2. Die Beschwörung der Verstümmelten
Der Terror hat natürlich einen guten Ruf.
Es gibt eine hypnotisierende Aura der Macht.
Der nächstbeste Schnösel, kaum verlässt er die Attali-Kommission, wird als Präsident eingesetzt, er geht auf einmal als Sphinx durch und seine Haltlosigkeit gilt als Meisterschaft. Stalin selbst ist, seit er 1939 auf dem Titelblatt der Times zu sehen war, nicht mehr das zu Tode geprügelte Kind mit Schwimmhäuten an den Füßen und einem deformierten Arm, das er trotzdem bleibt. Auf der anderen Seite ist Allen Dulles, der Mann des amerikanischen Geheimdienstes unter acht Präsidenten, der Direktor der CIA, dessen Kopf Kennedy sich schon geholt hatte und der sich im Gegenzug Kennedys Kopf schnappte, plötzlich nicht mehr der Klumpfuß, der er als Junge war, als er den Frauen hinterher lief. Das gilt für jeden „Chef“, ob auf einer Baustelle oder in einem Kabinett. Die soziale Hierarchie ist eine der Mystifikation. Sie ist daher auch eine der spürbaren Verstümmelung. Damit die Mystifikation zur Königin wird, muss die Verblendung König sein. Es wäre keine Sekunde dieser Welt möglich, wenn man in ihr existieren und dabei das sehen könnte, was Kafka in ihr sah. „Wir alle leben so, als ob wir Alleinherrscher wären. Dadurch werden wir zu Bettlern. […] Todesangst ist nur das Ergebnis eines nichterfüllten Lebens. Sie ist die Äußerung der Untreue. […] Diese großen politischen Zusammenkünfte haben ein ganz gewöhnliches Kaffeehausniveau. Die Leute reden sehr viel und sehr laut, um so wenig wie möglich zu sagen. Es ist ein lärmendes Schweigen. Das wirklich Wahre und Interessante dabei sind nur die Geschäfte im Hintergrund, die mit keinem Wort erwähnt werden.“ (Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka, 1968) Seitdem hat ein Jahrhundert der Verwüstung hinreichend veranschaulicht, wie richtig Kafka in allen Dingen lag und das fast als Einziger. In allererster Instanz muss jeder den Zugang zu dem, was er dennoch empfindet, gut verbarrikadiert halten. Und man ist gut beraten, sich gegenseitig in diesem rühmlichen Bestreben zu unterstützen – was jedoch keineswegs verhindert, sein Leben in Abhängigkeit von dem Rumor zu führen, der aus dem verbotenen Untergeschoss dringt. Schließlich hat eine Verstümmlung noch nie das Auftreten von Phantomschmerz verhindert. Die herrschende Gesellschaftsordnung ist mehr denn je eine Verschwörung von Verstümmelten – eine objektive, strukturelle, spontane, universelle Verschwörung. Ein Aktivismus der Amputation, der ganz sichtbar vom obskursten Datenwissenschaftler bis hin zu Elon Musk fließt. Als ob sie ihr Übel unbedingt verbreiten müssten. Ein Übel, das von weit her kommt und dessen böser Atem bereits zu spüren war, als 1933 die mit Ein Jahrhundert des Fortschritts betitelte Weltausstellung in Chicago unter dem Motto lief: „Die Wissenschaft entdeckt, die Industrie wendet an, der Mensch passt sich an.“ Der rasende Impuls, jedes Gefühl mit Füßen zu treten, scheint die geheime Triebfeder der gegenwärtigen technologischen Beschleunigung zu sein. Finanzielle Gier und ein davon ausgehender Wunsch nach Unterwerfung ebenfalls. Man muss nur Lin Junyue, dem chinesischen Theoretiker des Sozialkreditsystems Sesam, beim Reden zuhören, wenn er uns erklärt, dass „ihr mit einem System des Sozialkredits niemals die Gelben Westen bekommen hättet“. Man muss nur Mark Zuckerberg, Yuval Harari oder Bill Gates zuhören. Durch sie entsteht der von der Klatschpresse gefeierte gesellschaftliche Imperativ der Verkrüpplung. Man sagt ihnen nach, sie seien genial, visionär, wagemutig, aber vor allem intelligent. Ihr Erfolg bestätigt das. Aber nein: Sie sind nur abgefeimt. Im Grunde bestand ihr ganzer Erfolg darin, ihre Abgefeimtheit als Intelligenz auszugeben. Man gesteht ihnen zu viel zu, wenn man sie als neuen Satan beschreibt, außer man erkennt an, dass das Charakteristische des Teufels nichts Faszinierendes hat: eine triviale Hässlichkeit, ein einfache Leblosigkeit. Was ihnen den Anschein von Außerirdischen verleiht, entspringt keiner Überlegenheit, sondern einem inneren Mangel. Sie müssen mit aller Macht „den Menschen erweitern“, weil sie ihn nur verstümmelt kennen und um diese Verstümmelung endgültig zu machen. Sie sind so aktiv, weil sie glauben, ihr Mangel sei so über jeden Zweifel erhaben, und um ihn in Macht umzuwandeln. Die Leere ihres Herzens macht sie unersättlich. Nichts kann ihnen das Gefühl geben, wirklich am Leben zu sein. Daher ihre Obsession, das Leben anderer zu bestimmen. Sie sind verunsicherte Erfolgsstreber; Überflieger, die nicht wissen, wo sie wohnen – und das eine ist das Ergebnis des anderen. Im privaten Kreis geben sie das auch gerne zu. Hierbei hat sich ihre Bösartigkeit in einem Maße entwickelt, das ihrem Mangel entspricht. Ihre ganze Besessenheit mit dem Gehirn, der Kognition und den Neuronen kann nichts daran ändern: Verstand hat seinen Sitz im Herzen – das wusste man schon immer. Die Intelligenz durchläuft das Gehirn, wie sie durch den Bauch geht, aber ihr Wohnsitz ist das Herz. Denn im Herz sitzt die Teilhabe an der Welt, die Bereitschaft, sich von ihr beeinflussen zu lassen und sie im Gegenzug zu beeinflussen.
Ihre Wut, die Welt unter dem Vorwand zu zerstören, sie von Kopf bis Fuß neu aufzubauen müssen, entspringt der Verstümmelung ihres Herzens.
Es reicht ihnen nicht, dass sie sich allen Reichtum angeeignet haben; die Sorglosigkeit derer, die sie enteignet haben, widert sie an.
Ihr Groll gegen die Armen ist grenzenlos.
Dass die Armen es noch wagen, zu leben, sich zu treffen oder gar zu feiern, reicht aus, um ihnen den Besitz der Welt zu verderben.
Es reicht nicht, dass sie sich mit persönlichen Sicherheitsdiensten umgeben: Noch ihr Inneres gerät in Panik, ob eines jederzeit möglichen Zusammenbruchs – wie sollen sie sich dann vor ihren Wächtern schützen?
Ihre Träume sind nichts als eine lange Aneinanderreihung von Worst-Case-Szenarien.
Sie leben in der Angst vor ihrem eigenen Untaten.
Niemals werden sie uns verzeihen, was sie uns angetan haben.
Zum Zwecke des Exorzismus veranstalten sie immer mehr Data-for-Good-Projekte und Tech-for-Good-Gipfel. Sie wollen glauben, dass sie „für das Gute“ und „für immer“ da sind, diese Elenden.
Wenn dem so wäre, sie müssten es nicht so zur Schau zu stellen – das würde bekannt sein.
An diesem Punkt wäre es absurd zu fragen, ob sie sich verschwören, dieses eine Prozent, das 48 Prozent des weltweiten Reichtums besitzt, das überall die gleiche Art von Schulen, Orten und Menschen besucht, das die gleichen Zeitungen liest, den gleichen Moden erliegt, in den gleichen Diskursen schwimmt und im gleichen Gefühl der erblichen Überlegenheit.
Natürlich atmen sie die gleiche Luft.
Natürlich verschwören sie sich.
Dafür müssen sie nicht einmal ein Komplott schmieden.
„In aller Offenheit, wir sind der Ansicht, dass es nichts Gefährlicheres geben kann als eine Gesellschaft, in der Psychopathen vorherrschen, die Werte definieren und die Kommunikationsmittel kontrollieren. […] Sie werden uns wieder zu Patienten machen.“ (Philip K. Dick, Die Clans des Alpha-Mondes, 1964)