Norman Raskolnikoff
Die Coronakratie als neue Herrschaftsform
Darauf verließen die unreinen Geister den Menschen und fuhren in die Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See. Es waren etwa zweitausend Tiere, und alle ertranken. – Mk 5, 12
Wenn es wahr ist, dass in diesen Zeiten der Mensch dem Menschen nicht mehr nur Wolf, sondern schlimmer noch ein Virus geworden ist, dann kristallisieren sich darin die Elemente einer kommenden Herrschaftsform. Die Metapher über den Naturzustand zeigt die Verwandlung des Gesellschaftsvertrags auf, der in der aufgeklärten politischen Philosophie seit Hobbes über Rawls die notwendige Unterwerfung unter das Gemeinweisen als Befriedung erkannte: Das Abtreten der Souveränität des Einzelnen an den Staat war Voraussetzung für Kooperation und Schutz aller. Was bei ihnen immer verdeckt bleiben musste, war der notwendige Zwang, um den Staatsbürger in seine Uniform zu pressen. Nach den mehr oder weniger erfolgreichen bürgerlichen Revolutionen war jedoch der politisch emanzipierte Citoyen ein Wolf im Schafspelz, nur eben jetzt auf einer erweiterten gesellschaftlichen Stufenleiter. Die unterschlagene Schattenseite des Vertrags war der am Eigennutzen orientierte Bourgeois, der sich, mit allen Wassern gewaschen, in der Konkurrenz der Monaden zu bewähren hatte. Dem entspricht der materiell ungleiche Existenzkampf der Individuen als „freie“ Warenbesitzer. Diese in sich widersprüchlich verfasste Schizophrenie der politischen und gesellschaftlichen Form drängte seit jeher zu ihrer historischen Auflösung.
In der Hygienediktatur offenbart sich der asoziale Charakter des Spätbourgeois in der Furcht vor den Resten an erster Natur, die er an seinem eigenen Körper und insbesondere an denen seiner Umwelt entdeckt. Der Leib mit seinem Blut, Schweiß, Sekret und feuchtem Atem ist das nicht vollständig rationalisierbare, verstandene und damit nicht ganz unterworfene. In der zurzeit bestehenden Ausnahmesituation kann jeder Körper inklusive dem eigenen von diesem teuflischen Virusdämon befallen sein, wobei die Paranoia ihre Nahrung aus dem projektiven Gehalt des Asymptomatischen (1) bezieht. Es sind gerade die Menschen ohne Beschwerden, die die größte Infektionsgefahr ausmachen: Der hilfsbereite Nachbar von nebenan: ein Superspreader! Die Rache der verstümmelten Natur lauert nun überall als Infektionsgefahr, der Versuch ihrer Beherrschung schlägt um in Mystifizierung des Alltags. Dem Menschen des 21. Jahrhunderts erscheinen die Lebenssäfte immer noch wie blanke Magie, ersichtlich wird dies an der Theorie über Aerosole, die im Sommer 2020 aus dem Hut gezaubert wurde: Zur Substanz einer unsichtbaren Bedrohung verklärt, heißt atmen nun potenziell andere vergiften – jetzt sind es nicht mehr nur die Männer, die sich durch ihre innewohnende Toxizität auszeichnen. Zum Schutz heißt es für alle Insassen der Republik: Maske auf und durch!
Im Widerstand gegen die Maßnahmen, die während des Ausnahmezustands von der Regierung getroffen wurden, zeigt sich das Verhältnis von Klasse zum Staat, wie auch zum eigenen halbkontrollierten Körper – es spiegelt sich darin die gesellschaftliche Arbeitsteilung wider. Während der Handwerker, Kleinunternehmer, Dienstleister, Fabrikarbeiter, Tagelöhner, also generell diejenigen, die noch durch einen notwendigen Rest manueller Arbeit ihren Broterwerb leisten, ihren Unmut bis zur kategorischen Ablehnung tendenziell ausdrücken, ist es die neue Kulturklasse, die den Vortänzer des Gesundheitsspektakels mimt. Die neuaufgestiegene Klasse der Wissensarbeiter zeichnet sich notwendigerweise durch die Form ihrer Alimentierung als besonders staatsnah aus. Die körperliche Arbeit hat im Schweiße ihres Angesichts einen Rest davon erhalten, dass der zum Instrument degradierte Leib noch so etwas wie Vergänglichkeit besitzt, eine Ahnung, die dem durch unendliche Wissens- und Informationsakkumulation geprägten Kopfarbeiter abgeht. Sie ernten die bereits verfaulende Frucht der spätbürgerlichen Gesellschaft, in der die Herrschaft des Geistes über die Materie total werden soll.
Das Virus im Katastrophenszenario ist nur die neueste Fassung episodisch aufwallender Wellen der Hysterie, die seit der Mutually Assured Destruction der Machtblöcke über das Ozonloch, dem Finanzcrash, dem Rechtspopulismus und den Klimastreiks, die krisengebeutelte Transformation des Westens befördern. Dass die Menschheit bei gleichzeitigem Fortschritt in der Naturbeherrschung ihrer eigenen sinnlosen Selbstzerstörung in den letzten hundert Jahren immer näher gerückt ist, angefangen beim I. Weltkrieg über die Todesfabriken von Auschwitz, bis zum Abwurf von Atombomben, kann keinesfalls bestritten werden. Und gerade deshalb scheint das Corona-Argument auch so schlagend zu sein, weil die survival mentality sich schon so weit in das Bewusstsein sedimentiert hat, dass jede Katastrophe als wahrscheinlich gilt. Damit hat sich der letzte Rest utopischen Denkens, so scheint es, durch die geschichtliche Erfahrung selbstnegiert. Heute heißt es, rette sich wer kann! Der Coronaleugner ist dabei die schärfste Bedrohung des eigenen Überlebens, welche antiautoritär mit der Sorge um die Kranken und Schwachen maskiert wird – dass es sich dabei, wie könnte es anders sein, um das gesellschaftliche Feindbild Neonazi handelt, ist nur umso praktischer. Der neueste Schlager aus dem linken Lager, ZeroCovid und No-Covid (2), machen das, neben der vollständigen Unterwerfung unter den chinesischen Weg, deutlich. Die Welt nähert sich in der Vorstellung der Verfasser des No-Covid einem dystopischen Science-Fiction zunehmend an: Das Land solle in „Zonen“ aufgeteilt werden, wobei die Regionen, die es schaffen die Infektionsrate auf null zu senken, wieder das Privileg des „voll normalen“ Lebens unter der Käseglocke erhalten sollen, wohingegen die Maskenmuffel, die es nicht schaffen, weiter unter dem absoluten Staatszugriff versauern dürfen. Inwiefern eine Nullinfektionsrate überhaupt einer Allmachtsphantasie gleichkommt, sei dabei einmal dahingestellt. Nicht überraschend wurden die beiden Forderungen nur vom who-is-who der herrschenden Politik-, Kultur-, Medien- und Wissenschaftsclique unterschrieben. Die Krise, die zur allgemeinen Erscheinungsform der Gesellschaft mutiert, macht somit auch den Krisenverwalter, Manager und Experten nötig, denn wer von den Konsumenten versteht schon noch etwas von den komplexen Zusammenhängen der internationalen Finanzströme oder den Todeszahlen, die täglich über unsere Bildschirme flimmern. Darum erschallt von der Linken, aber nicht nur dort, der Ruf, man möge doch um Himmelswillen den Weisen der Wissenschaft vertrauen: Die Forderung nach selbstverschuldeter Unmündigkeit stellt nur einen weiteren Sargnagel in der Geschichte der Linken dar. Dass die Arendt-, Agamben- und Foucault-Exegeten nun auf einmal bienenfleißig den Notverordnungen folgen, sei hier nur am Rande bemerkt.
Man sagt uns, die Angebote der großen Unternehmen können uns eine Ersatzbefriedigung liefern, damit wir uns nicht der lauernden Gefahr aussetzen müssen. Die digitalen Monopole, die bei jedem Abrufen von Youtube und Facebook ihre Fürsorgepflicht gegenüber dem Konsumenten überernst nehmen, indem sie uns daran erinnern, dass wir am besten zuhause bleiben sollten, leben von unserer bei ihnen eingespeisten libidinösen Energie. Darum beschleunigt die Sterilisierung des zwischenmenschlichen Stoffwechsels nur weiter die Prozesse, die wir vorher schon beobachten konnten: die Atomisierung der Individuen und einen Ausbau der Digitalisierung beim gleichzeitigen Kampf gegen die klassische Industrieökonomie, denn letztere ist nicht nur schädlich für die Umwelt, sondern auch geprägt durch die unmittelbare Ansteckungsgefahr für die Angestellten: also Arbeitslosigkeit zum Schutz von Mensch und Natur. Die Werbekampagnen der Regierung und ihrer Vasallen gegen die Familie als größte Virenkeimzelle, Hort emotionaler Belastung und häuslicher Brutalität zeigen ihr Überflüssigwerden im postmodernen Akkumulationsprozess an. Der letzte Wunsch nach einem Gespräch mit Menschen aus Fleisch und Blut wird durch das Zoom-Surrogat verhöhnt.
Der von Medien und Staatsantifa organisierte Aufstand gegen die Verschwörungstheorie enthält dabei auch immer die implizite Drohung, sich weder auf illegalen Parties, noch am Küchentisch oder dem Telegram Chat zu verschwören, um sich der Gesundheitsdiktatur zu entziehen. Exemplarisch sieht man dies an Formaten wie Belltower News (3), Correctiv, etc., die jedes Facebook-Profil, jeden Tweet oder Telegram Gruppenchat tatsächlicher oder vermeintlicher Verschwörungstheoretiker für ihre Leserschaft ausspionieren, recyclen und mit einem fachmännischen „Faktencheck“ garnieren. Sie demonstrieren, dass Informationen, die im halböffentlichen Raum des Internets zugänglich sind, jederzeit gegen jeden verwendet werden können: we are watching you! Im Gleichklang mit der Spionage klatschen die Bundespolitiker Beifall, wenn ein demokratisch gewählter Präsident von einem Tech-Oligarchen aus der Netzöffentlichkeit verbannt wird, doch sägen sie dabei auch an dem Ast, auf dem sie sitzen: das Bündnis aus nach Zensur brüllendem Internetmob und Technologieelite kann im Handumdrehen seine Loyalität wechseln. Im Kampf um die Vormacht wird jetzt zu neuen Waffen gegriffen. Nachdem die aufsteigende Kulturklasse zuvor jahrzehntelang einen radikalen Relativismus vertreten hatte, der gegen die Dominanz der alten herrschenden Klasse und ihrer Werte gerichtet war, muss sie nun einem Positivismus, Objektivismus und Szientismus verfallen, mit dem sie ihre neuerworbene Autorität legitimieren kann: Wer den Informationsfluss kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.
Das Homeoffice wird so zum zeitgemäßen Begriff, in dem sich die Trennung von Heim und Arbeit aufhebt, die gerade das historisch Einmalige der bürgerlichen Epoche war. Wer es vorher schon gewohnt war, Mark Zuckerberg in sein Wohnzimmer zu lassen, muss dies nun auch seinem Chef gewähren. Da verwundert es kaum noch, warum die Menschen sich fast widerstandslos vom Staat in ihr privates Leben hineinregieren lassen. Ein Vorzug des Bourgeois war gerade auch sein Selbstbewusstsein, welches sich darin ausdrückte, sich nicht vom Staat gängeln zu lassen, eine juristische Form fand dies im von Natur aus gegeben Widerstandsrecht. Dass jener Zug abgefahren scheint, ist nur umso mehr Anzeichen des Zerfallsprozesses. Der Konservative und noch mehr der Liberale wussten darum, was sie auch affirmierten, dass die Demokratie der politische Ausdruck der bürgerlichen Klassenherrschaft war. Der Kommunist sah in dieser Klassenherrschaft das noch nicht erfüllte Potenzial einer universellen Emanzipation der Menschheit angelegt. Mit dem Verschwinden des Bürgertums schließt sich auch das historische Fenster der Befreiung, wodurch nur sein Realismus zurückbleibt, der in seiner gesteigerten Tendenz immer wieder ins Katastrophenhafte umzuschlagen droht. Wenn also die Reste des traditionellen Bürgertums vor dem unmittelbaren Fall stehen, so fällt auch die liberale Demokratie. Beide werden durch die Technokratie der Kultur- und Managerklasse ersetzt, deren temporär politischen Ausdruck die Coronakratie annimmt.
20. Januar 2021
Anmerkungen
(1) https://www.welt.de/vermischtes/article219248034/Corona-Melanie-Brinkmann-Ich-bin-es-leid-Haben-den-Sommer-verschwendet.html
(2) https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2021-01/coronavirus-strategie-no-covid-positionspapier-neuinfektionen-lockdown?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
(3) https://www.belltower.news/dehate-report-qanon-in-deutschland-down-the-rabbit-hole-radikalisierung-in-zeiten-von-covid-19-108411