Fortschritt in der Wissenschaft
„… An die Stelle des unmittelbaren Eingehens auf die Vorgänge der Natur, die uns umgibt, tritt die mathematische Formulierung eines Grenzgesetzes, das nur unter extremen Bedingungen nachgeprüft werden kann. Die Möglichkeit, aus den Naturvorgängen auf einfache, präzis formulierbare Gesetze zu schließen, wird erkauft durch den Verzicht darauf, diese Gesetze unmittelbar auf das geschehen in der Natur anzuwenden.
Auch die berühmte Entdeckung des Kopernikus geht in derselben Richtung: Um die Bewegung der Sonne und der Planeten einfacher und einheitlicher zu formulieren zu können, wird auf einen uns unmittelbar gegebenen Tatbestand, die zentrale Stellung der Erde, verzichtet.
Dieser Teil der Entwicklung wird schließlich konsequent zu Ende geführt werden durch das Genie Newtons, das zwei völlig getrennte Erfahrungsgebiete: die Bewegung der Sterne am Himmel und die Schwere der Körper auf der Erde in einer Gesetzmäßigkeit forma zusammenfaßt. Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, welch ein außerordentliches Erlebnis es für die Forscher der damaligen zeit gewesen sein muß, zu erkennen, daß die Bewegungen der Sterne und die Bewegungen der Körper auf der Erde auf ein und dasselbe System von Gesetzen zurückgeführt werden können; wer nicht selbst ein wenig von der Bedeutung dieses Wunders verspürt hat, kann nie hoffen, etwas vom Geist der modernen Naturwissenschaft zu verstehen. Trotzdem muß wieder die Frage gestellt werden: Inwieweit ist durch Newtons Entdeckung die Bewegung der Sterne ‚erklärt‘ worden, verstehen wie sie wirklich besser als früher? Zur Erläuterung dieser Frage mag es nützlich sein, die Beschreibung der Planetenbewegung in der griechischen Wissenschaft zu vergleichen mit einer entsprechenden Beschreibung in einem modernen Lehrbuch der Astronomie. Bei Platon (Tiamos) heißt es in der Kosmogonie: ‚Nachdem also alle die Sterne, die zur Erzeugung der Zeit mitwirken sollten, in den einen jeden zukommenden Umschwung gebracht und durch beseelte Bänder, die ihre Körper zusammenhielten, zu lebendigen Wesen erhoben und des ihnen Aufgetragenen innegeworden waren, so gingen sie … herum, indem sie teils eine größere, teils eine kleinere Kreisbahn umschrieben, und zwar die welche eine kleinere beschrieben, schneller, und die, welche eine größere, langsamer.‘ Die entsprechende Stelle im lehrbuch der Astronomie von Newcomb-Engelmann heißt so: ‚Die Planeten bewegen sich um die Sonne und müssen demnach einer gegen die Sonne gerichteten Kraft gehorchen. Diese Kraft kann nichts anderes sein als die Gravitation, die Anziehung der Sonne selbst.‘ ‚Eine einfache Rechnung nach Keplers dritten Gesetz zeigt, daß die Kraft, mit der die Planeten gegen die Sonne gravitieren, sich umgekehrt wie die Quadrate ihrer mittleren Entfernung verhält.‘ ‚Es fragt sich jetzt nur noch, welche Art von Bahn ein Planet beschreiben wird, wenn eine Kraft von der erwähnten Beschaffenheit ihn um die Sonne führt. Newton wies nach, daß die Bahn allgemein ein Kegelschnitt sein müsse, mit der Sonne in einem der Brennpunkte. So verschwand alles Geheimnisvolle aus den himmlischen Bewegungen, und die Planeten erwiesen sich einfach als schwere Körper, die sich nach denselben Gesetzen bewegen, die wir um uns wirksam sehen.‘ Die moderne Beschreibung unterscheidet sich von der alten durch drei charakteristische Züge: dadurch, daß sie an Stelle der qualitativen Aussagen quantitative setzt, daß sie verschiedenartige Phänomene auf den gleichen Ursprung zurückführt und dadurch, daß sie auf die frage nach dem ‚Warum‘ verzichtet. Es ist im Hinblick auf diesen eben genannten Verzicht charakteristisch, daß zum Beispiel die Naturforscher der Romantik mit Newtons Theorie nicht zufrieden waren und daß ein bedeutender Gelehrter wie Lorenz Oken diese Theorie durch eine ‚lebendigere‘ zu ersetzen suchte. Oken schrieb einmal: ‚Nicht durch Stoßen und Schlagen schafft ihr die Welt, sondern durch Beleben. Wäre der Planet tot, so könnte er von der Sonne nicht angezogen werden.‘“
WERNER HEISENBERG
(Aus: Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung in Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft)