Die gewonnenen Erfahrungen
„Gegen den Angriff der Reichen und ihrer Politiker - Selbstverteidigung“
Die Ereignisse des 29. März machten einige wichtige Einsichten unmissverständlich klar.
Was Straßenkämpfe angeht, so stehen einige Beobachtungen unmittelbarer im Vordergrund als andere. Die wichtigste Voraussetzung für Aktionen besteht weder darin, einen Plan zu haben – da Pläne in solchen Situationen immer in sich zusammenfallen – noch darin, materiell vorbereitet aufzutauchen, auch wenn das nicht schadet. Die grundlegendste Notwendigkeit ist die Fähigkeit, die Polizei zurückzuschlagen. Diejenigen, die der Polizei einen Raum direkt entreißen, können in der Folge alles machen. Die Fähigkeit, die Polizei zu schlagen, folgt primär aus der inneren Einstellung, zweitens aus der Erfahrung und drittens aus der Ausrüstung. Die ersten beiden Voraussetzungen können die dritte aus der städtischen Landschaft erzeugen, wenn sie niemand im Voraus vorbereitet hat.
Diejenigen, die die Polizei am effizientesten zurückschlagen konnten, setzten sich aus jungen Leuten mit unterschiedlichen sozioökonomischen und ethnischen Hintergründen zusammen, die wenig oder keine vorangehende Straßenerfahrung hatten. Ihre Effektivität multiplizierte sich, sobald sich ihnen Leute mit mehr Erfahrung und Vorbereitung anschlossen. Gleichfalls konnten die an ihrer Seite kämpfenden Anarchisten an einem Tag mehr Straßenerfahrung machen, als bei allen Protesten des vorangegangenen Jahres zusammen. Erfahrung sammelt sich nicht passiv an. Sie fällt nur jenen mit der adäquaten Haltung zu.
Weniger offensichtlich ist die Wichtigkeit derer, die nicht an den Frontlinien stehen. Die sine qua non der Krawalle des 29. März war die Menschenmenge, die diejenigen im Zentrum des Geschehens physisch und emotional unterstützten. Die Formen dieser Unterstützung müssen sich breiter ausfächern, die Intensität muss sich steigern – Notwendigkeiten, die von der Idee gehemmt werden, Anarchisten müssten entweder an vorderster Front kämpfen oder davonlaufen. Die Anarchisten in der dritten Reihe, die die Hände erheben und den Leuten sagen, sie sollen ruhig bleiben, sind genauso wichtig, zusammen mit den sich weiter hinten Befindenden, die das Pflaster in Wurfgeschosse zertrümmern – zu oft wird letztere Aktivität direkt an der Frontlinie ausgeführt, wo die Leute und die von ihnen angehäuften Steinhaufen angreifbarer sind. Es ist außerdem nötig, Genossen zu haben, die nicht an den Kämpfen teilnehmen, aber in ihrem Sinne gegen diejenigen argumentieren, die die Aufrührer befrieden oder isolieren wollen und andere – noch weiter hinten, an Orten, die sicherer für Kinder und Alte sind –, die den Kämpfen applaudieren oder jedes Mal in Jubel ausbrechen, wenn ein neues Feuer ausbricht, und die die Leute ermutigen, die Kämpfer nicht zu verlassen, sondern sie vielmehr als die „Unsrigen“ anzusehen.
Unterstützung für diese Art von Straßenkampf zu gewinnen, war ein schrittweiser aber stetiger Prozess nach der Massenerscheinung des Pazifismus in der 15M-Bewegung. In vielerlei Hinsicht war diese Bewegung darauf ausgerichtet, die Erinnerungen an die Kämpfe hier anzugreifen, und von den indepes bis zu den Anarchisten hatten viele Leute ein Interesse daran, eben diese Geschichte wieder ins Zentrum der neuen Bewegung zu rücken, so wie sie das Zentrum der Bewegungsbahn des Kampfes vom 29S-Generalstreik zum 1. Mai 2011 bildete. Diese Geschichte beinhaltet eine tief verwurzelte antikapitalistische Analyse und eine kampflustige Praxis. Indem sie die Oberflächlichkeit des Pazifismus und des demokratischen Populismus herausstellen, legitimieren diese beiden Aspekte der populären Geschichte die radikalen Auseinandersetzungen sowie die Aktionen, die diese begleiten müssen.
In den ersten Wochen der Platzbesetzungen der Bewegung des 15. März mussten Anarchisten sich wiederholt mit dem Pazifismus auseinandersetzen, Flyer und Texte verteilen und jede kleine Abweichung von den zahmsten und staastsbürgerlichsten Aktionsformen rechtfertigten. Die Polizeigewalt beschleunigte diesen Lernzyklus. In allen folgenden Großdemonstrationen definierten die Anarchisten die zentralen Konflikte und versuchten, die Sache voranzutreiben, wobei sie mehr Wert auf sichtbare als auf klandestine Aktionen legten. In den ersten paar Monaten entzündete sich der Konflikt am Graffiti. Fast alle hatten sich bereits die formaljuristisch illegale Aktion der Straßenblockade angemaßt, nahezu bei jedem einzelnen Protest. Aber wenn Leute sich maskierten und damit begannen, während der Proteste Banken zu bemalen, wurden andere aus der Menge wütend und versuchten sogar, die Banken physisch zu beschützen. Für zwei sprühende Leute brauchte man fünf und mehr Leute, um deren Aktionen zu verteidigen und sie manchmal körperlich zu schützen. Protest für Protest lehnten weniger Leute die politischen Graffiti ab – solange sie gegen Banken, Regierungsgebäude und andere verhasste Institutionen gerichtet waren – und mehr Leute aus der Menge argumentierten für die Sprühereien. Die entscheidende Handlung bestand nicht darin, mutwillig eine Bank zu beschmutzen, sondern in der öffentlichen Debatte, die aufkam, um dies zu legitimieren.
Der nächste Konfliktpunkt drehte sich rund um die Vermummung. Ab Oktober kritisierte kaum noch jemand die Sprühereien bei den Demonstrationen, aber man brachte vor, dass man das ohne eine Maske tun solle. Wieder verteidigten Anarchisten diese Praxis und verteilten Schriften darüber. Aber Vermummung eignete sich weniger zur Erzeugung eines offenen Konflikts als die Sprühereien, und so gab es weniger Gelegenheiten, sich zu engagieren. In dieser Zeit verhaftete die Polizei Leute, die dabei gefilmt worden waren, wie sie während der Belagerung des Parlaments im Juni Politiker belästigten. Dadurch wurde es einfacher, die praktischen Gründe für die Vermummung zu erklären, obwohl die Medien vor Rhetorik gegen die Feigheit der Vermummten überquollen. Glücklicherweise erklärt sich diese Praxis leicht selbst, vor allem unter der Jugend; aber in Barcelona erzeugt sie immer noch einen Bruch zwischen denen, die automatisch mit dieser Praxis sympathisierten und denen, die sich automatisch davon abgestoßen fühlten.
In anderen Demonstrationen führten Leute eine offensivere Taktik ein, indem sie besonders verabscheuungswürdige Ziele – wie die Börse und Büros der politischen Parteien – mit Farbbomben bewarfen. Außerhalb des Demonstrationsraums tauchten an zufälligen Tagen in zufälligen Vierteln Vermummte auf, zerstörten eine Bank und verschwanden schnell wieder, was eine weitere Möglichkeit darstellte, Angriffe zu normalisieren. Aber bevor dieser Prozess auf diese Weise weitergehen konnte, wurde er plötzlich durch die Studentenkrawalle und dann durch den Generalstreik beschleunigt. Einerseits normalisierten diese Ereignisse den offensiven Volkswiderstand, indem sie mehr Leuten die Möglichkeit gaben, daran teilzunehmen. Andererseits erlaubten sie denjenigen, die solchen Angriffen sympathisierend gegenüberstanden, schnell voranzuschreiten und sich von denen zu trennen, die dazu tendieren, die Gewalt zu verdammen. Während einige Tausend vielleicht fähig sind, auf der Straße für eine oder zwei Stunden zu gewinnen, werden sie langfristig gesehen unabwendbar isoliert und befriedet, wenn solch eine Gruppe sich nicht fortwährend ausweitet und die um sie herum aufgebauten Barrieren der Legitimität untergräbt. Wie dem auch sei, zur Zeit des Streiks war ein großer Teil der katalanischen Bevölkerung bereits an ein niedriges Niveau des Straßenkonflikts und der Eigentumszerstörung gewöhnt und die sich verdüsternden Zukunftsaussichten gaben einigen von ihnen die Wut, eine plötzliche Eskalation dieses Konflikts zu unterstützen.
Spektakularisierung – die Praxis der Reduktion von Praxis auf Bilder – ist eine starke Kraft, um Krawallmacher zu isolieren. Während sich die Opposition zur Presse und das Bewusstsein der Notwendigkeit von Verteidigungsmaßnahmen langsam ausbreitet – in Form von Angriffen auf Journalisten und Bemühungen, Zuschauer davon zu überzeugen, nicht zu filmen – gibt es während der Ausschreitungen immer noch ein gefährliches Ausmaß von Spektakularisierung. Die Verbreitung neuer Sprechchöre – eine effektive Taktik für die Radikalisierung der 15M-Bewegung und den Kampf mit dem Pazifismus – wurde auch gegen die Medien benutzt. Ein Beispiel: „Die Presse zielt, die Polizei schießt“ wurde seit Oktober populär. Allerdings gibt es noch keinen Spruch gegen das Filmen durch normale Leute, wenn auch einige Propaganda zu diesem Thema verteilt wurde. Nichtsdestoweniger wird die gefährlichste Form der Spektakularisierung beseitigt, sobald die Journalisten aus den Protesten gedrängt werden können und sie zunehmend als Äquivalent zur Polizei begriffen werden.
Es ist auch notwendig, über die unmittelbaren Anforderungen des Straßenkampfes hinaus zu fragen, was erreicht wurde und was der entscheidende Punkt war. Die wichtigstem Bestandteile des Konflikts waren emotional und symbolisch, nicht ökonomisch. Der Staat – selbst die Quelle der Währung – kann nicht durch wirtschaftliche Verluste zerstört werden, sondern nur durch einen Angriff des Volkes. Hätte die CCOO und die UGT eine 2% höhere Teilnahme am Streik erreicht und alle Ausschreitungen und Eigentumsschäden verhindert, so wäre der wirtschaftliche Gesamtverlust sehr viel größer gewesen, aber die sozialen Kämpfe hätten nichts gewonnen. Erreicht wurde eine Unterbrechung des zum Regieren notwendigen Narrativs vom sozialen Frieden, die zeitweise Verbreiterung der Beteiligung an offenem Widerstand; es wurde die Erfahrung gemacht, die es ermöglichen wird, diese Erschütterung in Zukunft zu überbieten und Beziehungen zu Fremden zu schaffen, die einen Tag lang zu unseren Genossen wurden.
Letztere Aktivität wurde kaum versucht, obwohl sie eine der vielversprechendsten Möglichkeiten ist, die aufständische Momente bieten. Anarchisten leben im gleichen Viertel wie die Hooligans, die den Kampf gegen die Polizei anführten, aber sie sind voneinander vollständig entfremdet, solange kein Riot stattfindet. Leute, die sich am Straßenkampf beteiligen, sollten nicht idealisiert werden, aber viele von ihnen erleiden tagtäglich Polizeigewalt und immerhin einige von ihnen haben starke antiautoritäre Tendenzen. Anarchisten sollten sich ihnen und anderen als Menschen nähern, mit denen sie Seite an Seite leben und mit denen sie nach der Revolution an Versammlungen teilnehmen werden. (11)
Um die Revolution näher zu bringen, wird es nötig sein, die natürliche Spaltung zwischen Nacht und Tag zu überwinden und zu lernen, die Ausschreitungen über mehrere Tage aufrechtzuerhalten. Nur wenn sie sich zeitlich ausdehnen, werden sie die Chance haben, sich zu einem Aufstand auszuwachsen, der sich von Stadt zu Stadt ausbreitet. Andernfalls werden sie nur als emotionale Befreiung dienen. Einstweilen, da die Normalität zurückkehrt, besteht die Frage darin, wie man das Gewonnene ausbauen kann, wie man die kollektive Erfahrung der Ausschreitung nutzen und das gesellschaftliche Pendel daran hindern kann, Richtung Reaktion zu schwingen.
Nur der letzte Teil dieser Frage findet bereits innerhalb des kollektiven Gedankenguts seine Antwort: Unterstützt die von Repression Betroffenen; knüpft Beziehungen über die Spaltung hinweg, die zwischen guten und schlechten Protestierenden wie auch zwischen Zuschauern und Handelnden errichtet wird; tretet dem medialen Gegenschlag durch die Betonung der Rolle der Medien im sozialen Krieg entgegen; und widersetzt euch den neuen vom Staat verabschiedeten Unterdrückungsmaßnahmen.
Anmerkung:
(11) Wenn wir auch unseren Kampf nicht an der Erwartung ausrichten sollten, dass wir gewinnen werden – da wir das wahrscheinlich nicht werden –, so sollten wir doch unbedingt die Versprechung einer zukünftigen Herrschaftsfreiheit als ein aktives Bild benutzen, das uns unsere gegenwärtige Praxis anleitet und ihr Farbe gibt.