Zu den Einzelnen
Hat man dem, was einem im Leben widerfährt, nichts anderes entgegenzusetzen als Ablehnung oder gar Abwehr, zumal, wenn man weder in praktischen Sinne noch gedanklich über eine eigene Vorstellung eines anders gangbaren Wegs verfügt, so führt dies, am leichtesten einsehbar im extremen Fall des Hasses, bei einem selbst zu Verhärtungen, Borniertheiten, Wirklichkeitsverlust und -flucht. Um diese Folgen wenigstens gering zu halten und die mit ihnen verbundene Gefahr ihres erweiterten Selbstlaufs zu bannen, muß man sich – gerade in dieser Gesellschaft lebend – ihrer bewußt zu werden und sie im Blick zu halten versuchen.
Gerade in dieser Gesellschaft meint: Die objektiv auf jeden einwirkende Verfügungsmacht in allen Lebensaltern, Lebensbereichen, Vorstellungen, Versuchen, Gedanken läßt kaum mehr für den widerstrebenden Einzelnen übrig als Reaktionen, die denen eines trotzigen Kinds vergleichbar sind, da der Zugang zu und die wenigstens mentale Erfahrung mit im Grundsatz anderen Entwürfen mennschlichen Lebens und Zusammenlebens durch Abnutzung, Gewalt, Versagen, Fortgang der Technisierung und Psychologisierung, Ungeduld und Auslöschen geschichtlicher Erinnerung und überhaupt der Fähigkeit dazu auf ein verschwindend kleines Maß geschrumpft sind. Und auch die reale Existenz von Nischen oder die Möglichkeit der Einbildung solcher gehört in weitestem Sinne der Vergangenheit an.
So läßt sich sagen, jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen, allerdings in aller Regel nicht als des anderen Menschen Wolf, sondern in einer einsamen, kläglichen, hoffnungs- und wunschlosen, zur Passivität in den Lebensangelegenheiten verurteilten Verfassung. Der starke Drang nach menschlicher Nähe zumindest in der eigenen Umgebung ist groß, allerdings die Enttäuschung und der Schmerz häufig und stark, wenn man oft genug feststellen muß, daß anscheinend auch zur Herbeiführung dieser einem die Mittel fehlen. Gefühle, die einem am eigenen Menschsein noch mehr zweifeln lassen – denn wo keine Menschheit, auch nicht im Kleinen, da auch kein Mensch.
In dieser Lage darf es nicht überraschen, wenn der praktische Wille und Wunsch zum Konformismus, am Dabei- und nicht Alleinsein, aus Verzweiflung kann man sagen, weit verbreitet, letztlich in allen – wohl in unterschiedlichem Maß – wirksam ist. Diesem Wunsch und Willen zu folgen, macht leicht ersichtlich das Ich nicht stärker, entspricht eher einer panischen Flucht in Selbstaufgabe, läßt aber als – unbewußte – quasi-legitimierende Hoffnung noch zu, es möge von irgendwoher, irgendwann eine bislang unbekannte Gewalt kommen, die dem Ganzen ein Ende bereitet – eine Gewalt, die allerdings dann man selber eben nicht ist.
Um dem zu entgehen, müßte man die Kraft und den Mut aufbringen, sich seines eigenen Lebens zu bedienen, in der starken Vermutung, beinahe in der sicheren Annahme, vielleicht sogar im Wissen, daß dabei im gewissermaßen objektiven Sinne nicht viel, nichts Großes dabei herauskommt. Doch aus der Betrachtung der Geschichte läßt sich schließen, daß wer Großes wollte meist wohl eher Nichts, manchmal nur Großes, häufig genug Unangenehmes herbeigeführt hat, wohingegen einige Beispiele vorliegen, daß eine Herangehensweise ohne allumfassende Vision, in kleinen Schritten, das Backen kleiner Brötchen Einigen doch erlaubt hat, weiter zu kommen, Schmackhaftes hervorzubringen, zuweilen gar die Erzeugung neuen Muts, auch bei anderen, die bislang keinen kannten oder fanden, und die selbst geschaffene Möglichkeit, noch weiter zu kommen.
20.9.2020