Hilfstruppen der EU
2001 als Flugschrift verbreitete Kritik an der Antiglobalisierungsbewegung.
I.
Während des new-economy-Booms wurde noch einmal für ein paar Jahre die Parole: „Bereichert Euch!“ ausgegeben. „Jetzt kommen die fetten Jahre“ titelte der Stern im Frühjahr 2000, versprach „gute Aussichten für junge Leute – Millionen neue Jobs – mehr netto für alle“ und forderte seine Leser mit dem Slogan: „macht was draus“ auf, ihre Chance zu nutzen. Zwar war die Hoffnung auf privates Glück nur noch ein zerbrechlicher Abklatsch des Geistes der Gründerjahre des Kapitalismus, als man „vom Tellerwäscher zum Millionär“ aufzusteigen hoffte. Die Politiker mussten sich einiges einfallen lassen, um der lahmen deutschen Jugend durch staatliche Existenzgründerprogramme und den Abbau von Sozialleistungen etwas Mut zur Eigeninitiative beizubiegen. Aber dann versuchten doch etliche, durch gnadenlose Selbstausbeutung in Start-up-Unternehmen groß heraus zu kommen, und selbst der biedere Kleinanleger hoffte, mittels der T-Aktie seinen Schnitt zu machen. Leitbild war der jungdynamische, kreative und flexible Manager seines eigenen „Humankapitals“.
Damit ist es seit den jüngsten Kurseinbrüchen an der Börse und sich verdüsternden Konjunkturaussichten vorbei. Dynamisch, flexibel, kreativ und anpassungsfähig müssen die Arbeitskräfte natürlich nach wie vor sein, weil die Konkurrenz in schlechten Zeiten nicht weniger, sondern härter wird, nur winken zur Belohnung keine Aktiengewinne mehr. Wenn die Menschen dennoch bei der Stange gehalten werden müssen, obwohl für ihre ständigen Verzichts- und Anpassungsleistungen keinerlei Aussicht auf späterer Entschädigung besteht, wächst der gesellschaftliche Bedarf an Moral.
Historisch war Moral die Voraussetzung aller Kulturentwicklung. Anstatt wie die Tiere ständig den unmittelbaren Triebregungen zu folgen, wurden die Stammesmitglieder in grauer Vorzeit durch die Gebote der Schamanen und Priester gezwungen, Verzicht zu leisten und sich der Mühsal der Arbeit zu unterziehen, die Natur zu bearbeiten und sich untertan zu machen, um so die Voraussetzungen dafür zu schaffen, zu einem späteren Zeitpunkt ein besseres Leben zu haben. Das Problem an der gesamten Menschheitsgeschichte war jedoch, dass die Rechnung bisher nie aufging. Ständig haben die Menschen geschuftet und verzichtet, haben die ganzen herrlichen Errungenschaften der Zivilisation hervorgebracht, aber entschädigt wurden sie dafür höchstens im Jenseits.
Heute ist der Verzicht nur noch absurd: Die Welt quillt über von Gütern, Produktionsmitteln und Technologie, ein Leben in Hülle und Fülle für alle Menschen wäre längst möglich, nichts hält die Natur mehr bereit, was Zwang und Entsagung rechtfertigen könnte, aber noch immer wurstelt die Menschheit unbefriedigt und zunehmend verbiestert vor sich hin. Moral ist nichts mehr als ein Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung menschenunwürdiger Verhältnisse.
II.
Anders jedoch als in vorbürgerlichen Zeiten, als die Herrschenden noch ihre Pfaffen gebraucht haben, um das Volk mit Opium einzulullen, werden heute, dank Demokratie und Zivilgesellschaft, von den Beherrschten ganz eigenverantwortlich Betäubungsmittel für das Durchstehen der harten Zeiten gemixt. „Es geht letztlich darum,“ schreibt die Berliner Autonomenzeitschrift Interim in ihrer Sonderausgabe nach dem Gipfel in Genua, „dass wir in einer auf Werte bezogenen Gesellschaft leben möchten, und dass unsere Gesellschaft, die so am Ende ist, dass sie nur noch armselige Pseudowerte hat wie Profit, cash und fun, eine Gesellschaft ist, die sich selbst aus der Umlaufbahn schießt.“ „Werte“ haben den Zweck, den Einzelnen dazu zu bringen, seine privaten Interessen, also seinen persönlichen Profit und seinen höchstindividuellen fun, zugunsten des Dienstes am großen Ganzen zurückzustellen.
Konsequenterweise richtet sich die Empörung der Interimschreiber nicht nur gegen die Profitgier der Herrschenden, sondern auch gegen „die Menschen, die ihre Ersparnisse durch Aktiengeschäfte aufbessern“, sich also am Tanz ums goldene Kalb beteiligen. Derart gemeinschaftsvergessene Egoisten erinnert die Interim daran, „dass ihr Verhalten eine politische und eine moralische Dimension hat, dass Verhalten ganz generell eine politische und moralische Dimension hat.“ Über Untertanen mit solch tadelloser Gesinnung, die ständig und „ganz generell“ das Verhalten ihrer Mitmenschen nach Aspekten absuchen, die dem Gemeinwohl und damit dem Erhalt der Herrschaft abträglich sein könnten, freuen sich die Herrschenden. Deshalb findet der Spiegel, der ja bekanntlich eine Zeitung der Herrschenden ist, die Globalisierungsgegner sehr sympathisch: „Genua, das war im Kern nicht ideologische Gesellschaftskritik alten Stils, sondern eher ein lauter Weckruf. Eine Aufforderung an alle, die sich für mehr verantwortlich fühlen als das eigene Wohlbefinden. Und eine Ermahnung an die globale Spaßgesellschaft, bei all dem Spaß eben die Gesellschaft nicht zu vergessen.“ (Spiegel 30/2001). Zwar richtete sich der Protest in Genua noch gegen die acht Herren der Welt, weil diese sich in ihrer roten Zone abschotteten und dort arrogant und protzig ihre Macht zur Schau stellten. Dies könnte sich jedoch schnell ändern, wenn sich die Politiker etwas volksnäher zeigten und auf allzu pompöse Gipfeltreffen verzichteten, wie es nach Genua auch allenthalben in der Bürgerpresse gefordert wurde. Wenn Moral aber ein Mittel zur Aufrechterhaltung menschenunwürdiger Verhältnisse ist, so ist es erklärungsbedürftig, dass unter den Beherrschten, die ja unter diesen Verhältnissen leiden, selbst die größten Moralisten sind. Darum soll es im Folgenden gehen.
III.
Im Interview mit der Zeitschrift Arranca erklären die tute bianche ihr Konzept der „Rebellion der Körper“: „So wie in der Vergangenheit die Arbeiter mit ihren Arbeitswerkzeugen auf die Straße gingen (Schraubenschlüssel, Sichel, Hammer), gehen wir heute mit unseren Arbeitswerkzeugen auf die Straße: Körper und Gehirn, die so wertvoll sind, dass wir beschlossen haben, sie mit Helmen, Schildern, Schaumgummi, aufgeblasenen Schläuchen, Kork und Plexiglas zu schützen.“ Wer seinen Kopf nicht deshalb vor Bullenknüppeln schützt, weil die Schläge verdammt weh tun können, sondern weil er dieses wertvolle Arbeitsinstrument nicht beschädigen lassen will, wer sich also für eine Art Schraubenschlüssel auf zwei Beinen hält und das noch nicht mal als Skandal empfindet, sondern im Gegenteil stolz darauf ist, der möchte offensichtlich gar nichts anderes als eine Arbeitsameise sein.
Dummerweise sind Menschen jedoch keine Maschinen, selbst wenn sie gern welche wären, sondern Naturwesen, und ihre Disziplinierung zu Arbeitsinstrumenten ist nur um den Preis massiven Triebverzichts zu haben. Man hätte also mehr Grund, die Arbeit zu hassen, als sie zu lieben. Das weiß eigentlich auch jeder. Der Grund, warum trotzdem alle ständig ihren Leistungswillen betonen, ist die Angst vor den Abstürzen ins Nichts, welches jedem droht, der den Anforderungen nicht gerecht wird. Eine Angst, die nicht zu trennen ist vom Anblick der Fernsehbilder der hungernden Massen in den Elendsregionen der Welt, die den dickbäuchigen Metropolenbewohnern vor Augen führen, was es heißt, ein überflüssiger Mensch zu sein. Denn dass im Grunde auch sie nicht weniger überflüssig sind, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, sondern vielmehr Gnade ist, dass das Kapital ausgerechnet für sie noch eine Verwendung hat, das wissen auch mitteleuropäische Angestellte nur zu genau. Deshalb dürfen sie sich nichts anmerken lassen. Im Betrieb müssen sie immer selbstbewusst, optimistisch und souverän erscheinen und ihre Panik vor dem Versagen tunlichst vor den Kollegen und Vorgesetzten und darum auch vor sich selbst verbergen. Um dies durchzustehen, müssen sie sich die kapitalistische Produktion als an und für sich vernünftige Angelegenheit zurechtlügen und den Grund für ihr Leiden in einer anderen Sphäre suchen.
Als Gegenstück zur handfesten Arbeit erscheint dann die unheimliche Zirkulation: „Die entfesselten globalen Märkte“ (Attac), „die Weltherrschaft des Mammons“ (Deutsche Stimme), beziehungsweise das „vagabundierende Finanzkapital“ (Neues Deutschland) hätte „alle nationalen Grenzen niedergerissen“ (IG Metall Wolfsburg), und könnte nun „die Welt aussaugen“ (DKP), beziehungsweise „den Gemeinschaften und Nationen Ressourcen und Reichtum“ entziehen (Weltsozialforum), oder wie ein „Krebsgeschwür“ im „sozialen Organismus“ „wuchern“ (Linke Liste Freiburg). Die nebulöse Bedrohung für die Gemeinschaft wird dann regelmäßig auf das Wirken eine kleinen Gruppe bösartiger Egoisten zurückgeführt: „Die Börse“ sei „zu einem Paradies für Spekulanten und Abzocker“ geworden (Die Zeit), die von „neurotischer Gewinnsucht“ getrieben würden (Vivian Forrester). „Eine radikale Minderheit von Großaktionären und Spitzenmanagern“ (IG Metall Wolfsburg), „einige zehntausend habgierige Dealer und Manager“ (Helmut Schmidt), kurz: die „Geld-Mafia“ sei es, „die die ganze Weltwirtschaft beherrscht, dabei über Leichen geht und auf Kosten der Mehrheit der Menschen immer reicher und mächtiger wird“ (DKP). Schuld an der Misere sind also nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern das unmoralische Verhalten Einzelner.
Man sieht, dieses Weltbild ist keineswegs eine Exklusivität der Globalisierungsgegner. So wie sie ticken alle, Politiker und Stammtischredner, Neonazis und Linksradikale. Mitnichten handelt es sich dabei um „verkürzte Kapitalismuskritik“, also ein Schritt in die richtige Richtung, der nur noch nicht radikal genug ist, wie linke Akademiker gerne behaupten. Mögen sich die Neoliberalismusgegner auch noch so subversiv vorkommen, ihre Haltung ist überhaupt keine Kritik, sondern rückhaltlose Bejahung des Bestehenden. Die Verurteilung der Finanzwelt als böse ist nur ein psychologischer Trick, um den Rest der kapitalistischen Gesellschaft für vollkommen gut zu erklären. Die Radikalisierung dieses moralistischen Protests führt nicht zum Kommunismus, sondern zum faschistischen Pogrom. Wer wie die PDS mit der Parole: „Steuerflüchtlinge ausweisen!“ auf Stimmenfang geht, der hat kein Argument, was er dem „Ausländer raus!“ brüllenden Deutschen entgegenhalten könnte, und wer wie Jaques Chirac die „Spekulanten“ für „das Aids der Gesellschaft“ hält, der kann nicht vernünftig begründen, was ihn eigentlich vom Front National unterscheidet, dem ebenfalls an der Reinigung des Volksköpers gelegen ist. Dass die linken Moralisten die mörderische Konsequenz ihres Ressentiments nicht ziehen, davor rettet sie – neben realpolitischen Erwägungen – nur ihr antirassistisches Über-Ich. Deshalb ist Moral aber auch nicht nur schlecht. Diese antirassistische Moral ist der Grund, weshalb man bei der Attac-Anhängerin noch die Chance hat, sie in der Diskussion zu überzeugen, während man dem Nazi im Zweifelsfall nur noch auf Maul hauen kann.
Zur Kritik am „entfesselten Kapitalismus“ gehört notwendig die Forderung nach dem starken Staat, der den ungehemmten Marktkräften wieder Fesseln anlegen soll: die DKP fordert eine „Erneuerung der Politik“, Attac will die „Entwaffnung der Finanzmärkte“, die IG-Metall Wolfsburg ruft „die politischen Akteure“ dazu auf, sich „aktiv einzusetzen für die Gestaltung eines fairen, rechtlichen, sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen für den Weltmarkt“. Wie man die Produktion für eine an sich nützliche Angelegenheit hält, die nur leider von einigen Egoisten missbraucht wird, so gilt der Staat als fürsorglicher Gesellschaftsplaner, dessen Zweck das Wohl seiner Bürger sei. Die Kritik richtet sich niemals gegen den Staat als solchen, der doch mit der Gewalt seiner Bullenknüppel den gewaltlosen Tausch erst ermöglicht. Kritisiert wird immer nur das momentan regierende Personal, weil es sich nicht selbstlos in den Dienst des Volkes stelle, sondern sich zum Handlanger der „Finanzindustrie“ von „Wallstreet“ und „Londoner City“ erniedrigen lasse, wie es Oskar Lafontaine stellvertretend für alle anderen formuliert.
IV.
Da man den eigenen Staat nicht radikal kritisieren will, richtet sich die Kritik gegen ein Ersatzobjekt: die Vereinigten Staaten von Amerika, die überall als Inbegriff des Kapitalismus gelten. Der Hass auf die USA ist die Übertragung des moralischen Weltbilds vom nationalen Rahmen auf den Weltmaßstab: So wie nicht die Ausbeutung in der Fabrik, sondern der Wucher der Händler daran Schuld sei, dass die eigenen Bedürfnisse zu kurz kommen, so seien nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Dritten Welt verantwortlich für die dortige Armut, sondern der US-Imperialismus, der den Völkern die Ressourcen raube. Die ehemaligen Kolonien würden sich nach dieser absurden Vorstellung also sofort in blühende Landschaften verwandeln, wenn nur die bösen Amis verschwänden. Wer die kapitalistischen Verhältnisse als Ganzes abschaffen will, der muss selbstverständlich auch gegen den Weltpolizisten sein, der mittels CIA und Militärinterventionen in den letzten Jahrzehnten viel dazu beitrug, dass diese Verhältnisse weiterhin bestehen blieben. Wer aber gegen den Polizisten hetzt und über die Verhältnisse schweigt, der redet schlimmeren das Wort. Wenn die Staatsgewalt verschwindet, aber der Kapitalismus fortbesteht, wie in den Slums südamerikanischer Großstädte, in die die Polizei sich nicht mehr hineintraut, verwandelt sich die halbwegs gesittete marktwirtschaftliche Konkurrenz in einen blutigen Bandenkrieg. Das gleiche gilt im Weltmaßstab: Seit sich nach dem Epochenbruch von 1989 alle Befreiungsbewegungen endgültig in völkische Banden verwandelt haben oder von diesen abgelöst wurden, ist jeder Schlag gegen die US-Hegemonie kein Sieg für die Emanzipation, sondern ein Fortschritt der Barbarei.
Auch die von Deutschland dominierte EU ist längst nicht mehr der treue Vasall der Amerikaner, wie es ihr von Antiimperialisten aller couleur vorgehalten wird, sondern entschlossen, aus der Rolle des Juniorpartners herauszutreten und der einzig verbliebenen Weltmacht den Führungsanspruch streitig machen. Die Feindschaft gegen Amerika ist nicht länger die Sache einer kleinen Minderheit am linken Rand, sondern Regierungsprogramm. Die europäischen Eliten, die sich zu nicht unerheblichen Teilen aus der ehemaligen Protestbewegung rekrutieren, kleiden derweil ihr imperialistisches Projekt in ein antiimperialistisches Gewand. Während die USA das Militärregime in Kolumbien unterstützen, leisten die Europäer Entwicklungshilfe und der BND trifft sich mit Vertretern der Guerilla, die wiederum das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft loben. Im Kosovokrieg gerierten sich Fischer und Co. als selbstlose Verteidiger der Menschenrechte, während die Bomben, die von den USA abgeworfen wurden, natürlich nur schnöden Profitinteressen dienten. Im Nahen Osten spielt man den ehrlichen Makler, der nicht einseitig Partei ergreift, wie angeblich die USA, sondern ganz uneigennützig an einer Friedenslösung interessiert ist. Derweil kungelt man mit den schlimmsten Verbrecherregimes von Syrien bis zum Iran, die Israel am liebsten von der Landkarte tilgen würden, um den USA bei den dort winkenden lukrativen Wirtschaftsverträgen zuvorzukommen. Während des aktuellen amerikanischen Feldzugs gegen den islamistischen Terror hält man zwar offiziell den USA die Treue und nutzt die Gelegenheit, die eigene Militärmacht zu erproben, gleichzeitig präsentiert man sich jedoch als weiser Vermittler, der zur Besonnenheit mahnt, um damit der islamischen Welt zu signalisieren: „Eigentlich meinen wir’s gar nicht so“. Und diese Strategie ist durchaus erfolgversprechend: Während sich die Araber der Antiterrorkoalition der USA nur widerwillig und unter Drohungen unterordnen, wird Deutsch-Europa allenthalben Sympathie entgegengebracht.
Trotz der zur Schau gestellten Friedfertigkeit spielt Europa den aggressiveren Part im transatlantischen Konkurrenzkampf. Während die USA den Status-quo verteidigen und tendenziell eher um Stabilität bemüht sind, treten die Europäer als Herausforderer auf und verbünden sich grundsätzlich mit den Kräften, die eine Destabilisierung des Weltsystems betreiben. Während die USA, zumindest bis in die 70er Jahre, die Hegemonialmacht einer Epoche des expandierenden Kapitalismus war, drängen die Europäer in einer Zeit des ökonomischen Niedergangs an die Macht und werden deshalb keine neue stabile Ordnung installieren können, was eindrucksvoll das als „Neuordnung“ bezeichnete Chaos beweist, das sie auf dem Balkan angerichtet haben.
Die gegenseitige Sympathie Deutschlands und seiner völkischen Vasallen auf dem Balkan und zukünftigen Verbündeten im Nahen Osten ist jedoch mit wirtschaftlichen und strategischen Interessen allein nicht zu erklären. Es handelt sich vielmehr um eine Art Seelenverwandtschaft, die sich beispielsweise in den verständnisvollen Berichten über islamischen Tugendterror und Amerikahass zeigt, die in den letzten Wochen im deutschen Feuilleton zu finden waren. Aus ihnen spricht Neid und Bewunderung für die islamischen Länder, welche die perfekte Elendsverwaltungsideologie mit dazugehörigem unanzweifelbar-ultimativem Feindbild („Zionistische Weltverschwörung“) schon gefunden haben, nach dem man hierzulande in immer neuen Kampagnen gegen wechselnde Volksfeinde noch sucht. Auf der Seite der Hilfsvölker scheint man sich daran zu erinnern, dass Deutschland schon in der letzten großen Krise des kapitalistischen Weltsystems die Rolle des faschistischen Krisenlösers übernommen hat. Wenn die Zeiten nun härter werden, liegt es nahe, sich demjenigen anzuvertrauen, dem man aufgrund einschlägiger Erfahrung die Hemmungslosigkeit und Konsequenz zutraut, die nötig sein wird, um den kommenden Crash zu überstehen.
Wenn die Antiglobalisierungsbewegung sich nun auf Amerika einschießt, ohne die Welt als Ganzes zu kritisieren, so wünscht sie damit notwendig den Gegnern der USA viel Glück in der Konkurrenz, ganz gleichgültig, was sie selbst sich dabei denken mag. Sie begeht damit nicht nur Verrat an Karl Liebknechts Losung, wonach der Feind immer im eigenen Land stehe, sie ergreift, wie gezeigt, auch noch für die schlimmere Seite Partei. Aber auch die Radikaleren unter den Protestierenden, die explizit die eigenen Herrschenden kritisieren, sind oft nicht viel besser. Sie richten sich gegen die EU vor allem deshalb, weil sie ihnen zu amerikanisch erscheint. Die EU-Bürokratie gilt als korrupt, abgehoben und undemokratisch, sie verschleudere das Geld, das die Werktätigen mühsam erarbeitet haben und bediene Sonderinteressen, anstatt sich um das Wohl des Volkes zu kümmern.
V.
Von den Herrschenden ergeht nun die Aufforderung, sich die Rolle als ideologische Hilfstruppen der EU, welche die Globalisierungsgegner objektiv spielen, auch subjektiv zu eigen zu machen. Daniel Cohn-Bendit freut sich über die „Empörungskraft“ einer „moralischen Generation“, die freilich nichts mit „Linksradikalismus“ zu tun habe und sich deshalb hervorragend für die Gefolgschaft eignet. Er lädt die „Protestbewegung“ zum „politische[n] und zivile[n] Dialog“ mit den „Entscheidungsträgern“ ein und stellt ihnen damit einen anerkannten Job bei der moralischen Aufrüstung der „neuen EU“ in Aussicht, die sich „politisch und kulturell als Gegenmacht zu den USA verstehen“ müsse. Voraussetzung für die Übertragung dieser verantwortungsvollen Aufgabe ist jedoch zweierlei: Erstens „müssen die Leute der Bewegung den Mut haben, sich dem Führungsanspruch der Militanten entgegenzustellen“, sprich der Staatsgewalt freie Hand bei der Ausschaltung der Radikalen lassen. „Wir haben das auch mit der RAF geschafft,“ droht Cohn-Bendit. Zweitens muss die Antiglobalisierungsbewegung sich damit abfinden, dass ihre Forderungen nur dann eine Chance auf Realisierung haben, wenn klar ist, dass sie substanziell eh nichts ändern werden: „Um dem moralischen Impetus dieser Bewegung zu begegnen, sollte Europa als erstes eine Schuldenstreichung für die vierzig, fünfzig ärmsten Länder beschließen – einseitig und sofort. Es handelt sich dabei um eine Geste, denn die Argumentation, dass das nicht hilft, mag ja richtig sein, aber die Entschuldung ist moralisch notwendig.“ Alle Hoffnungen auf materielle Verbesserungen soll man sich also abschminken, denn eine Neuauflage des keynesianischen Wohlfahrtsstaats kann es nicht geben. Dessen relativer Massenwohlstand hatte seine Voraussetzungen in den im zweiten Weltkrieg angerichteten Zerstörungen und in der Blockkonfrontation, und damit ist es seit dem Untergang des Sowjetimperiums vorbei. Was von den Forderungen der Globalisierungsgegner nach deren staatsbürgerlicher Läuterung übrig bleibt, ist die Moral. Und die wird nötig sein, um die kommenden Krisen zu meistern.
Gruppen wie Attac haben die Einladung längst angenommen. Pierre Bourdieu, der französische Attac-Vordenker, beklagt sich darüber, dass die EU heute ein „amerikanisches Europa, so etwas wie Kanada“ sei, „ein Verbündeter und Handelspartner der USA, der aber wegen der ungleichen Kräfteverhältnisse in ewiger Abhängigkeit bleibt“. Dagegen setzt er „die Idee eines starken europäischen Bundesstaats … als konkrete Utopie.“ Attac ist bereits faktisch eine Regierungsorganisation, Oskar Lafontaine gehört dem Netzwerk ebenso an wie mittlerweile 125 Abgeordnete des französischen Parlaments. Ihre zentrale Forderung, die Einführung der Tobin-Tax, einer Steuer auf Spekulationsgewinne, bringt ihre pseudorebellische Haltung gut auf den Punkt. Zwar hat diese Forderung mittlerweile so prominente Fürsprecher wie Gerhard Schröder und Lionel Jospin, einführen wird man sie wohl trotzdem nicht, weil dies, wenn – dann weltweit geschehen müsste. Jeder nationale Alleingang würde massive Standortnachteile bedeuten, die sich kein Finanzplatz leisten kann. Attac wird sich also weiterhin rebellisch verkommen können, weil es ungemein radikal die Politiker als Heuchler entlarvt, und gleichzeitig von allen Seiten für seine Forderung Sympathien empfangen. Würde die Tobin-Tax aber wider Erwarten doch weltweit eingeführt, so würde diese Einschränkung der Spekulation keineswegs zu einer arbeitsplatzschaffenden Konjunkturbelebung führen, wie der globalisierungskritische Menschenverstand sich das vorstellt. Es ist nämlich nicht so, dass in der Produktion die Arbeitsplätze gestrichen werden, weil das Geld in die Spekulation abfließt. Es verhält sich genau umgekehrt: Weil das angehäufte Kapital in der Produktion immer weniger Gewinnbringend investiert werden kann, flüchtet es sich in spekulative Anlagen, die nichts anderes als einen ungedeckten Wechsel auf zukünftige Gewinne darstellen. Wird diese Fluchtmöglichkeit versperrt, so ist ein Börsencrash sehr wahrscheinlich, was dazu führen würde, dass auch in der Produktion die Maschinen stillstünden.
Anstatt sich von solchen Überlegungen verunsichern zu lassen, die eine Ahnung von der katastrophalen Krise vermitteln könnten, auf die der Kapitalismus unweigerlich zusteuert, hält Attac unbeirrbar am Willen zum Mitmachen fest. Die Organisation sieht sich „nicht als Gegner der Globalisierung“, sondern trete vielmehr für deren „soziale und ökologische Gestaltung“ ein, für „eine Globalisierung mit menschlichem Gesicht“. In der Nahostpolitik ruft man die Regierenden gar zu einer härteren Gangart auf: Bourdieu unterzeichnete eine Petition, in der die EU-Regierungen aufgefordert wurden, alle Verträge mit Israel zu stornieren und offiziell einen unabhängigen Palästinenserstaat anzuerkennen. „Die USA haben aufgrund ihrer konsequenten Parteilichkeit jede Glaubwürdigkeit als Vermittler verloren. Die arabischen Staaten, Europa und die UN dürfen nicht länger ihre Marginalisierung bei der Suche nach einem gerechten Frieden im Nahen Osten hinnehmen“, heißt es in dem Pamphlet. Was ist dies anderes als die Forderung nach europäischen Truppen auf dem Golan? Dasselbe wird von der Bildzeitung nur etwas kaltschnäuziger formuliert: „Israel liegt in unserem Vorhof, nicht in dem der USA.“