Die strategischen Spannungen
Geschichtlich hat die anarchistische Bewegung Kataloniens ihre Identitäten eher um gemeinsame Handlungsweisen und Orte herum gebildet als durch vereinheitlichende Ideologien. Es ist ungenau und unzutreffend, wenn man – wozu Zuschauer aus der Ferne tendieren – von aufständischen Anarchisten und Anarchosyndikalisten als zwei einander gegenüberstehenden und getrennten Gruppen redet. Diese Ideologien existieren, aber als ein fließender Austausch zusammen mit anderen Positionen und nicht als gegensätzliche Pole. Es handelt sich hierbei eher um Praxis als um Ideologie.
Die CNT war zweifellos bis Ende Juli 1936, als sie zu einer klassenkompromisslerischen und im Grunde staatstragenden Organisation wurde, die wichtigste revolutionäre Organisation in Spanien. Allerdings fungierte sie zu gleichen Teilen als eine Gewerkschaft und als ein Standbein für die Bildung informeller, kampflustiger, nachbarschaftlicher Netzwerke. (12) Wichtige Personen in der Organisation verorteten sich innerhalb der ganzen Bandbreite vom Insurrektionalisten bis zum Syndikalisten, und der Austritt der Letzteren war ein wichtiger Schritt in ihrer Radikalisierung. Cenetistes (13) kämpften für den libertären Kommunismus, Kollektivismus und Kooperativismus oder aber sie kämpften einfach gegen die gegenwärtigen Verhältnisse, ohne zu wissen, was danach kommt. Viele Aktivisten wechselten ihre Positionen und Aktionsformen je nach Erfolg des gesellschaftlichen Kampfes, so dass die für den Augenblick Aufrührerischsten im nächsten Moment zu den Moderatesten wurden, wie im Fall von Garcia Oliver. Ascaso und Durruti, die von den einflussreichsten Mitgliedern vielleicht Prinzipienfestesten, waren beide überzeugte Syndikalisten – insofern sie in den Gewerkschaften ein wichtiges Hilfsmittel für die Agitation und Organisation am Arbeitsplatz sahen – und Insurrektionalisten, da sie glaubten, die Zeit für Angriffe und also für den Aufbau der Fähigkeit zum bewaffneten Kampf wäre immer gekommen; sie haben dafür in den 20ern gestritten und danach gehandelt, zu einer Zeit, als die Meisten dachten, dass es besonnener wäre abzuwarten. Zeitweise ging ihre Praxis sehr weit mit den individualistischen, illegalen Anarchisten zusammen, die oft ihre Basis im Stadtteil Raval errichteten; dann erschienen sie wieder wie reine Gewerkschaftsaktivisten.
Um ein anderes Beispiel zu geben: Das wahrscheinlich wichtigste anarchistische soziale Zentrum, welches in den Jahren vor 1936 in Barcelona gebildet wurde, war das zurecht so heißende L’Ateneu Eclèctic. (14) Es wäre mit der traditionelleren Beschreibung ateneu llibertari nicht an der Zensur vorbeigekommen, aber das Adjektiv „eklektisch“ war genauso zutreffend. Wie Abel Paz, der anarchistische Historiker aus demselben Viertel (Clot), später schreiben sollte: Das war ein soziales Zentrum, in dem Pazifisten sich mit den Praktizierenden der Propaganda der Tat mischten, wo ein einflussreicher anarchistischer Individualist neben der libertären Jugendgruppe Studienkurse abhielt, oder CNT-Aktivisten in den nahegelegenen Textilfabriken Propaganda machten oder Sabotageakte ausführten. Es war der Hauptstützpunkt des großen anarchistischen Kollektives Sol i Vida, das Vegetarismus, Nudismus und freie Liebe praktizierte sowie Exkursionen in die Berge durchführte, um dort mit Schusswaffen zu üben. Außerdem gab es der örtlichen Mujeres-Libres-Gruppe einen Raum, um sich zu formieren.
Heute bezeichnen sich die Anarchisten in Barcelona typischerweise mit unpräzisen Karikaturen (der schwarze Block, die Reformisten, die Hippies) oder mit Referenzen zu einem Ort, etwa einem Viertel oder einem Sozialzentrum, dessen Mitwirkende vielfältig sind und mit der Zeit wechseln, dessen jeweilige Zusammensetzung aber einen spezifischen Charakter verleiht. Auf diese Weise tragen sie dem zwangsläufigen Bedürfnis Rechnung, sich selbst und einander zu benennen und sie tun das auf eine Weise, die für Stereotypen und selbst für Respektlosigkeit anfällig ist, aber ebenso flexibel und verschwommen bleibt. Dies erlaubt es den Individuen, sich zwischen den Labels zu bewegen und so eine Debatte zwischen verschiedenen Gruppen zu erleichtern, statt die Unterschiede zu einem Wettbewerb zwischen unversöhnlichen ideologischen Gegensätzen zu machen.
Eine der beiden CNTs wird im Spaß mit einer Gewerkschaft von Insurrektionalisten verglichen, während einige „Schwarzer-Block“-Anarchisten Ideen über Einheit, formelle Organisation und technische Zivilisation haben, die anglophone Insurrektionalisten erschaudern lassen würden. Fast alle Anarchisten Barcelonas erkennen die Wichtigkeit der CNT für den Aufbau der revolutionären Bewegung an, die den Juli 1936 möglich gemacht hat; genauso geben sie der CNT die Schuld für die Erfolglosigkeit der Revolution. Die meisten Anarchisten außerhalb der CNT geben der Dynamik dieser Organisation die Schuld an der vertanen revolutionären Möglichkeit während des Übergangs zur Demokratie in den 70ern, während die Cenetistes eher einige Fehler anerkennen und ansonsten der staatlichen Unterdrückung die Schuld geben. Der durch die Bankräuber von Córdoba 1996 nach Spanien gebrachte italienische Insurrektionalismus fand seine aktivsten Anhänger unter der FIJL, der Jugendorganisation, die sich daraufhin von der CNT abspaltete. Die Position der CNT, die den Bankräubern die Unterstützung verweigerte, veranlasste auch viele andere zum Austritt, aber einige, die gegangen waren, sind später wieder eingetreten und der Charakter der CNT hat sich über die Jahre geändert.
In den Nachwehen des Streiks veröffentlichte die CNT aus Savadell (eine Stadt direkt bei Barcelona) eine Stellungnahme, die die Sektion der CGT aus Barcelona dafür kritisierte, sich von den Ausschreitungen distanziert und von guten und schlechten Protestierenden gesprochen zu haben. Der Titel ihres Kommuniqués war „Gegen das System, seine Verteidiger und seine falsche Kritik“, ein direkter Verweis auf den insurrektionalistischen Klassiker In offener Feindschaft mit dem Bestehenden, seinen Verteidigern und seinen falschen Kritikern.
Die Spannungen in der Strategie, die sich in der langen Geschichte des M29 ausdrückten, kennzeichnen keinen Wettkampf zwischen zwei ideologischen Polen; Leser, die versuchen, diesen Bericht danach zu durchsuchen, was einen solchen Wettbewerb fördert, gehen an den momentan in Barcelona unter Genossen geführten Diskussionen vorbei. Die hier herausgestellten Punkte wurden in hiesigen Debatten aufgeworfen; sie gründen sich auf momentane Nöte und nicht auf abstrakte Wettkämpfe.
Die oben angedeutete hauptsächliche strategische Spannung hat mit Einheit und Engagement zu tun. Eine wichtige theoretische Auseinandersetzung wird zwischen Anarchisten geführt, die Einheit als Ziel ansehen, und solchen, die das nicht tun. In Zeiten der Isolation ist es unwahrscheinlich, dass eine solche Spannung entsteht. Berücksichtigt man die Räume, in denen sie wirken können, dann haben sowohl die, die es bevorzugen, in Bezugsgruppen zu arbeiten, als auch die, die lieber in populären oder offenen Gruppen arbeiten, nur wenige Möglichkeiten. Die Projekte des einen Gruppentypus werden wahrscheinlich für die Projekte des anderen belanglos erscheinen. Diejenigen, die unterschiedliche Herangehensweisen bevorzugen, werden sich wahrscheinlich ablehnen oder ignorieren, während interne Tendenzen zur Uneinigkeit gewöhnlich durch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit überwunden werden, die aus dem Mangel an potentiellen Kameraden resultiert.
In Zeiten größerer Dynamik und Vereinigung treffen und überlappen sich diese unterschiedlichen Herangehensweisen, während viel mehr potentielle Genossen auftauchen. In dieser neuen Dynamik empfinden einige Anarchisten Unterschiede als kreativ, während andere sie als Desorganisierung sehen. Einige werden glauben, Fragmentierung sei eine natürliche Eigenschaft nicht-disziplinierter Gruppen, während andere glauben werden, dass stärkere Geistesverwandtschaft das natürliche Resultat der Zusammenarbeit sein wird. Einige werden versuchen, das Möglichkeitsspektrum zu maximieren, indem sie einen chaotischen gesellschaftlichen Kampf erschaffen, während andere danach trachten werden, zu koordinieren und zu vereinigen, um einen disziplinierten gesellschaftlichen Kampf zu erzeugen – oder sie werden, mangels Stärke oder einer allgemeinen Identität, um Disziplin einzuführen, eine Organisation aufbauen, die versucht, den ganzen Kampf zu umfassen oder zu repräsentieren.
Die andere theoretische Auseinandersetzung resultiert aus der irrtümlichen Assoziation reformistischer Praktiken mit der Thematisierung unmittelbarer Belange auf der einen Seite und der Assoziation revolutionärer Praktiken mit dem Festkleben an abstrakten Idealen auf der anderen Seite. In Zeiten schwacher gesellschaftlicher Kämpfe ist es für auf unmittelbare Belange konzentrierte Anarchisten das einfachste, reformistische Sprache und Praktiken zu übernehmen und für Anarchisten, die sich revolutionären Praktiken verschrieben haben, ihre Aktionen in den Begriffen langfristiger Ideale auszuformulieren. Sobald eine größere Bandbreite von Menschen anfängt, wütender und entschiedener über ihre unmittelbaren Probleme zu reden, werden einige revolutionäre Anarchisten zum gegensätzlichen Pol springen und plötzlich über unmittelbare Probleme reden – und über kraftvolle, vielleicht sogar revolutionäre Lösungen – ohne ihre langfristigen Sehnsüchte und radikalen Analysen auszudrücken.
Die anderen werden währenddessen die volkstümlichen Kämpfe verachten und sich weiter in Richtung rein anarchistischer Projekte zurückziehen. Kompromisslose anarchistische Ideale mit der Komplexität unmittelbarer Probleme zusammenzuführen, ist die schwierigste Option und folglich die seltenste.
Beide Spannungen haben alles mit der Bewegung von einer antisozialen zu einer populistischen Position zu tun. Der Fehler besteht im Grunde darin, die sowohl selbstgewählten wie auferlegten Grenzen der Zeiten gesellschaftlicher Isolation nicht zu transzendieren und sich statt dessen in die einfachste, oberflächlichste Kommunikationspraxis zu flüchten, sobald neue Annäherungen dies ermöglichen. Anarchistischer Populismus ist das Resultat von Kameraden, die die guten Instinkte der antisozialen Position aufgeben, aber die schlechten Gewohnheiten derselben bewahren.
In der Art von Vereinigung, die Barcelona zwischen 2010 und 2011 erfuhr, stand den Anarchisten eine sich verändernde Umgebung gegenüber und sie veränderten sich unweigerlich mit ihr. Alles was sie gewannen, erlangten sie durch einen Instinkt oder durch ein strategisches Engagement, welche sie neue Protesträume erforschen und in verschärfte gesellschaftliche Konflikte eingreifen ließ. Anarchisten haben die Ideale und Praktiken der neuen sozialen Bewegungen in einer Weise beeinflusst, die in keinem Verhältnis zu ihrer Anzahl steht. Indessen entstammen viele Fehler aus den Beschränkungen populistischer oder antisozialer Tendenzen. Es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass Anarchisten außerhalb dieser Bewegungen bleiben und zurückgelassen werden, wenn Reformisten diese in Richtung Institutionalisierung steuern. Es könnte auch passieren, dass Anarchisten sich in diesen Bewegungen verlieren, indem sie ihre Prinzipien preisgeben, aus Angst, an den Rand gedrängt zu werden. Diese beiden Irrwege werden parallel begangen und ergänzen sich.
Nach dem Generalstreik im September und der 15M-Bewegung erkannten Anarchisten die Möglichkeit, in sehr viel größeren Gruppen zu arbeiten, und das war die Gratwanderung, die sie bestehen mussten. Am Anfang hatte 15M die Erscheinung eines breiten gesellschaftlichen Erwachens. Als die meisten Teilnehmer keine Mittel fanden, in dieser Richtung weiter zu machen und zu den Schlafmitteln der Normalität zurückkehrten, floss die Welle zurück, hinterließ aber die vorhergehenden Formationen des gesellschaftlichen Kampfes in Unordnung. Sie waren bevölkerter, zahlreicher, heterogener und verstrickter.
In Reaktion auf den unabwendbaren Niedergang der sich während des Sommers 2011 plötzlich ausweitenden gesellschaftlichen Bewegung und in Reaktion auf den Umstand, dass neue Protest- und Aktionsräume immer noch viel größer und verschiedenartiger waren als zuvor – und nach konservativer Logik folglich anfälliger für Schwund und Fraktionierung –, bildeten einige Anarchisten eine populistische Tendenz. Aus Angst, ihre neu gefundene Unterstützung zu verlieren, spielten sie ihre anarchistische Identität herunter und suchten eine größere Einigkeit auf Grundlage einer notwendigerweise verwässerten antiautoritären Analyse. Andere Anarchisten befestigten ihre antisoziale Position, überzeugt davon, dass die Teilnahme an diesen neuen heterogenen Räumen die Kompromittierung ihrer Prinzipien voraussetzen würde, gerade so, wie es bei ihren populistischen Kameraden der Fall zu sein schien.
Der anarchistische Raum von Barcelona ist fragmentiert und kommunikativ. Er ist weder in einer einzigen Organisation oder Identität vereinigt, noch in vereinzelte, nicht miteinander kommunizierende Szenen geteilt. Fragmentierte und kommunikative anarchistische Räume sind der Tendenz nach besonders stark darin, neue Praktiken zu entwickeln und sich wechselnden Umständen anzupassen.
Die anarchistische Propaganda rund um den jüngsten Generalstreik war weniger offen anarchistisch und entsprechend weniger radikal. Viele den Anarchisten wichtige Probleme und Prinzipien wurden in der jüngsten anarchistischen Propaganda fast vollständig ausgelassen, zu einer Zeit, in der mehr Leute denn je für radikale Ideen offen sind und drastische Vorschläge benötigt werden. Diese Möglichkeit verschenkend, konzentrierten sich viele Anarchisten auf Einpunktpropaganda, die unmittelbare Probleme der normalen Leute herausstellt: Arbeit, Gesundheitsfürsorge, Unterkunft, Ausbildung, die Polizei. Sie führen diese Probleme auf den Kapitalismus und den Staat zurück, aber auf eine Art fördert dies eine auf Bequemlichkeit beruhende Kritik, die wieder verschwinden könnte, sobald jemand einen guten Job bekommt. Dieser Tendenz ging es eher darum, die Isolation zu vermeiden, als alle Möglichkeiten auszureizen. Sie kann vielleicht die Repression vermeiden, aber die Beziehungen, die sie erzeugt, und die Kritik, die sie verbreitet, sind wahrscheinlich oberflächlich.
Andere Anarchisten haben sich auf Veröffentlichungen und Aktionen zurückgezogen, die grundsätzlich nur für sie selbst und andere Anarchisten bestimmt waren. Einige haben Propaganda produziert, die das Verschwinden des Wohlfahrtsstaates auf eine Weise kritisiert, die sich über die Not lustig macht, die die Leute aufgrund dieses Verschwindens erleiden. Nichtsdestoweniger fördert diese Position eine gewisse Stärke und Unabhängigkeit der Aktion, denen wahrscheinlich teilweise der Sieg auf der Straße zu verdanken ist.
Diese Spannungen sind unaufgelöst und bilden eher ein Gleichgewicht als einen Wettstreit. Wie können wir eine radikale Kritik an dieser Gesellschaft teilen, ohne andere ihrer Mitglieder zu verschrecken? Wie können wir an heterogenen Räumen teilnehmen, ohne unsere eigene Rekuperation zu unterstützen? Wie können wir den Erzählungen zuwiderhandeln, die uns von den Medien angedreht werden, ohne aufzuhören, der bestehenden Ordnung gefährlich zu sein?
In jedem Fall haben die Anarchisten jetzt mehr und stärkere Verbindungen als vor zwei Jahren, und sie sind mit mehr fruchtbaren Erfahrungen bewaffnet. Die Debatten sind am Laufen; es gibt bereits Versuche, der Kriminalisierung zu begegnen, die der Staat in den Nachwehen der Ausschreitungen durchführt. Und es gibt Versuche, die Lektionen dieses Tages der spontanen Raserei zusammenzufassen.
Es werden wahrscheinlich weitere Neuerungen entstehen, da Genossen in anderen Ländern sich auf ihre eigenen Generalstreiks vorbereiten, und diese Neuerungen könnten ihren Weg zurück hierher finden. Vielleicht werden die in Barcelona erzeugten Erschütterungen dabei helfen, die in anderen Ländern immer noch herrschende Illusion der Stabilität ins Wanken zu bringen, indem sie der ganzen Welt zeigen, dass es nicht die Aufrührer in den Straßen waren, die von den Kräften der Ordnung umstellt sind, sondern die herrschenden Klassen, die sich an verschwindende Inseln klammern, inmitten eines anschwellenden Meers der Wut.
Anmerkung:
(12) Siehe Chris Ealhams Anarchism and the City; ignoriere seine widersprüchlichen, antiaufständischen Strategievorschläge.
(13) CNT-Mitglieder, „cenetistas“ aud spanisch.
(14) Ein „ateneu“ oder Athenäum ist eine Art proletarisches Sozialzentrum. Solche Orte entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Arbeiter und andere konnten dort zusammen kommen, um sich selbst zu unterrichten, Studien- oder Debattengruppen abzuhalten oder andere Aktivitäten durchzuführwn. „Llibertari“ meint libertär, ein gebräuchliches Sysnonym für Anarchist.