreich seien mit der Religion nicht zu rechtfertigen. Statt mit Gewalt und Zerstörung auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, sollten die muslimischen Jugendlichen ihren offiziellen Vertretern vertrauen. Er selber stehe zur Verfügung und könne sich für die Belange der Jugendlichen einsetzen. Karadawi ist Mitbegründer des europäischen Rates für Fatwas und Forschung.“
„Gewalt ist keine Lösung“, sagt also dieses Sprachrohr Allahs – weil Gewalt für Leute wie ihn bekanntlich nur dann eine Lösung und dann ganz trefflich mit der Religion zu rechtfertigen ist, wenn sie dazu dient, möglichst viele Juden und Amerikaner in Stücke zu sprengen. Dieser große Führer hat sich angeboten, für die Jugendlichen zu sprechen, und als es klar war, daß die Jugendlichen Leute wie ihn nicht für sich sprechen lassen wollten, weil sie, sonst jeder Sprache beraubt, endlich einmal für sich selber sprechen wollten, hatte der „europäische Rat für Fatwas und Forschung“ ausgeforscht. Er kam – mit allen anderen Muselmännern – zu dem Ergebnis, die Fatwa über dieselben Jugendlichen verhängen zu müssen, über die schon die herrschende Ordnung ihren Fluch verhängt hat. So haben sich die Islamfaschistenpfaffen auch bei dieser Gelegenheit als die Vertreter einer noch barbarischeren Ordnung, als es die herrschende Ordnung auch ohne sie schon ist, zu erkennen gegeben.
Die Berliner Zeitung vom 24.01.2006 meldet unter Berufung auf eine Statistik der französischen Polizei interessanterweise, daß „die rassistischen und antisemitischen Übergriffe im vergangenen Jahr trotz der Unruhen in den Vorstädten deutlich zurückgegangen sind“. „974 rassistische oder antisemitische Übergriffe zählte die Polizei 2005, mithin gut ein Drittel weniger als im Vorjahr, als mit 1574 der höchste Wert seit zehn Jahren registriert worden war. Zurückgegangen ist zumal die antisemitische Gewalt. 974 Fälle von Beleidigung, Bedrohung, Sachbeschädigung oder Körperverletzung waren 2004 noch erfasst worden. Mit 504 waren es im vergangenen Jahr nur noch etwas mehr als die Hälfte.“
Es ist zu vermuten, daß mitnichten, wie die Zeitung meint, „Politiker, Pädagogen und Polizisten zu den Vätern des Erfolges zählen.“ Denn diese Hüter der herrschenden Raum-Zeit-Ordnung haben, wie man getrost glauben darf, nichts anderes getan als sonst auch: heuchlerische Märchen von Toleranz und friedlichem Miteinander zu erfinden, an die sie selbst nicht glauben, und an Schulen und in den Medien kundzutun.
Ist es möglich, daß die Übergriffe nicht „trotz der Unruhen in den Vorstädten“ zurückgegangen sind, sondern gerade wegen dieser Unruhen? Die Jugendlichen mögen gespürt haben, daß sie es diesmal mit ihrem wirklichen Gegner zu tun hatten: der herrschenden Ordnung, welche sie mit ihren anarchischen Aktionen gegen ihre Repräsentationen in Frage zu stellen wagten – und nicht, wie sonst, mit einem Ersatzobjekt, das sie gemeinhin für ihre Misere verantwortlich machen. Anlaß zu dieser Vermutung gibt auch, daß die Jugendlichen das Angebot, ihre Revolte in islamischem Wahnsinn kanalisieren zu lassen, mehr oder weniger ignoriert haben.
III.
Wenn die Revolte sich nicht für die Zwecke der muslimischen Barbarei instrumentalisieren ließ, so war sie auf der anderen Seite doch seit Beginn von den zutiefst reaktionären Zügen ebenderselben Barbarei gezeichnet.
Am deutlichsten kann man das an der Tatsache erkennen, daß keine einzige Frau an den Aufständen teilgenommen hat. Interviews haben gezeigt, daß die Frauen nicht abgeneigt gewesen wären, an der Infragestellung der herrschenden Ordnung teilzunehmen. Aber die Rebellierenden, sagen sie, hätten sie nicht teilnehmen lassen; die Frauen, die sich diesem Verbot widersetzt und auch ein Auto in Brand gesetzt hätten, hatten gegebenenfalls zu befürchten, von den Jugendlichen verprügelt oder von ihren Vätern bestraft zu werden. Wer als Frau schon einmal mit diesen Jugendlichen zu tun bekommen hat (so wie ich selber), weiß, daß sie Frauen keineswegs als gleichwertig oder überhaupt in welcher Weise auch immer respektvoll ansehen, sondern vielmehr als Objekt, über das zu verfügen ist. Als ein solches Objekt hat die Frau sich denn auch zu verhalten. Wenn aber die Frauen ihrerseits an der Infragestellung der herrschenden Ordnung teilgenommen hätten, hätten sie damit zugleich diese schon längst überkommene Spaltung der Gattung in einen männlichen und einen weiblichen Teil in Frage gestellt. Aber das hätte überstiegen, was die Jugendlichen für möglich und richtig gehalten haben.
Das zeigt, daß sie noch weit davon entfernt sind, die richtigen Konsequenzen aus ihrer Lage zu ziehen. Denn offensichtlich sind die Jugendlichen keineswegs frei von der importierten Identität ihrer Altvorderen, obwohl die Bindung an die Religion, wie die Mullahs zu spüren bekommen haben, mit einem Mal recht dünn wurde. Es ist klar: Solange das Denken der Jugendlichen in diesen Mustern frühester Gesellschaftsorganisation verhaftet bleiben, wird sich diese Zurückgebliebenheit in jeder ihrer Handlungen wiederspiegeln, und sie werden immer nur wieder das vorfinden, von dem sie sich befreien wollten.
Die Ansätze einer promuselmanischen, chauvinistischen, panarabischen oder sonstwie gearteten Identität sind das genaue Gegenteil einer Antwort auf ihre Misere. Die verarmten Jugendlichen haben kein Vaterland, nicht das französische, aber erst recht nicht das, welches ihre Eltern und Großeltern verlassen haben. So sind sie in Frankreich zuhause und entfremdet, genau wie alle anderen Franzosen: aber sie sind gezwungenermaßen frei von der Illusion, dort jemals heimisch werden zu können. Wenn die linken Politicards [Anm.d.Red.: D.h. soviel wie: „Politikerschweine“] dessenungeachtet weiterhin die Herausbildung einer „Gegenidentität“ empfehlen, so zeigen sie damit nichts anderes als ihre intellektuelle Verkommenheit. Denn das Problem der Jugendlichen ist nicht die fehlende nationale oder religiöse Identität: sondern genau in dieser fehlenden Identität besteht ihre Chance. Die Franzosen wollen sie nicht, und die Berufsaraber haben sie mit einer Fatwa aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Das hat ihre Möglichkeiten zu einer einzigen Alternative zusammenschrumpfen lassen.
Entweder sie identifizieren sich dennoch mit einer dieser erbärmlichen Rollen, die das Spektakel ihnen bietet, und fallen somit in das übliche isolierte Bewußtsein. Oder sie entwickeln das Bewußtsein ihrer Isolation.
Dazu müssen die Jugendlichen ihre Anliegen und ihr ganzes Dasein als Moment der gesellschaftlichen Totalität begreifen. Aber umgekehrt müssen auch die übrigen Bewohner der Banlieues, die verarmte Masse der arbeitslosen Arbeiter und arbeitenden Arbeitslosen, ihr Anliegen in den Anliegen der Jugendlichen erkennen. Wenn das im November 2005 nicht geschehen ist, so zweifellos deswegen, weil die Revolte die Züge eines bloß jugendlichen Aufbegehrens trug, eines Austestens der Grenzen wie in der Pubertät. Nicht einmal die sogenannten grands frères konnten sich zu etwas anderem entscheiden, als weiter möglichst ungestört dem troc nachzugehen und ihre Bandenordnung, die Beherrschung der Banlieues nach Gesetzen des Schwarzmarktrackets, aufrechtzuerhalten.
Aber die Kritik des Urbanismus ist kein Spaziergang. Es ist natürlich nicht einmal ansatzweise etwas damit erreicht, ein paar Autos anzuzünden und Polizisten mit Steinen zu bewerfen. Die Kritik des Urbanismus ist nicht die bloße Infragestellung der herrschenden Ordnung in den Vorstädten, oder ihre wie auch immer geartete Modifikation. Diese Kritik kann vielmehr nichts anderes sein als die Aufhebung der gesamten herrschenden Ordnung, welche diese (vor-)städtische Ordnung hervorgebracht hat.
In dem Moment, in dem die Jugendlichen sich auf den Innenminister Sarkozy als ihren angeblichen Hauptgegner und damit auf einen Sündenbock einschossen, waren sie schon heillos verloren inmitten der Politikillusion, der bloß vorgespiegelten Wirklichkeit der Politik. Sarkozy ist ein bürgerlicher Politiker, und bewegt sich daher eben innerhalb der Widersprüche, die ihm dieses Dasein vorgibt. Aber von diesen ist er nicht einmal einer der übelsten: Zwar wollte dieser Politiflic [Anm.d.Red.: Etwa als Politizist übersetzbar.] mit den Islamfaschistenpfaffen zusammenarbeiten, um die Ordnung in den Banlieues wiederherzustellen, aber dennoch ist er kein Antisemit wie diese: vielmehr hebt er sich durch ausgesprochen juden- und israelfreundliche Einlassungen und Aktionen von den übrigen verrotteten Old Europe-Politicards Frankreichs ab. Als die Jugendlichen also das Übel in Sarkozy personifizieren zu können glaubten; behaupteten, sie würden so lange weitermachen, bis er sich entschuldigt hätte; und ihn schließlich in einigen Parolen als „Scheiß-Juden“ beschimpften – waren sie unversehens in die Gesetzlichkeit der herrschenden Ordnung zurückgefallen. Wo in ihrer Revolte von Anfang an schon die Beteiligung der Frauen gefehlt hatte, wurden nun Züge sichtbar, die auf einen pogromhaften Verlauf hindeuteten. Das Anzünden eines vollbesetzten Nahverkehrsbusses, gelegentliche „Allah ist groß“-Rufe für die TV-Kameras und das versuchte Abfackeln einer Synagoge hatten diesen konventionellen Charakter der Unruhe unterstrichen. Dadurch transformierte sich die berechtigte Infragestellung der herrschenden Ordnung durch die Jugendlichen in die Berechtigung der herrschenden Infragestellung der Jugendlichen durch die herrschende Ordnung. Mit anderen Worten: Die Jugendlichen haben gezeigt, daß sie die Niederschlagung ihres Aufstandes verdient hatten.
„Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde zurück.“ – Szene aus Zack Snyders Film Dawn of the dead.
IV.
Die Unruhen sind also der bloß diffuse Ausdruck der absoluten Trennung der Individuen voneinander wie auch von jeglicher vernünftigen geschichtlichen Praxis geblieben; zu nichts Besserem geworden als einem hilflosen Ausdruck der realen Widersprüche der faulenden spätkapitalistischen Gesellschaft in bloß lokaler, bloß kleinbarbarischer Form. Sie sind also tatsächlich nichts als die Naturkatastrophe gewesen, als welche sie von Anfang an empfunden worden waren: Noch nicht einmal eine Stimme hat das Aufbegehren der Jugendlichen gefunden. Die bornierte Form der Revolte bestätigte also die Borniertheit ihrer Zuschauer: Denn nicht nur die Jugendlichen haben es versäumt, sich aus ihren Beschränkungen zum Bewußtsein der der Revolte objektiv zugrundeliegenden Bedingungen und Ziele zu befreien. Sondern ebensosehr alle anderen, die Arbeiter und das ewig studentische Millieu, die offensichtlich ohne jede Absprache einhellig der Meinung waren, daß das, was in den Banlieues passiert ist, sie nichts anginge.
Aber damit ist der allgemeingesellschaftliche Charakter der Unruhen nicht dementiert. Ihre Ursache bleibt weiterhin bestehen. Die Unruhen sind nur der besondere Ausdruck ebendieser allgemeinen Ursache gewesen.
Die von den Medien als „Exzesse“ bezeichneten Aktionen der Banlieuesards – die Zerstörung ihrer unmittelbaren unmenschlichen Umgebung, das Inbrandsetzen der Schulen, in denen nutzloses Wissen gelehrt wird, und der Fabriken, dieser Produktionsstätten nutzloser Waren – sind genausowenig ein politischer Irrtum wie die Aufstände der schwarzen Ghettobevölkerung von Los Angeles im August 1965, die willkürlichen Ausschreitungen der Studentinnen in Berkeley 1964 oder dem Pariser Quartier Latin 1968 politische Irrtümer waren. Eine Revolte gegen das Spektakel findet auf der Ebene der Totalität statt, weil sie – und ist sie auch nur in den französischen Banlieues ausgebrochen – ein Protest des Menschen gegen das unmenschliche Leben ist; und weil die Gemeinschaft, von der diese Jugendlichen ebenso wie alle anderen Menschen getrennt sind, die wirkliche gesellschaftliche Natur des Menschen ist.
Doch durch die neuerliche absolute Isolierung der konfus Aufbegehrenden erscheint ihr Aufstand in der Tat nur als neuerliche Farce der Farce einstmaliger Tragödien von Spartakus bis Spanien. „Ein furchtbarer Knoten ist in den Banlieues geschürzt; das Schwert, das ihn zerschlagen soll, liegt nicht in den Banlieues.“ Bekanntlich kann die vollständige Umwälzung des (Re-) Produktionsprozesses der Gattung nur das Werk der Produzenten sein, die durch Zweckentfremdung der Maschinerie, die sich gegenwärtig unter der Kontrolle des Kapitals befindet, sowie durch Öffnung der Produktionsstätten für alle den entscheidenden Hebel der Umwälzung aller anderen Sektoren besitzen. Die Kämpfe dieses Roboterproletariats sind zunächst isoliert und borniert. (Man denke an den nationalbornierten Ärger einiger korsischer Arbeiter, die immerhin ein kleines Schiff in ihrem Hafen versenkten, oder an die konservativen Bochumer Opel-Arbeiter, welche kurzfristig – „wild“, wie es hieß – streikten, um ihre alte kümmerliche Existenz nicht gegen eine neue austauschen zu müssen.) Trotzdem liegt in der Produktionssphäre die Rezeptur des Steins der Weisen verborgen.
Dieses Rezept kann jedoch nur mit allen seinen Ingredienzien gekocht werden. Es ist also eine schüchtern-vereinigtes Bemühung auf allen Ebenen, in allen Sektoren zu beginnen. Es seien hier nur die technischen Universitäten genannt, in denen aktuell die zunehmend überflüssigen Facharbeiter gezüchtet werden, die endlich beginnen müßten, die Möglichkeiten der generalisierten Automation den unwissenden Massen (und hier insbesondere der Masse der sogenannten Geisteswissenschaftler, eines besonders starrsinnigen Teils der Gattung) zu erklären.
Auf welchem Terrain die ersten Schritte der neuen revolutionären Bewegung getan werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbekannt. Bekannt ist nur, daß die revolutionäre Bewegung im Schoße der alten Gesellschaft entsteht und daß ihre ersten Schritte darauf abzielen werden, diese von innen zu zersetzen.
Hier, nicht im abwesenden Bewußtsein einiger pubertierender Franzosen, liegt die wahre Mangelhaftigkeit des Aufstandes: Erst, wenn sich Vernunft und Praxis zur positiven Überwindung des widerwärtigen Spektakels zusammenfinden, wird sich die Verachtung, die den Jugendlichen entgegengeschlagen ist, als die Verachtung der wirklichen: der gesellschaftlichen Natur des Menschen erweisen.
CAROLINE DUBOIS
(1) So auch die Einschätzung des Chefs des französischen Geheimdienstes RG (etwa dem deutschen Verfassungsschutz vergleichbar). In einem Interview wurde er gefragt: „Comment jugez-vous l’implication des islamistes dans le cycle de violences urbaines ?“, und der Geheimdienstchef antwortete: „La part des islamistes radicaux dans les violences a été nulle. Les facteurs du retour au calme ont été multiples. Le premier est l’action constante des forces de l’ordre. Le deuxième est le rôle qu’ont pu jouer des responsables institutionnels ou associatifs, parmi lesquels ceux de la communauté musulmane. Les jeunes ont agi par mimétisme et concurrence entre cités, sans une grande organisation. D’ailleurs, les appels au rassemblement dans des lieux symboliques, lancés sur des blogs assez inquiétants, n’ont pas été suivis d’effets .“ (Le Monde, 25.11.2005)