Anmerkungen zu den jüngsten Aktivitäten des studentischen Milieus in Frankreich
Unsere Autorin Caroline Dubois ist Mitglied von A7X, einer Marseiller Gruppe von (mehreren) Studenten, (wenigeren) Angestellten und (zwei) Hafenarbeitern, die sich u.a. vorgenommen haben, das ihrige zur Abschaffung der veranstalteten Welt beizutragen. Sie ist lebhaft in Braunschweig und Marseille.
Nachdem wir ihren ursprünglich als internes Zirkular konzipierten, auf französisch verfaßten Text ins Deutsche übertragen hatten, ist die Entwicklung in Frankreich weitergegangen: Nach den Jungs in den Banlieues traten die Studenten als Akteure auf die Bühne. Es erscheint uns daher sinnvoll, einige Ergänzungen anzubringen, wenn auch die Zensur ein ungetrübtes Bild der Lage in Paris erschwert. Noch ist die internationale Korrespondenz zu schwächlich, als daß man ein genaues Bild der untergründigen Bewegungen bekäme, auf die in beginnenden Krisen doch alles ankommt. Wir halten uns mangels besserer Quellen an die konservative Presse, die etwas weiter blickt als der Rest der bürgerlichen Bagage. Ferner erhielten wir einige Informationen über Augenzeugen.
In den französischen Vorstädten hatten bekanntlich die männlichen Jugendlichen begonnen, ihren abstrakten Willen zur Negation sans phrase auf eigentümliche Weise kundzutun; die Studenten haben es ihnen nun gleich- getan, wenn auch deutlich weniger effektvoll. „Dort randalierte der Teil der französischen Jugend, der bereits ausgeschieden ist aus dem Spiel, die faktische Unterschicht, das moderne Subproletariat. Heute protestiert der Teil, dem es demnächst an den Kragen geht, die massenhaft studierende Mittelklasse, für die es dennoch keine Jobs und Perspektiven gibt.“ (Die Welt, 21.3.06) Das in diesem Milieu vorherrschende Elend besteht aber darin, daß es nicht nur kein Bewußtsein ihrer Lage besitzt – was den jugendlichen Banden der Banlieues nicht anders ergeht –, sondern daß es sich zäh am Alten festklammert. Sie, die elender leben werden als jeder durchschnittliche Prolet bei General Motors, sie, die sich in zahllosen Praktika umsonst ausbeuten lassen, nur weil sie die vage Hoffnung haben, dann später einen Job zu bekommen, denken trotzdem, daß ihnen der Reichtum ihrer Eltern umsonst in den Schoß fallen müßte, weil sie schließlich Studenten seien und damit berufen, künftig die Elite der Nation zu bilden. Nach einer dieser Umfragen geben sogar 76% der Studentinnen und Studenten in Frankreich an, sie träumten davon, Beamte zu werden. Sie werden noch etwas brauchen, bis dieser Traum geplatzt ist. So jedenfalls kann die konservative Presse ihnen ironisch „blinde Staatsgläubigkeit“ vorwerfen und nicht zuletzt – Konservatismus: „So unzufrieden die Jugendlichen mit dem Status quo sind – noch mehr fürchten sie Veränderungen.“ „Wie der mit Selbstmordgedanken spielende Hamlet wollen sie ‚die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehen.‘“ (Die Welt, 20.3.06) So marschierten die französischen Studentinnen im Banner der Gewerkschaften und linken Parteien, von denen sie sich sanft manipulieren lassen.
Vor diesem Hintergrund ist wohl die von Caroline Dubois ausgesprochene Notwendigkeit einer Einheit der Studenten mit den Chaoten der Banlieues zu sehen. Unmittelbar besteht überall die absolute Spaltung zwischen den diversen Milieus, wie auch zwischen den Individuen innerhalb dieser Milieus. In den Banlieues bestand absolute Trennung der Geschlechter, und tatsächlich kann dieser Mangel nur behoben werden, wenn die Frauen der Banlieues zunächst für sich und gegen den überwiegenden Teil ihrer Männer sich verständigen. Was nun aber das studentische Milieu und die Jugendlichen der Banlieues angeht, so bemerkt ein französische Soziologe mit dem Namen François Dubet: „Sie mißtrauen einander.“ „Die Jungen aus den Banlieues finden, daß die Studenten besser dastehen als sie selbst. Und die Studenten fürchten, daß die Vorstadt-Chaoten ihre Demonstrationen in Verruf bringen.“
Tatsächlich war es sogar so, daß die Jugendlichen der Banlieues, organisiert in kleinen, nihilistischen, autonomen Kampfgruppen mit strenger Hierarchie die Studentendemonstrationen angriffen, so daß den Studenten zunächst gar nichts blieb, als sich zu verteidigen, oder auf die Polizei zu vertrauen. So brutal und verroht die Vorstadtpubertierenden dabei auch sind, man darf nicht vergessen, daß tatsächlich die Studenten ihre scheinbaren und wirklichen Privilegien keine Sekunde in Frage stellen und schon 1968 einige Subproletarier (‚Katangeser‘ genannte Ex-Söldner, Arbeitslose und Deklassierte) der Polizei auslieferten, obwohl erstere doch gekommen waren, um die von Studenten besetzten Gebäude zu verteidigen. Es muß daher ein glaubwürdiges Angebot zur Solidarität zunächst von den Studenten ausgehen, deren Wille, die Herrschaft weiter auszuüben, die Masse berechtigterweise mit Abscheu erfüllt, wenn auch meist der gewußte Grund ein absolut falscher ist. Es ist an den Studenten und Studentinnen, zu desertieren; was die Unterschicht oder das integrierte Proletariat dann macht, ist schließlich ganz ungewiß, aber eine gewisse Chance, etwa der Verrohung der Männer aus den Banlieues entgegenzuwirken, wird sich schon ergeben. (Zack Snyder hat in seiner Version von Dawn of the Dead ein schönes Beispiel gegeben, wie einige autoritäre Charaktere zu erträglichen Zeitgenossen werden könnten.)
Soweit der offiziell bekannte und quantitativ größere Teil der neuen Studentenbewegung. Wie sieht es darüber hinaus aus? Cora Stephan, eine Renegatin der Linken und damit gute Kronzeugin, meinte: „Die Massendemonstrationen in Frankreich sind etwa so zeitgemäß wie der deutsche Kampf um die 38,5-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst. Was ist das für eine Welt, in der es ‚soziale Spannungen‘ auslöst, wenn Arbeitnehmer unter 26 Jahren nicht schon mit dem ersten Job ins Sicherheitskorsett der Festanstellung von der Wiege bis zur Bahre fallen?“ (Die Welt, 21.3.06) Tatsächlich sind es nicht diese oder jene partikularen Sadismen der Regierung oder der Unternehmen, welche die Studenten auf die Straße treiben. Sie wissen es nicht, aber einige beginnen bereits es zu tun. Ohne jedes Programm haben kleine Gruppen der Studenten begonnen, den Zweck der offiziellen Faschingsmärsche gegen dieses Gesetz zu entfremden, indem sie sich regelmäßig Scharmützel mit der Polizei lieferten, und dabei teilweise nicht davor zurückschreckten, mit Latten auf dieselbe loszugehen; die fruchtlose Taktik des kommutativen Barrikadenkampfes wurde von einigen von ihnen wieder aufgenommen. (Kommutativ deshalb, weil die Studenten auf ihrer zufälligen Seite nichts zu verteidigen haben, nicht einmal einen eigenen Versammlungsort. Die von den Barrikaden abgesteckten Seiten könnten so auch vertauscht werden, ohne daß etwas genommen oder hinzugefügt wäre.) Nach allem, was man hört, ist dieses Aktionsniveau trotzdem deutlich höher als das Niveau des Bewußtseins. Diese saturnischen Ausschweifungen einiger Studentinnen führten bereits zu ca. 4000 Festnahmen und 68 – durch die in Frankreich bei solchen Anlässen übliche Form des kurzen Prozesses angeordnete – Gefängnisstrafen ohne Bewährung. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß eine Verbrüderung von Studenten und Vorstadtkindern auf dieser Grundlage einfacher ist und auch teilweise anfing, wie überhaupt bei solchen Anlässen der Tendenz nach aller möglicher Pöbel auftritt, der sich freut, endlich einmal die Sau rauslassen zu dürfen.
Es ist aber bei aller erscheinenden Belanglosigkeit solcher ins eigene Fleisch schneidenden, blinden Krawalle schwer zu sagen, wie weit sie auch Momente des Besseren schon zu enthalten beginnen. Bekannt wurde ein spektakuläres Besäufnis, bei dem der Weinkeller der Sorbonne geplündert wurde. Dann eine Zusammenrottung einiger Hundert Studenten, welche unter „Vive la Commune“-Rufen den Montmartre bestiegen, eine Barrikade bauten und sich mit den anwesenden Prostituierten verbrüderten (vgl. Le Monde vom 2.4.06) Weiteren Berichten zufolge soll sogar versucht worden sein, bei dieser Gelegenheit die Sacre Coeur – dieses häßliche Bauwerk der Contrerevolution von 1871 – anzuzünden, woran sie von der Polizei erst gestoppt worden seien, als sie schon mit Rammböcken das Kirchenportal traktierten. Se non è vero, è ben trovato. – In solchen disparaten Aktionen ist das zu ergründende Wesen der Erscheinung enthalten; diese viel unbekanntere und kleinere Bewegung kann aber nur durch direkte Kommunikation bekannt werden, die herzustellen eine der unmittelbareren Aufgaben ist.
Als dritte Partei fehlt nun in Frankreich nur das Proletariat, mit dessen ausstehender Praxis alles steht und fällt. Aber ungeachtet dieser Schwäche ist schon jetzt die Notwendigkeit deutlich geworden, daß alle schüchtern aufbegehrenden Sektoren erkennen müssen, daß der Widerspruch zwischen alter und neuer Welt zunächst in ihnen selbst entstehen und ausgefochten werden muß, da man nur so dazu kommen kann, die kommende Umwälzung der Erde zu beginnen. Diese aber ist das vorzügliche Abenteuer, für das die künftigen Argonauten sich finden müssen.
DIE REDAKTION
Wenn im Beamtenapparat kein Platz mehr ist, kommen die Studenten nach Paris zurück.
– Szene aus dem Quartier Latin.