Was sind eigentlich: Die Mohammedaner?
An den Grenzen Asiens und in der Nachbarschaft Afrikas lebte ein Volk, das wegen der Lage seines Landes und wegen seiner Tapferkeit den Eroberungen der Perser, Alexanders und der Römer entgangen war. Einige seiner zahlreichen Stämme lebten vom Ackerbau, andere waren beim Hirtenleben geblieben; alle aber widmeten sich dem Handel und einige der Räuberei. Durch gleiche Herkunft, gleiche Sprache und einige religiöse Gebräuche geeint, bildeten sie eine große Nation, deren verschiedene Teile indessen politisch nicht miteinander verbunden waren. Unerwartet stand in ihrer Mitte ein Mann auf, der von glühender Begeisterung erfüllt, mit tiefem politischen Verständnis begabt und mit allen Talenten des Dichters und des Kriegers zur Welt gekommen war. Er entwarf den kühnen Plan, die arabischen Stämme zu einer Einheit zusammenzuschließen, und hatte den Mut, die Ausführung dieses Planes in Angriff zu nehmen. In der Absicht, einer bis dahin unbezwungenen Nation zu einem Oberhaupt zu verhelfen, begann er damit, auf den Trümmern des alten Kultes eine reinere Religion aufzurichten. Gesetzgeber, Prophet, Priester, Richter, Heerführer in einer Person, hatte er alle Mittel in seiner Hand, um die Menschen zu unterjochen, und er verstand es, sie geschickt und doch mit Größe zu gebrauchen.
Er erzählt einen Wust von Fabeln, die er vom Himmel zu haben vorgibt; aber er gewinnt seine Schlachten. In Gebet und Liebesfreuden teilt sich seine Zeit. Nachdem er zwanzig Jahre lang eine beispiellose Macht innehat, erklärt er sich bereit, Unrecht wiedergutzumachen, wenn er welches getan haben sollte. Alles schweigt: nur eine Frau wagt, eine kleine Summe Geldes zurückzufordern. Er stirbt, und die Begeisterung, die er seinem Volke mitgeteilt hat, wird das Angesicht dreier Weltteile verändern.
Die Sitten der Araber zeugten von Erhabenheit und Milde; sie liebten und pflegten die Poesie; und als sie einmal die schönsten Gegenden Asiens unter ihre Herrschaft gebracht hatten, das Fieber des religiösen Fanatismus mit der Zeit beruhigt war, vermischte sich der Geschmack, den sie an Literatur und Wissenschaft fanden, mit ihrem Eifer für die Verbreitung des Glaubens und zügelte ihre Eroberungslust.
Sie studierten den Aristoteles, dessen Werke sie übersetzten. Sie pflegten Astronomie und Optik sowie die gesamte Medizin und bereicherten diese Wissenschaften um einige neue Erkenntnisse. Man verdankt ihnen die allgemeine Anwendung der Algebra, die bei den Griechen auf einen einzigen Problemkreis beschränkt war. Wenn auch die phantastische Bemühung um das Geheimnis der Umwandlung der Metalle und die Suche nach einem Trank, der Unsterblichkeit verlieh, den Wert ihrer Arbeiten auf dem Gebiete der Chemie schmälerten, so waren sie doch die Erneuerer oder vielmehr die Erfinder dieser Wissenschaft, die man bis dahin mit der Arzneikunde oder dem Studium technischer Verfahrensweisen ineinsgesetzt hatte. Bei ihnen trat die Chemie zum ersten Male als die Analyse von Körpern auf, mit deren Elementen sie uns bekannt macht, als Lehre von ihren Verbindungen und den Gesetzen, denen die Verbindungen unterliegen.
Die Wissenschaften waren frei; und dieser Freiheit verdankten es die Araber, daß sie einige Funken des griechischen Genius wiederanzufachen vermochten; aber sie waren eben doch einem religiös geheiligten Despotismus unterworfen. Auch schimmerte dies Licht nur für wenige Augenblicke auf, und nur, um dichtester Finsternis zu weichen; und die Arbeiten der Araber wären für das Menschengeschlecht verloren gewesen, hätten sie nicht geholfen, jene dauerhaftere Erneuerung vorzubereiten, deren Bild uns das Abendland vor Augen führen wird.
Zum zweiten Male also sieht man den Genius entfliehen, der die Völker erleuchtet hatte; und es ist noch einmal die Tyrannei und der Aberglaube, dem er weichen muß. In Griechenland, zu Seiten der Freiheit geboren, hat er weder ihren Verfall aufhalten noch die Vernunft gegen die Vorurteile der Völker verteidigen können, die durch die Knechtschaft schon erniedrigt waren. Bei den Arabern, wo er aus dem Schoße des Despotismus und nah bei der Wiege einer fanatischen Religion entsprang, war er gleich dem großmütigen und glänzenden Charakter dieses Volkes nur eine zeitweilige Ausnahme von den allgemeinen Gesetzen der Natur, welche geknechtete und abergläubische Nationen zu Niedrigkeit und Unwissenheit verdammen.
Deshalb darf uns dies zweite Beispiel nicht über die Zukunft erschrecken; es dient unseren Zeitgenossen vielmehr nur zur Warnung, nichts zu unterlassen, um die Aufklärung zu bewahren und zu vermehren, wenn sie frei werden oder es bleiben wollen; nichts zu unterlassen, um ihre Freiheit zu erhalten, wenn sie nicht die Vorteile verlieren wollen, die die Aufklärung ihnen gebracht hat. (…) Ich werde darlegen, warum die Religion des Mohammed, die in ihren Dogmen die allereinfachste, in ihren Übungen die am wenigsten widersinnige und in ihren Prinzipien die toleranteste ist, jenen gewaltigen Teil der Erde, auf den sie ihre Herrschaft ausgedehnt hat, anscheinend zu ewiger Knechtschaft, zu unheilbarer Stumpfheit verurteilt, während wir den Genius der Wissenschaft und der Freiheit inmitten des abgeschmacktesten Aberglaubens, der barbarischsten Unduldsamkeit werden glänzen sehen. China zeigt uns das gleiche Phänomen, obgleich dies abstumpfende Gift dort weniger verhängnisvoll sich auswirkte.
MARIE-JEAN-ANTOINE-NICOLAS CARITAT MARQUIS DE CONDORCET