Und wenn es ein Killervirus wäre?
Am 29.3.2020 erläuterte ein taz-Redakteur unter dem Titel »Im Grundsatz leider richtig«, warum Linke normalerweise zurecht skeptisch seien, wenn das Bundesinnenministerium Überwachungsmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung für notwendig erklärt. Normalerweise – im Fall von Corona aber eben nicht. Das worst case Szenario von vielen tausend Toten, der Überlastung der Krankenhäuser, Langzeitschäden usw. sei realistisch, die Maßnahmen daher richtig und zu befolgen. Die Annahme einer großen, drohenden Gefahr bestimmt auch Umgangweisen mit der Pandemie, die sich für noch radikaler halten: zum Beispiel Hausprojekte, die sich selbst Hygienevorschriften und Kontaktbeschränkungen auferlegen, die die verordneten noch überbieten.
Umgekehrt hantieren maßnahmenkritische Interventionen mit den durch den Äther schwirrenden Zahlen, um an ihnen zu zeigen, dass die Gefahr politisch aufgebauscht werde, die Evidenz auch ganz andere Schlüsse zulasse und die Panik wahlweise irrational sei oder bewusst geschürt werde. Letzteres erzeugt den Verdacht, hier würde jemand Akteure hinter der Angelegenheit vermuten, und damit ist jede Diskussion beendet. Zu schnappt die Falle von Verschwörungstheorie, Leugnerschwurbleraluhut und Kontaktschuld.
Das Hantieren mit Zahlen erscheint im politischen Alltag zunehmend sinnlos, es bringt die Debatte nicht voran. Jedes Mal wird doch nur deutlich, dass entweder zu viele Zahlen herumschwirren – von denen man sich die aussucht, die am besten zur eigenen These passen –, oder, dass ein- und dasselbe Zahlenszenario unterschiedlich gewertet oder interpretiert wird. So richtig scheinen in Statistiken und Modellen geronnene Fakten nicht entscheidend für den Verlauf einer politischen Diskussion der Coronamaßnahmen zu sein. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die wirklich relevanten politischen Fragen nicht so eng an die verfügbaren Daten gebunden sind, wie man glauben könnte. Möglicherweise gibt es jenseits der medizinischen eine politische Dimension, die von infection fatality rate, case fatality rate, Pathogenität, ICU-Kapazitäten usw. unabhängig ist?
Ich halte das für die richtige Fährte und würde sogar noch weiter gehen: Selbst wenn das Corona ein Killervirus wäre und mit beliebigen früheren Plagen der Menschheit mithalten könnte – selbst dann wäre die Pandemiepolitik falsch und müsste von Kommunistinnen und Kommunisten oder anders etikettierten Freundinnen und Freunden der Emanzipation grundsätzlich kritisiert, abgelehnt und aktiv durchkreuzt werden.
Die Maßnahmenpolitik operiert seit Krisenbeginn auf zwei Ebenen: Erstens soll die oder der Einzelne das eigene Leben auf Infektionsprävention abstellen, und zwar aus Überzeugung, dass das das einzig ehtisch vertretbare und vernünftige Handeln ist. Hier donnert die Wucht der moralischen Beschallung auf allen Kanälen auf uns herein (Fürsorge heißt jetzt Abstand), jüngst gekrönt durch ein Werbevideo der Bundesregierung, in dem nicht nur gezeigt wird, dass die Helden von morgen heute zu Hause bleiben, sondern auch, wie bräsig die nachpandemische Zukunft sein wird. Wer davon nicht restlos überzeugt ist, wird – zweitens – ökonomisch (Bußgelder) oder durch unmittelbare Gewaltausübung (Abriegelung von Wohnblöcken) zur Einhaltung der dekretierten Regeln gezwungen.
Dass Linke staatlichen Zwang und offene Polizeigewalt gegen Arbeitslose und MigrantInnen (Göttingen; Hartzer Straße) nun tolerierbar finden, sei einmal beiseite gestellt. Vielleicht gelingt das dann besonders gut, wenn sie sich einreden, dass nur rechtsradikale Irre ein Problem mit der Beschränkung ihres Bewegungsradius (oder der Verhängung ihrer Atemwege) haben, wenn sie also schlicht nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich die Ablehnung dieser Maßnahmen in jeder Schicht und in fast jedem politischen Lager finden lässt.
Wichtiger erscheint mir die Ebene der persönlichen Identifikation mit Gefahr und Maßnahmen – denn die bildet ja auch die Grundlage dafür, dass der pandemische Ausnahmezustand zu einer so weitereichenden Reorganisation der Überzeugungen führt. Identifikation ist mehr als ein Für-richtig-Halten. Sie bindet die Subjekte affektiv ein, richtet ihr Begehren aus und macht eine Verständigung – die voraussetzt, dass man von sich selbst Abstand nehmen und andere Perspektiven einnehmen kann – unmöglich.
Um zu verdeutlichen, warum Freundinnen und Freunde der Emanzipation der Identifikation mit der Präventionspolitik widerstehen und ihr laut widersprechen sollten, ja sie einer radikalen und vernichtenden Kritik unterziehen müssen, sei zunächst einmal mit dem eigenartigen Glauben aufgeräumt, dass es sich bei dem Zugriff auf die Lebensführung der Einzelnen um die einzig mögliche – oder einzig sinnvolle – Pandemiebekämpfung handelt. So selbstevident der Zusammenhang zwischen Kontaktreduktion und Infektionsverhinderung erscheint, so irrsinnig ist es, eine stark urbanisierte, hoch spezialisierte und komplex zusammenhängende (Welt-)Gesellschaft nur noch unter diesem Gesichtspunkt zu sehen und bis ins Privateste hinein regulieren zu wollen – und sei es auch nur temporär. Zugegeben sind das Klassiker der historischen Pandemiebekämpfungen (also das Angstmachen, die Kontrolle und Isolierung von Menschen, Reisebeschränkungen oder -verbote und das Abriegeln ganzer Städte oder Landstriche) – aber spricht das wirklich für diese Art von Maßnahmen, die jetzt als alternativlos verkauft werden? Der behördliche Zugriff auf die oder den Einzelne/n und ihre oder seine privatesten Lebensäußerungen erscheinen vor dem Hintergrund anderer verfügbarer Mittel doch als die Menschen besonders belastende und auch in ihrer Effizienz allenfalls als mittelmäßig zu beurteilende Maßnahmen – und diese werden auch nicht dadurch geadelt, dass sie von vielen internalisiert wurden, sodass ihnen nun vorauseilend und freudig gehorcht wird. Freiheits- und Bewegungseinschränkungen sind als ›Minusgeschäfte‹ Regularien einer Zeit, in der es an vielem fehlte: vom Zugang zu sauberem Wasser, der Stillung der Grundbedürfnisse und hygienischen Wohnverhältnissen bis hin zu medizinischer Versorgung – und vielleicht auch dem medizinischen Wissen und den technischen Möglichkeiten. Die Notlösungen in historischen Pandemien war auf Reduktion ausgerichtet, auf Einschränkungen, was umso naheliegender ist, wenn es nichts zu verteilen gibt. (Man kann das natürlich auch weniger unschuldig sehen: Es waren auch im Rahmen der Pestbekämpfung die kostengünstigsten Möglichkeiten, die das geringste Maß an materiellem und geistigem Aufwand sowie an Menschenfreundlichkeit erforderten und an der die am meisten litten, die ohnehin schon arm dran waren.)
Wenn wir sagen, dass die mittelalterliche Feudalgesellschaft nicht über die Mittel verfügte, mit ihren Epidemien oder Pandemien anders als durch Beschränkungen umzugehen, weil es sich um eine von vielfältigen Einflüssen abhängige Mangelwirtschaft handelte, so kann dieses Argument heute kaum noch verfangen. Zwar leben wir im verwalteten Mangel, doch der ist künstlich und hat mit dem Stand der Produktivkräfte und den Möglichkeiten von Transport, Logistik usw. nichts zu tun. Wenn man die finanziellen Mittel betrachtet, die derzeit in die Hand genommen werden, um die Pandemie oder aber die Auswirkungen der Pandemiebekämpfung abzufedern, scheint heute allerdings Einiges möglich zu sein. Könnte man sie nicht für Positivmaßnahmen verausgaben – also solche, die den Menschen nichts wegnehmen, sondern ihnen vielmehr geben; und zwar nicht nur ideell oder emotional, sondern ganz konkret ökonomisch und infrastrukturell? Wie könnten diese aussehen?
Tatsächlich gibt es hier eine Fülle an Möglichkeiten. Es beginnt bei der Vollfinanzierung, Vergrößerung und besseren Personalausstattung der Krankenhäuser – und zwar akut und langfristig. Denn wie an der Krise zu sehen ist, sind die Krankenhäuser schon dann an der Belastungsgrenze, wenn die Zahl eingelieferter Patient/innen auch nur geringfügig steigt. Dasselbe gilt für die Alten- und Pflegeheime und die vielgescholtenen Schulen, die jetzt nach dem Willen mancher am besten wieder geschlossen werden sollen.
– Geht alles nicht schnell genug? Kann sein; aber es werden doch nicht einmal Schritte in diese Richtung unternommen. Das ist an vielen Beispielen zu sehen, hier nur eines davon: In einem großen Universitätsklinikum werden aktuell Pflegekräfte aus der Chirurgie auf den Covid-Intensivstationen eingesetzt. Sie sind dafür nicht ausgebildet; aus irgendeinem Grund hat man aber die sechs Monate zwischen ›erster‹ und ›zweiter Welle‹ verstreichen lassen, ohne dass Umschulungen vorgenommen wurden. (Die Information stammt aus einer Insiderquelle.) Und wenn es möglich ist, in wenigen Wochen ein Krankenhaus mit ICU-Betten hinzustellen – ist es tatsächlich undenkbar, in Raumfragen weniger im Sinne der Beschränkung als vielmehr im Sinne der Erweiterung zu denken? Wenn es nun aufs Abstandhalten ankommt – warum setzt man nicht dort an, wo Menschen unfreiwillig eng aufeinander sitzen, weil sie auf viel zu kleinem Raum miserabel leben? Es gibt auch kleinteiligere Vorschläge in diese Richtung – bisweilen werden sie sogar geäußert. Umfunktionierung der Hotels als Unterkünfte für Menschen ohne (adäquate) Wohnung wäre ein Beispiel; Taxifahrten zum ÖPNV-Tarif für betagte Personen ein anderes. Generell ist es eigenartig, wie wenig Menschen, die eigentlich eine bessere – zum Wohle aller eingerichtete – Gesellschaft anstreben, einfällt, wenn es um Verbesserungen der Lebensbedingungen geht, durch die die Lebenden geschützt werden könnten (wovor auch immer), und zwar mit möglichst geringen Nebenwirkungen wie Isolation, sozialer Vereinsamung und emotionaler Verarmung.
Denn letztere sind mehr als ›Kollateralschäden‹. Verwerfungen dieser Art bedeuten ganz reale Risiken für die Menschen. Das Immunsystem ist eine komplexe und bis heute wenig verstandene Sache, für die Faktoren wie sozialer Kontakt, Berührung, Lachen, emotionale Gelöstheit und eine Vielfalt von Lustmöglichkeiten eine wesentliche Rolle spielen. Es erscheint äußerst eigenartig, wenn Menschen nun im Namen des Lebensschutzes eingeredet wird, eine weitergehende Vereinsamung und Kontaktarmut sei zu ihrem Besten. Unabhängig von der Letalität, die mit einer Coronainfektion einhergeht: Sicher ist, dass eine so drastische Beschränkung ihrer emotionalen, sozialen und körperlichen Bedürfnisse ihr Leben 1. nicht verbessert und 2. recht sicher auch verkürzt (besonders augenfällig ist die desaströse Folge von Kontakbeschränkungen für Demenzkranke, bei denen in manchen europäischen Ländern eine signifikante Übersterblichkeit während des Lockdown dokumentiert ist, wie z.B. in England.)
Schließlich müsste – und das müsste für die bereits genannten Freundinnen und Freunde der Emanzipation eigentlich selbstverständlich sein – einer Sache absolute Priorität eingeräumt werden: die Bedingungen zu schaffen, unter denen eine infektionsvermeidende Lebensführung freiwillig gewählt oder eben auch abgelehnt werden können. Wer Treffen von mehr als soundsoviel Haushalten verbietet, verbietet der 80jährigen Oma, ihren Geburtstag mit ihrer Familie und Freundinnen zu feiern. Mit welchem Recht untersagt man einer 80jährigen, ein Infektionsrisiko einzugehen, weil sie ihre letzten Jahre im Kreis ihrer Lieben verbringen will? Mit welchem Recht weckt man in ihrem Umfeld die Angst, dass man sie möglicherweise auf dem Gewissen hat, wenn man diesem Wunsch Folge leistet? Was ›die Gesellschaft‹ – bzw. der bürgerliche Staat als ihr aktuelles Vollzugsorgan – allenfalls zu leisten hat, ist, Schutz und Risiko gleichermaßen zu ermöglichen. (Dass das nicht in 100%iger Weise bewerkstelligt werden kann – also doch unfreiwillig riskierte Ansteckungen passieren –, ist kein Gegenargument; welche Pandemiebekämpfung könnte das ausschließen?)
Das sind aber keine Fragen, die man unter Absehung politischer Kämpfe unter der Rubrik ›Ethik‹ lösen könnte. Das ist mehr als eine Frage der Werte oder der Moral (bei der es z.B. darum geht, ob die Oma eher feiern darf als die Neuköllner Jugendlichen). Es ist insofern eine politische Frage, als im Lichte des Pandemie-, also des Gefahren-Primats gesellschaftliche Antagonismen nicht allein in den Hintergrund treten oder irgendwie alternativ gedeutet werden, sondern komplett entnannt und dadurch unsichtbar, nachgerade inexistent werden. Ganz deutlich wird das mit Blick auf die clowneske und fanatische Personifikation der pandemischen Sozialdemokratie (Karl Lauterbach), der Ende November 2020 das »Zeitalter Mensch gegen Virus« einläutete. Wie Kennerinnen und Kenner von Ideologie und Ideologiekritik wissen, verschleiern Formulierungen, die einen Kampf »Mensch gegen äußere Bedrohung« behaupten, stets die fundamentale Wahrheit, dass sich alle wesentlichen Kämpfe zwischen Menschen abspielen. Es mag sich dabei korrekterweise um Funktionsträger oder Charaktermasken handeln. Doch lohnt es sich gelegentlich, sich in Erinnerung zu rufen, dass Charaktermasken ebenso wenig ohne ihre menschlichen Träger aus Fleisch, Blut, Eingeweiden und Genitalien exstieren können wie es Wert ohne Arbeit geben kann. Am Ende vom Tag muss jemand die Funktionen auch ausfüllen, die der gesellschaftliche Zusammenhang bereithält. Und das gilt in Zeiten der Krise – ob Wirtschafts-, Klima- oder Viruskrise – nicht in minderem Maße, sondern tritt dort mit besonderer Prägnanz zum Vorschein. Wenn man es denn sehen will.
Wirtschafts-, Klima- und Viruskrise haben gemeinsam, dass sie Gelegenheiten bieten, die antagonistischen Klassen auf ein Bündnis zu verpflichten, um Schlimmeres zu verhüten (den kompletten wirtschaftlichen Zusammenbruch, den Klimawandel, die Überfüllung der Krankenhäuser). Freilich gehen dieses Bündnis nur die Proletarisierten ein, während von Kapitaleigentümern realistischerweise niemand erwartet, dass sie ihre Charaktermaske an der Garderobe abgeben. Während KommunistInnen diesem Schulterschlussideologem im Fall der Wirtschaftskrise nur selten aufsitzen (und bereits bei der Klimakrise etwas häufiger), scheinen sie im Pandemiefall erstaunlich schnell bereit, ihre bisherigen Überzeugungen, Erkenntnisse und Analyseinstrumentarien einzumotten, statt sie auf die neue Lage anzuwenden. Täten sie es, würde erkennbar, dass diese Lage so neu nicht ist, sondern von anderen Krisenszenarien kaum zu unterscheiden – nicht in ihrer Struktur, und noch weniger in ihren politischen Effekten.
Damit sind wir wieder bei der Frage angekommen, wie es sein kann, dass das Virusparadigma mit so viel Verve übernommen und identifikatorisch integriert wird? Ein Grund besteht wohl darin, dass nun erstmals eine Identität zwischen politischer Überzeugung und Lebensrealität herstellbar wird, mit der man nicht ein spinnerter Außenseiter ist, sondern stolzer Teil der bürgerlichen Mitte. Wenn man nun die Schließung der Fabriken aus Gründen des Infektionsschutzes fordert, weiß man damit die medienstärksten SPD-Politiker auf seiner Seite!
Tatsächlich radikal wäre es, die Forderung nach Arbeitsniederlegung mit einem Aufruf zur Verbindung und Versammlung zu verknüpfen, um eine schlagkräftige Bewegung aufzubauen. Sie war noch nie nötiger als jetzt (ist aber freilich schon lange sehr nötig). Wer nun aber Radikalität in der Forderung erblickt, möglichst vielen Menschen die Selbstisolation zu ermöglichen, hat entweder die Sache mit der Emanzipation aufgegeben oder ein recht mystisches Verständnis davon. Denn eins dürfte feststehen: Die Revolution wird nicht über Zoom angezettelt. (Man könnte allenfalls sagen, man verschiebt die physische Versammlung auf später. Aber wie werden die Menschen gebaut sein, die irgendwann vielleicht wieder aus ihren Löchern kriechen dürfen, zumal kommende Pandemieszenarien längst im Raum stehen? Ganz abgesehen davon, dass soziale Revolutionen erwiesenermaßen unhygienisch und ganz unmittelbar lebensbedrohlich sind.)
Es gibt sicher noch weitere Gründe, aus denen AHA+L+etc.pp. zur neuen radikalen Praxis avanciert ist. Sie sind aber kaum spezifisch für die Linke, deren Vertreterinnen und Vertreter ja nicht nur Linke, sondern auch ordinäre Subjekte sind. Deshalb ist hier nicht der Ort, darauf näher einzugehen.
Fest steht: Selbst wenn es ein Killervirus wäre – Moralbeschallung, Bevormundung und Maßnahmen, die aufs Intimste zielen, wären niemals adäquate Mittel einer Pandemiebekämpfung und müssten von Kommunistinnen und Kommunisten stets und aufs Heftigste bekämpft werden.
8.12.2020