The Big Shutdown – Aufzeichnungen aus dem Corona-Krieg 01
Prosecco-Laune und die Leidenschaft der Zerstörung
Nun ist ja nicht alles schlecht unter dem deutschen Corona-Regime. So finden seit einigen Wochen nicht nur im öffentlichen Nahverkehr Berlins so gut wie keine Ticket-Kontrollen mehr statt. Aus Sicherheitsgründen, beeilen sich Corona-Sympathisanten, Angehörige einer neuen Sozialspezies, die es laut Umfragen immerhin auf weit mehr als 80% der Befragten bringt, mitzuteilen. Da könnten doch schlimme Dinge passieren, wenn Kontrolleure und Kontrollierte in erregte Dispute einträten, die, man weiß ja wie das abläuft, stets mit dem wechselseitigen Austausch infektiöser Speicheltröpfchen verbunden wären. Selten hat sich der Corona-Kritiker über eine „Argumentation“ von Corona-Sympathisanten so gefreut wie über diese. Denn, auch wenn man davon ausginge, ein Ende der gegenwärtigen Veranstaltung sei, wenn auch nicht in absehbarer Zeit, so doch immerhin noch zu Lebzeiten der Beobachter, durchaus denkbar, den „Kontrolletis“ würde man so bald und so häufig wie früher nicht wieder begegnen.
Ein Wahn wie dieser wird seine wahnhaften Spuren hinterlassen, wird auch einem heute noch imaginären „Danach“ seine wahnwitzigen Lehren aufzwingen. Möglich, dass dann den Betreibern des Berliner öffentlichen Nahverkehrs und der ihnen rechtlich vorgeschalteten Senatsbürokratie die infektiöse Unversehrtheit jener jungen Männer aus, wie von erfahrenen Schwarzfahrern erzählt wird, drei muslimischen Großfamilien, die etwa 80% der Berliner Ticket-Kontrolleure aufbieten, und die der etwa 20% Frauen und Männer vorgeschrittenen Alters aus dem ostdeutschen Prekariat, als dringend schützenswert erscheint. Unmöglich aber, sich diese Einsicht als offiziellen Verzicht auf „Fahrschein-Entgelte“ vorzustellen. Auch wenn seit etwa zwei Wochen für jeweils kurze Zeit an bestimmten U-Bahnhöfen der Berliner Innenstadt wieder, mehr oder weniger symbolische, Kontrollen stattgefunden haben, gehen Kritiker des entgeltlichen Nahverkehrs vom Ende des traditionellen Ticket-Kontrollierens aus: Wahrscheinlich sei nun die Realisierung jenes „Digitalisierungsschubes“, den Corona-Begeisterte heute einfordern: Die Eingänge der öffentlichen Nahverkehrsstationen wären für alle, die nicht über digitalisierte Tickets verfügten, undurchlässig, Kontrollen in den Fahrzeugen würden durch Drohnen oder/und Roboter*innen durchgeführt.
Wie auch immer. Jedenfalls ist das weitgehende Verschwinden der Kontrolleure jetzt erst einmal gut so. Der faktische Nulltarif führt derzeit allerdings nicht zu einer verstärkten Nutzung von Bussen und Bahnen in der Corona-Haupstadt. Diese sind häufig nur zu etwa einem Drittel besetzt, die Arbeitsplätze und Ausbildungsstätten der meisten Passagiere befinden sich seit Wochen im mächtigen Griff des staatlichen Shutdowns. In den Fahrzeugen herrscht die amtlich verordnete Pflicht zum Maskentragen. Wo aber nicht oder kaum kontrolliert wird, wie kann da dennoch diese Pflicht durchgesetzt werden? Wer in Berlin solche Frage ernsthaft stellte, müsste sich allerdings Weltfremdheit, ja Weltvergessenheit vorwerfen lassen. Ohne Gesichtsmaske beispielsweise den Waggon einer Berliner S-Bahn zu betreten, bedeutet sich den anmaßenden Blicken, der abscheuerfüllten Mimik und den Abstand gebietenden Gesten der Mitreisenden auszusetzen. Das Corona-Regime in Merkel-Deutschland gebiert zwar täglich aufs Neue bizarre Phänomene eines irgendwie posthistorisch anmutenden (Alb-)Traumes, doch bei aller durch die neuen Umstände bewirkten Beklemmung bietet es keinerlei Anlass, den topographischen Standort zu vergessen: das alte neue Deutschland in einer neuen alten Welt. Fallen hier, aus welchem Grund auch immer, die Kontrolleure aus, übernehmen die Kontrollierten eilends deren Funktion und kontrollieren sich gegenseitig. Dem Corona-Skeptiker und Gesichtsmaskenverweigerer bleibt nur die Flucht in andere Teile des Zuges, wo in der Tat andere Verweigerer sich aus offenbar gutem Grund in gegenseitiger Sichtweite positioniert haben und dem Neuankömmling geschwisterlich-aufmunternd zuzwinkern. Verbündete eines dringend erforderlichen Aufstandes? Oder ist das alles nur die illusionäre Panik-Fantasie eines die Hysteriegrenze erreichenden Nervösen?
Oberflächlich betrachtet könnte der Shut-down freilich auch eine Gelegenheit für Amusement und Prosecco basierte gute Laune bieten. Am Beispiel des Kaberettisten Arnulf Rating zeigte Ende April das „Inforadio vom RBB“, wie das geht: „Arnulf Rating genießt die Krise. Er wohnt im Norden von Berlin und wird oft von Fluglärm geplagt. Der fällt jetzt weg.“ Und wenn er sich dann ordentlich einen gezwitschert hat, mag auch ein alternder Künstler, der laut „Inforadio“ gerade die bescheidenen „5.000 Euro Soforthilfe beantragt und auch bekommen hat“, die der Berliner Senat sogenannten Solo-Selbständigen – mit nachweislicher Gewinnbilanz des Vorjahres, versteht sich – zur Verfügung stellt, für Momente das Bild jener trostlosen Trümmerlandschaft vergessen, mit dem man einst dem jungen Arnulf das Reich der Senilität veranschaulichen wollte. Wem so viel Gutes widerfährt, der darf die Dinge auch mal persönlich nehmen, das macht gar nichts, vor allem, wenn der Angeber auch für Selbstkritik zu haben ist: „ … viele der alten Gewißheiten gerade ins Wanken geraten. Ist im Kapitalismus wirklich der Profit das Wichtigste? Im Moment steht das halbe Land still und die Gesundheit scheint Priorität zu haben. ‚Das finde ich eine erfreuliche Entwicklung. Ich habe schon überlegt, ob das mit meiner Tätigkeit zusammenhängt‘, meint Rating.“ Nun „wende sich die Politik auf einmal dem zu, was jahrelang gefordert wurde: ‚also weniger arbeiten, weg mit dem Wachstumswahn. Die Leute sitzen entspannt zu Hause und es geht. Der Finanzminister macht auf einmal das Portemonnaie auf und das Geld ist da.‘“
Der Fall Rating ist auch deshalb bemerkenswert, weil er seinem Protagonisten erlaubt, in Gestalt der Ironie tatsächlich „Eigenes“ in die Ergebenheitsadresse einzubauen. Ironie ist hier nicht nur literarisches Stilmittel und eines der wichtigsten „Werkzeuge“ des Kabarettisten, sie dient hier auch als letzte Planke eines schiffbrüchigen Kritikers vor seinem Untergang im unendlichen Ozean des Koformismus. Jenes „habe schon überlegt, ob das mit meiner Tätigkeit zu tun hat“ trägt freilich nur so lange, wie das Publikum den Unterschied zwischen dem Sprecher und den von ihm besprochenen Zuständen noch zu erkennen vermag. Gelingt dies nicht mehr, bleibt der Beifall aus, weil eine Differenz zwischen dem vorsätzlich Ironie produzierenden Typen auf der Bühne und der unfreiwillig ironischen Politikerin auf dem Bildschirm nur noch mittels philologischer Spezialinstrumente verfizierbar ist, dann hat auch eine intellektuelle Karriere, die mit der Kritik an den „deutschen Verhältnissen“ 1977 im sogenannten „Deutschen Herbst“ begann, ihr zwar erwartbares, aber dennoch trauriges Ende gefunden.
Ältere Linke und jüngere Heimatforscher, ebenfalls Linke, erinnern sich vielleicht noch an den RAF-Aktivisten Holger Meins, der 1974 in einem Hungerstreik starb, mit dem das Ende der zermürbenden Isolationshaft, der gefangene RAFler damals vom Staat ausgesetzt wurden, erzwingen sollte. Meins hatte einen berühmt-berüchtigten Abschiedsbrief hinterlassen, eine politische Botschaft, in der er die linke Nachwelt zu einer ultimativen Entscheidung aufforderte: Mensch zu werden oder Schwein zu bleiben. Oder umgekehrt. Dass dies nicht zoologisch, sondern existenzialistisch gemeint war, bedarf auch heute keiner weiteren Erläuterung. Die solchermaßen auf die Füße Getretenen reagierten entsprechend angekotzt und versahen den Schreiber mit dem bis heute weitgehend gültigen Stigma des verbitterten Hardliners. Hätte Meins geschrieben: „Ihr könnt Menschen werden oder so enden wie einmal Arnulf Rating“, wäre das wohl kaum verstanden worden, denn die Leute kannten seinerzeit ja noch gar nicht den später als genial gefeierten Arnulf Rating und konnten nicht einmal ahnen, dass er 46 Jahre später einmal bei der Truppenbetreuung im Corona-Krieg enden würde. Hätte Holger Meins dies aber dennoch geschrieben, könnte er heute wohl nicht nur als Betonkopf gescholten, sondern auch als Persönlichkeit mit prophetischen Zügen geachtet werden.
Dem Anarchisten Michail Bakunin wird das Diktum „die Leidenschaft der Zerstörung“ sei stets auch eine „schöpferische Leidenschaft“ zugeschrieben. Das gilt offenbar nicht nur für Anarchisten. Auch wenn postbürgerliche Regierungen spätkapitalistischer Staaten – ja, post und spät bezeichnen hier auch die Sprachlosigkeit des Autors – sich verabreden, zeitgleich die von ihnen regierten Ökonomien auf unabsehbare Zeit „herunterzufahren“, zerstören sie damit zunächst einmal: Die exekutiv verfügte Einstellung industrieller Produktion, die Drosselung der Distribution auf ein Minimum, also die „von oben“ herbei geführte Wirtschaftskrise zerstören auf unterschiedliche Weise sowohl die Gewinnaussichten des Kapitals als auch die Reproduktions- und überlebensmöglichkeiten der Lohnarbeitenden. Gleichermaßen „sägen“ die Staaten damit auch „an dem Ast, auf dem sie selbst sitzen“. Auch deshalb ist die Coolness und Gelassenheit der Corona-Politiker ebenso beeindruckend wie die gleichwohl vertraute Fügsamkeit der Unterklassen.
Die schöpferischen Aspekte der gegenwärtigen staatlichen Zerstörungs-Leidenschaft zeigen sich scheinbar paradox in den Dingen, die nicht oder nicht mehr geschehen. Zum Beispiel in der weitgehenden Abschaffung eines geregelten Schulunterrichts. Dort, wo in der schulischen Realität eine Regelmäßigkeit sowieso nur pro forma stattfand, wie etwa in Berlin und weiten Teilen der östlichen Bundesländer, bekennt man sich offen zu Faulheit und Schlendrian. Einstmals gefürchtete Prüfungen werden verschoben oder ganz abgesagt, selbst die heilige Kuh des deutschen Abiturs musste zeitweise vor dem administrativen Metzgerbeil erzittern. Der Autor hat bis jetzt nur wenige Schüler und Lehrer getroffen, die damit wirklich unzufrieden waren. Das Gegenteil war hier gleichermaßen der Fall wie bei Hartz-IV-Empfängern, denen der Shutdown der Jobcenter eine zumindest temporäre Atempause in ihrem ewigen Abwehrkampf gegen die Schikanen der Sachbearbeiter verschaffte. Diesen Menschen kommt auch zugute, dass bei den berüchtigten „Maßnahmen“ (zumeist Zwangsarbeiten in 1,5-Euro-Jobs) offenbar der sogenannte „Sicherheitsabstand“ nicht garantiert werden kann. Ebenfalls aus „Sicherheitsgründen“ sollen Strafgefangene aus den Gefängnissen entlassen worden sein. Außerdem soll der deutsche Staat „bis auf Weiteres“ auf die Vollstreckung sogenannter „Ersatzfreiheitsstrafen“ verzichten, d. h. nicht nur den Kontrolletis (s. o.) ins Netz gegangene Schwarzfahrer*innen müssen ihre unbezahlbare Gedsstrafe nicht mehr im Knast absitzen, auch eine ganze Reihe anderer „Alltagskrimineller“, wie etwa Kaufhaufsdiebe bleiben vorerst verschont. Das Gleiche betrifft auch viele, ebenfalls zumeist den Unterklassen entstammende säumige Schuldner; vom Shutdown sind auch die Vollstreckungsabteilungen der Gerichte betroffen, Gerichtsvollzieher sind derzeit kaum noch unterwegs.
Was für Angehörige der Unterklassen in schwierigen Situationen einen Vorteil darstellt, gestaltet sich für den Staat zum erheblichen Nachteil. Durchaus alarmierend gemeint meldete die Süddeutsche Zeitung am 4. Mai auf ihrer Titelseite: „Die Pandemie legt Steuerfahnder in Deutschland weitgehend lahm. In mehreren Bundesländern gibt es nach SZ-Informationen Dienstanweisungen, wonach zum Schutz vor dem Corona-Virus nur in Ausnahmen Durchsuchungen erfolgen sowie Zeugen und Beschuldigte vernommen werden. Ermittler klagen außerdem über eine mangelnde Technik, die das Arbeiten im Home-Office erschwere. Die Grünen fordern Abhilfe.“
Ja, von den Grünen hätte man auch kaum Anderes erwartet. Doch was ist mit den Kritikern des staatlichen Corona-Kurses in Deutschland. Dass es die auch gibt, darauf verweisen schließlich nicht selten die deutschen Qualitätsmedien. Dort werden Corona-Kritiker häufig als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet. Doch warum? Welche Verschwörungen werden von ihnen theoretisiert? Dazu und zum Verhältnis von Theorie und Verschwörung im Deutschland des Corona-Wahns mehr in der nächsten Folge.
Horst Pankow
23.5.2020