Zwischenzeiten IV
Im 18. Jahrhundert war England von einer großen Zahl protestantischer Sekten bevölkert. Sie bildeten eine buntscheckige Untergrund-Szenerie jenseits der offiziellen Anglikanischen Kirche, mit geheimen Treffen, gewissenhafter Schriftlektüre, fieberhafter Suche nach der reinen Lehre, kollektiven Ekstasen und Erweckungserlebnissen, charismatischen Wanderpredigern, aufrüttelnden Pamphleten, internen Querelen, Ausschlüssen, Spaltungen, Neugründungen, Konversionen, Versuchen zu Wiedervereinigung und dergleichen mehr. Diese Strömungen gingen auf die letzte große Welle gesellschaftlicher Kämpfe zurück, die das Land in der Zeit der Bürgerkriege im 17. Jahrhundert erschüttert hatten. Die Akteure der damaligen Auseinandersetzungen hatten sich ihre sozialen Gegensätze in einer religiösen Sprache bewußt gemacht, wie es in ihrer kaum dem Mittelalter entwachsenen Zeit nicht anders denkbar war. Nach dem Abflauen der Stürme blieben die Sekten zurück, die jedoch, von den Bewegungen getrennt, deren adäquater ideologischer Ausdruck sie einmal gewesen waren, eine merkwürdig sterile, unwirkliche Existenz führten. Dennoch hielten sie sich während der langen Zeit der Flaute recht hartnäckig, bis dann die Anfänge der großen Industrie und das externe Fanal der französischen Umwälzung ein neues Zeitalter der Klassenkämpfe einläuteten, welche nunmehr in rein weltlichen Begriffen geführt wurden und die religiösen Sektierer von der historischen Bühne verbannten. Trotz ihrer Unzeitgemäßheit dürfen diese jedoch für sich beanspruchen, an der Vorbereitung der neuerlichen Unruhen nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. So abwegig ihre Lehren, so nichtig die Gründe ihrer Fraktionsstreitigkeiten, so fehlgeleitet ihr Eifer auch war, so lernten in diesen Gemeinschaften doch Angehörige der arbeitenden Klassen zum ersten Mal zu lesen, zu schreiben, dem Schnaps zu entsagen, zu debattieren, vor Versammlungen zu sprechen, Kontakte mit anderen Städten zu knüpfen, unabhängig von äußeren Autoritäten Brüderschaften zu bilden. Auch wurden in den Mythen von Old Corruption, der Hure Babylon und dem Neuen Jerusalem ein rudimentäres Bewußtsein von der Wünschbarkeit einer vernünftigeren Welt aufrecht erhalten.
Ganz ähnlich sieht das Verhältnis der Überbleibsel der proletarischen Erhebungen des 20. Jahrhunderts zur Revolution der Zukunft aus. Jedes der Grüppchen, die heute ihr museales Wesen führen, beruft sich auf eine bestimmte Fraktion oder Episode längst vergangener Kämpfe, deren damals essentiellen Frontstellungen und Positionierungen heute ohne jeden praktischen Belang sind. Der nächste Anlauf wird sie beiseite schieben; er wird die Erfahrungen aller vergangenen Versuche in sich aufnehmen und völlig verwandeln, statt sich auf eine bestimmte, partikulare Tradition zu beziehen, welche die Sekten immerhin aufbewahren.