3. „Alles konspiriert“
Es hat etwas Verrücktes, wie sich die Verfechter eines Regimes, das aus den „dreizehn Komplotten des 13. Mai 1958“ geboren ist – die Fünfte Republik –, in einen Kreuzzug gegen den Verschwörungswahn stürzen.
Oder aber, es ist im Gegenteil absolut logisch.
Nur diejenigen, die die Freuden und Mächte der Verschwörung in vollen Zügen genießen durften, können sich nun darum bemühen, diese für sich allein zu behalten.
Wenn Verschwörungstheorien so banal und so beliebt sind, dann deswegen, weil sie sich in ihrer Gänze durch diese beliebte Banalität begründen: Keine Macht erhält sich anders als dadurch, dass sie sich gegen diejenigen verschwört, über die sie ausgeübt wird – Lohnabhängige, Staatsbürger, Kunden, Bevölkerung, Patienten, Angeklagte oder Gefängnisinsassen. Ernsthaft frei wird man, der Konstruktion gemäß, nur mit dem Anwachsen einer Kraft, die den Strahlen der Macht undurchdringlich bleibt: also einer Verschwörung.
Um, ohne eine Miene zu verziehen, einen Kreuzzug gegen Verschwörungstheorien anordnen zu können, musste man jahrzehntelang den Rückgang des Geschichtsbewusstseins organisieren. Das war die Voraussetzung dafür.
Auf unserer Seite sollten wir sicher die Unterscheidung zwischen Komplott und Verschwörung genauer fassen. Das Komplott evoziert das Bild der Verschworenen, die im selben Zimmer versammelt sind und ihrem expliziten und geteilten Willen folgend einen genauen Plan schmieden. Er beruht auf einem gemeinsamen Geheimnis, welches folglich ohne weiteres verraten werden könnte. Die Verschwörung hingegen hat es nicht nötig, dass sich ihre Mitglieder versammeln. Sie schwebt. Ihr Element ist die Luft. Ihre Eintracht bleibt stillschweigend, diffus, so schwer zu fassen wie eine Idee. Eben das macht sie so furchtbar. Es handelt sich um objektive Verschwörungen, die das Ergebnis von Reflexen, von Repräsentation, von sozialen Strukturen sind, und die alle Hindernisse, die der Durchsetzung ihres Programms entgegenstehen, geschickter aus dem Weg räumen können als ein gut durchgeführtes Komplott. Man wäre mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, wollte man ihnen eine Herkunft nachweisen, ihnen einen Sitz zuordnen oder eines ihrer Subjekte isolieren. Die gegenwärtige Welt ist ohne jeden Zweifel das Ergebnis von zwei Jahrhunderten einer objektiven Verschwörung von Ingenieuren, die alles umfasst und nirgendwo ihr Zentrum hat. Was könnten sie auch anderes tun? Es ist ihre Natur. Sie müssten schon aufhören, sich wie Ingenieure zu verhalten; sie müssten sich selbst verraten. Die Verschwörungen mit ihrem alles durchziehenden Charakter gehen über die bewussten Absichten der an ihnen Beteiligten hinaus. Manchmal können sie sich in eine verborgene Vielzahl lokaler Komplotte aufspalten. Nichts gleicht mehr einem konzertierten Manöver, einer zentralisierten Verschwörung als die Einhelligkeit der täglichen journalistischen Fälschung, die sich in erster Linie aus einem Struktureffekt ergibt, aus ideologischer Uniformität, aus sozialer Auslese, aus professioneller Unterwürfigkeit, welche allzu gut mit Operationen der koordinierten Vergiftung harmonieren.
Vor allem muss der Konspiration ihre Aura des Außergewöhnlichen genommen werden. Die conspiratio ist im Lateinischen der Gleichklang, im musikalischen Sinn wie im Sinne der Übereinkunft zwischen den Wesen. In der Liturgie des frühen Christentums ist die conspiratio der Moment des osculum, des Kusses auf den Mund, den die Gläubigen austauschen. Sie werden so zu „einem einzigen Atemzug“, einem einzigen „Geist“. Der Kirchenhierarchie erschien das Ritual schon sehr früh so peinlich, dass sie es bald durch das fade „Frieden Christi“ ersetzte. Es überlebte nur in der mittelalterlichen Huldigung des Lehnsherrn durch seinen Ritter und auch heute noch unter den Mafiosi. Ein „Komplott“ ist im Altfranzösischen einfach eine Versammlung – eine Menschenmenge, ein Treffen oder eine Tischgesellschaft. Überall dort, wo Menschen die gleiche Luft atmen und den gleichen Geist teilen, entsteht eine Konspiration. Wo immer sie sich physisch versammeln, entsteht ein Komplott, zumindest potenziell. Dass diese Begriffe mit einer unheilvollen Bedeutung aufgeladen wurden, zeugt nur vom schweren Gewicht des Staates bei der Definition unseres Vokabulars und folglich auch bei unserem Blick auf die Welt. Denn nur aus Sicht des Staates stellt jede einzelne Verständigung und jede Versammlung eine Bedrohung dar.
Die Möglichkeit zur Verschwörung ist aller Existenz inhärent.
Sie ist sogar das Kennzeichen von allem, was lebt.
Wenn alles lebt, dann deshalb, weil „alles konspiriert“, sagten die Stoiker.
Die menschliche Realität und das Leben sind niemals durchsichtig.
Bei der Darstellung aller Dinge und der Erfassung allen Seins bleibt ein Rest.
Jede Öffentlichkeit ist in Undurchsichtigkeit eingefasst.
Wo Bühne und Zuschauer sind, sind Kulissen und Maschinen.
Wo ein Feld ist, ist auch ein Jenseits des Feldes.
Wo es offizielle Politik gibt, gibt es Geheimdienste.
Das Organigramm der Organisationen sagt letztlich wenig aus über die echten Hierarchien in Unternehmen, in Parteien, in Verbänden.
Eine Epoche, in der alle Sphären des Lebens ausgeleuchtet und publik gemacht sind, kann nur eine Epoche sein, in der sich das Komplott seinerseits in jeden Winkel der Existenz eingeschlichen hat.
Der Wahnwitz besteht nicht im Verschwörungsglauben, sondern im Unter-Verschwörungsglauben: darin, nur ein großes Komplott wahrnehmen zu wollen, wo es doch unzählige gibt, die sich in allen Richtungen zusammenbrauen, zu jeder Zeit und überall.
In Frankreich verschwören sich nicht nur die Mafia vom Corps des Mines, die Athanor-Loge oder die Netze von Françafrique.
Jedes Mal, wenn Freunde offen miteinander reden, jedes Mal, wenn zwischen Menschen etwas passiert, auf der Straße, im Café oder beim Tanz, haben wir es mit dem Beginn einer Verschwörung zu tun.
Wer Verschwörung sagt, meint nicht notwendigerweise gemeinsame Umtriebe, sondern die Möglichkeit gemeinsamer Umtriebe.
Wie viele Streiks sind das Ergebnis eines zu viel getrunkenen Glases Wein in der Kneipe, eines zufälligen Gesprächs an der Kaffeemaschine?
Schaut genau hin: Es gibt kein gehaltvolles Abenteuer, keine lebendige Revolte, keinen durchschlagenden Versuch, der seine Wurzeln nicht in der konspirativen Dimension der Existenz hätte.
Die Intriganten, die den Staat übernommen haben, entsetzen sich über jedes noch so geringe Einverständnis, das sich zwischen den Wesen entspinnt.
Daher die verbissene Anstrengung der vergangenen Jahre, alle physischen Orte zu leeren, an denen wir uns sammeln; sie zu schließen, zu überwachen, uns zwischen vier Wänden einzusperren – mit oder ohne Garten.
Daher die unter anderen Umständen unbegreifliche, wilde Wut des Staates gegen die Nachtschwärmer.
Dem ist jedes Chaos Engineering vorzuziehen.
Die algorithmische Transparenz der zwischenmenschlichen Beziehungen seit dem Aufkommen von Smartphones und der allgegenwärtigen Digitalisierung, gekoppelt an die Rückeroberung des öffentlichen Raums durch die Polizei, ist Ausdruck eben dieses Fiebers.
Denn alles schreit in seiner vollendeten Katastrophe nach dem Umsturz der bestehenden Ordnung.
Deshalb ist unter dem Vorwand, eine Epidemie zu bekämpfen, eine bestialische präventive Konterrevolution in vollem Gange.
Die Unschuldigen werden sich immer schwer tun, das zu glauben.