Weil wir es lieben
Kleine Typologie der Coronagenießer
Über das neuartige Coronavirus, das die westliche Welt gerade lahmlegt, weiß man eingestandenermaßen sehr wenig. Staatliche Maßnahmen basieren auf Szenarien, die so schrecklich sind, dass es offenbar nicht einmal eine Rolle spielt, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie überhaupt eintreten werden.
Für die Befolgung der Anordnungen seitens der regierten Leute ist das ebenfalls völlig egal. Sie schalten in den Coronamodus, motten sich zu Hause ein und gieren nach Zahlen, die absolut nichts aussagen. Tatsächlich ist nichts im Moment so hoch besetzt wie Corona. Wenn Menschen sich doch einmal treffen und paarweise durch Parks traben, sprechen sie über Corona. Kinder fahren mit Spielzeugrettungsautos zum Coronaviruseinsatz. Und: Corona hat das Internet erobert. Es liefert eine exquisite Mischung aus hier völlig unverständlichen und dort drastisch überemotionalisierten Bildern, ist aber auch eins a Instagram-tauglich (Promis rufen zum Basteln von Schutzmasken auf). Von der psychischen Seite her betrachtet, gibt es keinen Zweifel: Corona? Wir lieben es!
Da es unterschiedliche Weisen gibt, durch die Coronakrise Lust zu erfahren, lässt sich eine Typologie der Coronagenießer erstellen. Selbstverständlich sind Mehrfachzuordnungen möglich, aber auch Reinformen kommen vor.
1. Autoritärer Typ
Dieser Freund des Coronavirus erlebt Befriedigung dadurch, dass es für die Durchsetzung seiner nach außen gerichteten aggressiven Phantasien nun ein behördlich gebilligtes Argument gibt. Endlich hat man Staat und Polizei auf seiner Seite, wenn man anderen vorschreibt, was sie zu tun haben: zu Hause bleiben, in den Arm husten, sich gründlich – gründlich! – die Hände waschen, nicht in Gruppen herumlungern, aber vor allem natürlich zu Hause bleiben.
Den autoritären Typ gibt es in zwei Varianten:
a. Typ Blockwart
Die offen autoritäre, latent sadistische Version. Ruft nach der „Ausgangssperre jetzt!“, lobt Markus Söder für sein „Vorpreschen“ (Bitte mehr Vorpreschen dieser Art!), kann sich auch „viel radikalere Maßnahmen gut vorstellen“ und stellt zufrieden fest: „Manche haben es immer noch nicht kapiert“ (brauchen es also noch härter).
b. Typ Moralist*_:in
Empört sich darüber, dass diejenigen, die jetzt noch auf den Straßen herumwimmeln, dies auf Kosten von Gefährdeten (Alten, Kranken) und Marginalisierten tun. Aus dem eigenen Haus herauszutreten gilt hier als Privileg, auf das man jetzt gefälligst verzichten soll. Wer das nicht genauso sieht, ist ein schlechter Mensch. Man selbst ist ein guter Mensch.
2. Fans des virtuellen Kuschelns (aka Sex without touching)
Dieser Typ erfreut sich daran, dass es jetzt endlich einen benennbaren Grund für das eigene und kollektive Elend gibt, und eine dazu passende Beziehungsform ohne störende Ambivalenzen. Während man sonst nie ganz sicher ist, ob man vielleicht aufgrund der Gesellschaft morgens so schwer aus dem Bett kommt, oder ob nicht doch eher eine Individualneurose schuld ist (die man erst umständlich und mit Hilfe vieler komplizierter Bücher wieder auf die Gesellschaft zurückbiegen muss), ist jetzt klar: Alle leiden an dieser Coronakrise! Alle sitzen im selben Boot. Alle können Überträger oder Opfer oder beides sein. Alle müssen jetzt zu Hause bleiben und sind einsam, ob sie im normalen Leben gestört sind oder nicht. Nie war es so einfach, solidarisch zu sein (via Whatsapp oder GoFundMe). Ist das nicht ohnehin die schönste Art, sich ganz nah zu sein, weil man es dann nicht mit diesen ambivalenten Körpern und dieser irritierenden Sexualität zu tun bekommt?
3. Angstlüstler
Angstlust ist wahrscheinlich bei jeder Genießerin der Coronakrise mit dabei. Die Freude am Ausmalen des Armageddon mit der Qualität eines Blockbusters kann mehr oder weniger bewusst sein. Besonders ausgeprägt ist sie bei Menschen, deren bereits vorhandenen Ängste nun einen handfesten Grund haben. Handfest bedeutet hier: allgemein anerkannt. Denn das Gute an diesem Grund für Ängste ist, dass man durch ihn nur potenziell bedroht ist: wegen Asthma (Risikogruppe) oder irgendetwas anderem, das in bald überlaufenen Krankenhäusern nicht mehr behandelt werden kann. Das aber heißt: All meine Manieriertheiten, die normalerweise noch irgendwie gehemmt sind wegen akuter Peinlichkeit (sich nicht umarmen, weil das Immunsystem „total runter“ ist; exotische Lebensmittelunverträglichkeiten usw.), können jetzt ungehemmt ausgelebt werden. Endlich sind meine Phobien salonfähig (s. Typ 2).
4. Typ Mathias Döpfner
Dieser Typ versteht sich – unabhängig von seiner realen gesellschaftlichen Macht – als aufgeklärter Bürger, der alles, was geschieht, kritisch hinterfragt, und zu dem, was in der bürgerlichen Welt passiert, eine Meinung hat. Er ist kritisch-rational (Ich zweifle. Rechtfertigt diese Grippe wirklich alle diese krassen Einschnitte?), aber gegenüber menschlicher Not empfänglich – zumindest, wenn es nicht die Not von Arbeits- und Obdachlosen, Geflüchteten oder irgendwo in der Dritten Welt an Hunger Krepierender ist (Dann wache ich auf und sehe diese schrecklichen Bilder aus Norditalien!). Er ist deshalb leidensbereit (Ich sehe es ein: Wir müssen jetzt ALLES tun, um italienische Zustände zu verhindern. Ich verzichte daher auf meine Freizeitaktivitäten), aber nicht sehr lange (Das muss bitte alles auch zügig wieder aufhören). Seinen Wunsch nach einem baldigen Ende der Maßnahmen artikuliert er nicht als Forderung, sondern als Bitte. Dieser Typ genießt die Ausnahmesituation, weil sie ihm Gelegenheit zur pathetischen Selbstdarstellung bietet – aber die Gesamtscheiße, die sonst herrscht, mag er unterm Strich dann doch lieber.
5. Typ Blaumachen
Besorgt sich ein Auto, fährt zum Tegeler Fließ, legt sich dort in die Wiese und fragt sich einen ganzen Nachmittag lang, wann sie zum letzten Mal einen strahlend blauen Himmel ohne die Spur auch nur eines einzigen Flugzeugs gesehen hat. Schön!
25.3.2020