Zwischenzeiten II
Im Jahre 432 unserer Zeitrechnung, als das römische Empire seinem Ende entgegenging, begab Bischof Patrick sich an Bord eines Schiffes, das ihn nach Irland brachte. Die Insel am Rande Europas, so entlegen, daß die Römer es nicht der Mühe wert befunden hatten, sie zu erobern, wurde von einem wilden Volk bewohnt, das von Viehzucht und Sklavenhandel lebte. Der heilige Patrick brachte ihm die Frohe Botschaft des Jesus von Nazareth. Er nahm den Keltenkriegern die Furcht vor den Geistern des Waldes und erläuterte ihnen mit Hilfe eines Kleeblatts die dialektische Figur der Dreieinigkeit. Unterdessen löste sich die Zivilisation in Rauch und Chaos auf. In manchen Grenzregionen begrüßten die von den kaiserlichen Steuereintreibern ausgeplünderten Bauern die Barbaren als Befreier und begleiteten sie auf ihren Raubzügen ins römische Kernland. Aber mit dem Imperialismus der Caesaren – von Hippolytos als das teuflische Inversbild der christlichen Einheitsidee auf den Begriff gebracht – endete auch die geistige Welt, die ein Jahrtausend früher in der griechischen Polis ihren Anfang genommen hatte. „Die Bibliotheken, wie Gräber, wurden geschlossen für immer.“ (Amminianus Marcellinus)
Während ganz Europa von den germanischen Invasoren heimgesucht wurde, boten die neu gegründeten irischen Klöster eine Zufluchtsstätte für Mönche aus aller Welt. Aus fernen Provinzen des ehemaligen Reichs kamen sie, Schiffbrüchige einer untergegangenen Zivilisation. So wurde Irland „die Insel der Heiligen und Gelehrten“. In den Scriptorien der Klöster schrieben die keltischen Mönche ab, was die dem Untergang Entkommenen an Zeugnissen der Vergangenheit hatten retten können. Ihrem unermüdlichen Eifer allein ist es zu verdanken, daß die lateinische Literatur kommenden Generationen überliefert wurde.
Natürlich konnten die Kopisten selbst mit dem, was sie bewahrten, wenig anfangen. Nachdem die Welt verschwunden war, deren geistigen Ausdruck die Buchstaben festhielten, verwandelten sich diese in Hieroglyphen. Wenig von dem, was ein Cicero oder Augustinus verhandelte, war auf der entlegenen Insel, die keine Städte kannte, von irgendeiner praktischen Bedeutung. Wie borniert und starrköpfig der Weltgeist wurde, als er für eine Zeitlang gezwungen war, bei den Kelten Quartier zu nehmen, mag die Synode von Whitby im Jahre 664 verdeutlichen, auf der es die Iren um ein Haar zu einem großen Schisma mit den englischen Christen hätten kommen lassen, weil diese – das Osterfest ein paar Tage später feierten.
Aber das schmälert nicht ihren Heroismus. Wenige Generationen später, als sich auf dem Kontinent die Wogen etwas geglättet hatten, sandten die irischen Klöster ihre Emissäre aus, um über das germanisierte Europa den Geist des Christentums zu verbreiten. Überall pflanzten sie ihre Stützpunkte in die Wildnis – Lumièges, Auxerre, Reichenau, St. Gallen, Salzburg, Wien, Bobbio, Fiesole, Lucca, um nur einige der Wichtigsten zu nennen -, aus denen einmal eine neue Zivilisation hervorgehen sollte.