Jan Arndt
Corona – eine Revolutionsphantasie
»Mit dem Schritt, mit dem ich mir eine Umwelt erobere, setze ich mich der Gefahr des Irrtums aus.« Gottlob Frege
Angenommen, es wäre letzten November auf einem chinesischen Nassmarkt oder einer Marderfarm nicht zur Zoonose gekommen. Angenommen, die globale Welle der Aufstände, Proteste, Rebellionen, Platzbesetzungen, Riots, Streiks, Straßenblockaden … hätte sich weiter aufgetürmt und wäre 2020 in die Zentren kapitalistischer Reichtumsproduktion gespült. Angenommen, die Momente einer Vereinheitlichung der oberflächlich heterogenen Proteste und Klassenkämpfe hätten sich mehr und mehr zu einer, wie sagt man heute?, Evidenz verknüpft. Angenommen, im November 2020 wäre es dann auf einem chinesischen Nassmarkt oder einer Marderfarm zur Zoonose gekommen und man hätte von Covid-20 sprechen können: Was wäre passiert?
Wie hätte die globale oder, wir backen hier kleine Brötchen, die hiesige Linke reagiert? Hätte sie überhaupt auf Covid-20 reagiert? Das wäre ja die erste Frage. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass in einer Welt, in der gerade Dramatisches passierte, die schlicht und ergreifend abgelenkt wäre, nie irgendwer auf Sars-Cov-2 getestet worden wäre resp. die Krankheitsbilder nie dementsprechend isoliert und ergo nicht zu einer neuen Krankheit erklärt worden wären. So wie sich 1968ff. niemand für das »Hongkong-Virus‹ interessiert hat – trotz aller erwiesenen Gefährlichkeit der von ihm ausgelösten Erkrankungen.
Aber angenommen, Sars-Cov-2 wäre entdeckt und die Symptome wären unter dem Label Covid-20 zusammengefasst worden, und Drosten, Wieler und Kekulé träten im März 2021 händeringend vor die Presse und sekundierten Spahn oder Merkel dabei, wie sie Ausgangssperren und Versammlungsverbote verhängten – reagierte dann die Linke so, wie sie heute reagiert? Die Maßnahmen per se für vernünftig halten (mal mutig anerkennen, dass die Regierung auch etwas Richtiges beschließen kann); Kritiker und Skeptiker zu Verschwörungsphantasten herabwürdigen; fleißig schreiben, als wollten alle unsere RLS-geförderten Meisterdenker zwanghaft regressiv den Schülerwettbewerb »Leitartikel heute« gewinnen; ihr historisches Wissen zur Kritik der Expertokratie und der Medikalisierung des Lebens von Polack bis Illich in die Tonne treten; Skeptische autoritär anschnauzen, »Spiel nicht den Hobbyvirologen!«, statt Drosten & Co. wenigstens das an den Kopf zu werfen: »Spielt nicht die Hobbysoziologen!« … Nein, natürlich hätte sie so nicht reagiert. Sie hätte alle Maßnahmen wütend zurückgewiesen – und zwar als das was sie sind: Aufstandsbekämpfung! Offensive von Big Data! Kalte Krisenabwicklung! Stattdessen: Seht her, der Staat pfeift doch auf dem letzten Loch, wenn er schon eine Krankheit konstruieren muss, um die Unruhen zu beenden!
Eine zynische Spekulation? Weil sie davon ausgeht, dass globalen Aufständen 50000 oder 500000 Corona-Tote geopfert würden? Aber muss man wirklich daran erinnern, wogegen sich eine Revolution richten wird? Gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen – die Verseuchung des Trinkwassers, die Erosion resp. Versiegelung fruchtbarer Böden, die Brandrodungen, das Comeback längst besiegt geglaubter Krankheiten … bis hinab zur Erbärmlichkeit, dass pro Jahr Dutzende Fahrradfahrer zermatscht werden, weil kaum ein LKW ein technisch unaufwändiges, aber einen Kostenfaktor darstellendes Warnsystem installiert hat. Gegen all das ist Covid-19 – oder wäre Covid-20 – nicht nichts. Aber es kann sein, dass während einer Revolution Covid-20 einfach nicht so wichtig wäre, so wie »wir« gerade (gerade?), nun, vergessen, dass der wahre Horror dieses Welt eben nicht Covid-19 heißt.
Diese kleine Verschiebung im zeitlichen Ablauf … sie hat ja nicht stattgefunden. Was für ein glücklicher Zufall, nicht wahr? Denn das Gesetz des Handelns lässt sich die Linke allemal vorschreiben, anstatt es selber zu ergreifen: Es ist doch vermessen, wie gesagt: zynisch, sich irgendwelchen Revolutionsmodellen hinzugeben (dafür ist noch kein Modellierer ausgebildet worden …)! Aber müsste nicht linkes Denken –wenn man schon nicht Handeln mag! – ganz darauf ausgerichtet sein, dieses Revolutionsszenario zu antizipieren? Wie viele Genossen, die den Christian Geißler im Bücherschrank stehen haben und dessen Lebensmotto »Wir sind nur das, was wir gegen sie tun« ihnen zum Kalenderspruch geronnen ist, laufen jetzt mit Gesichtsmaske herum und entlarven die »Hobbyvirologen«?
Wäre man ihnen böse gesinnt, könnte man meinen, linke Intellektuelle suchten die Panik geradezu, wühlten sich mit Wonne in sie hinein. Warum? Viele arbeiten irgendwo irgendwie als Freelancer: Vorträge, Lehraufträge, Workshops, Radiofeatures. Ihnen fällt die Existenzgrundlage weg, Toptheoretiker sind plötzlich auf Hartz4 gesetzt – worüber sie bislang nur geschrieben haben, es aber nie selbst erfahren wollten. Eine Demütigung, keine Frage. Wer hat dann noch die Kraft, sich aufzubäumen und den Corona-Staat fundamental zu kritisieren? Und das als Einzelkämpfer? Da verhalte ich mich doch lieber so, dass auch in Zukunft Stiftungen, Institutionen und renommierte Verlage wohlwollend auf mich blicken – ah, das ist kein Querulant, ein kritischer Geist, aber doch auch vernünftig…
Ist es so einfach? Schön wär’s. Denn mit Leute, die korrupt sind, lässt sich arbeiten. Vermutlich steht für die Linksintellektuellen in ihrer Selbsttäuschung mehr auf dem Spiel. Sie erobern keine Umwelt mehr, für sie schon länger bloß noch feindliches Terrain, sondern retten ihre moralische Identität vor allen Infektionen: Es ist ihre ganz persönliche Revolution. Man ersetze »Euphorie« durch »Panik« und »Aufstand« durch »Abstand«, dann zeichnet sich das Bild klar ab. Corona ist für die Linke zum Revolutionsersatz geworden. Zwanghaft wiederholen sie das Schema bürgerlicher Emanzipation(sverhinderung): Jakobinismus (Notstand sofort!); erste Anzeichen der Restauration (Öffnungsdiskussionsorgien!); Kampf gegen konterrevolutionäre Elemente (alles Verschwörungstheoretiker!); demnächst auch Revolutionsexport, vorläufig nur für die unwilligen Bevölkerungsschichten (wehe, ihr teilt nicht unsere Moral!). Irgendwann kommt die Zerknirschung, und die ersten Renegaten werden abspringen – wer wird sie willkommen heißen?
Jan Arndt
27.5.2020