1. Die antikonspirationistische Verschwörung
Die Bekämpfung einer Epidemie vorzugeben – und morgen die der ökologischen Katastrophe –, indem man das gesamte gesellschaftliche Leben von der Vorlage eines „Passes“ (einer Art verallgemeinerten elektronischen Version des Arbeitsbuchs des 19. Jahrhunderts) abhängig macht, um dann diejenigen, die diese Vorspiegelung absurd finden, als rücksichtslos abzustempeln – die gegenwärtige Macht hat Gefallen an dieser sich wiederholenden Vorgehensweise gefunden: Eine wahnhafte Realität herzustellen und dann diejenigen zu Häretikern zu erklären, die sich weigern, sich ihr zu verschreiben.
Aber wir sind keine Häresie.
Wir sind ein Schisma.
Es gibt heute nicht die einen, die entscheiden, und die anderen, die protestieren.
Es gibt Wirklichkeiten, die voneinander abweichen, Wahrnehmungskontinente, die auseinander driften, Lebensformen, die unversöhnlich werden.
Es handelt sich um eine Diskrepanz, die einerseits wesentlich tiefer geht und andererseits wesentlich geräuschloser ist als alles, was offen zutage liegt.
Diese Lage der Dinge bringt diejenigen buchstäblich in Rage, die eine einheitliche Welt benötigen, um über sie herrschen zu können, und sei es auch nur ihrem winzigen Maßstab gemäß. Sie müssen mit allen Mitteln versuchen, dieses sich ihnen entziehende Draußen wieder zu absorbieren. Ob Augustinus gegenüber den Pelagianern oder Papst Innozenz III. gegenüber den spirituellen Bewegungen, die Jagd auf Häretiker geht immer in der doppelten Bewegung vor, die „Diplomaten“ – diejenigen, die, frei der Etymologie folgend, akzeptieren, „gekrümmt“ zu leben – zu reintegrieren und die Unbeugsamen zu vernichten. Die zeitgenössische Antiverschwörungstheorie fällt unter diese Art von Intrigen, auch wenn sie ihnen eine zusätzliche Wendung gibt.
Karl Popper hat mit seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von 1945 die antiverschwörungstheoretische Rhetorik erfunden. Zwei Jahre später gründete er mit seinem Freund Friedrich von Hayek, der ihm eine Stelle an der London School of Economics verschafft hatte, die erfolgreichste Verschwörung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Mont-Pèlerin-Gesellschaft. 1947 ging die Mont-Pèlerin-Gesellschaft von einer vollständigen Niederlage des liberalen Lagers aus – die gesamte Welt, oder jedenfalls beinahe die ganze, war keynesianisch geworden. Dem stellte sie die ontologische Gewissheit ihrer Sache entgegen: Hayek, von Mises und Popper hatten damals bereits erkenntnistheoretische Widerlegungen des Sozialismus vorgelegt, von denen dieser sich im Grunde nie erholt hat und zu denen er sich am Ende sogar selbst bekannte. Als Hebel diente der Mont-Pèlerin-Gesellschaft ein Netzwerk aus zuverlässigen Freundschaften, das von einer straffen philosophischen Debatte und von in der Verwaltung, der Geschäftswelt und im Journalismus gesponnenen diskreten Komplizenschaften genährt wurde – es waren also nicht nur Ökonomen beteiligt. Nie erklärte sie offen ihr politisches Ziel, das sie dennoch obsessiv verfolgte. Keine ihrer Strategien ließ sie durchblicken, und sie maskierte ihre taktische Agenda mit der anerkannten Form der anspruchsvollen theoretischen Debatte. In dreißig Jahren systematischer, hartnäckiger, teils untergründiger, teils offener Arbeit hat die Mont-Pèlerin-Gesellschaft den Neoliberalismus aus der Taufe gehoben. Sie hat ihn zuerst in den Köpfen der Menschen an die Macht gebracht und dann erst in den Präsidentenpalästen von Chile, Frankreich, Großbritannien und den USA. Sie hat ihn zur herrschenden Atmosphäre in den Gesellschaften, zur spontanen Sprache der Regierungen, zur impliziten Triebfeder der meisten gängigen Technologien gemacht. Er hat in allen gesellschaftlichen Bereichen Fuß gefasst und sich metastasenartig in allen Weltteilen in Hunderten Universitätsdepartements, „think tanks“, Instituten und „pressure groups“ ausgebreitet, die ihrerseits einen nicht abreißenden Strom an Tausenden Vorschlägen, Berichten und Analysen, Tausenden Lösungen von kurzer, mittlerer und langfristiger Dauer produziert haben. Das geht so weit, dass Regierende wie Regierte neoliberal handeln, ohne sich dessen bewusst zu sein, allein indem sie dem Zeitgeist folgen. Bis hin zur Technik der neuronalen Netze auf Basis des „deep learning“ gibt es nichts, was – verkanntermaßen – nicht Hayek & Co. zu verdanken ist.
Karl Popper und Friedrich von Hayek
Eine einzigartig geschlossene Gesellschaft war nötig, um allen die „offene Gesellschaft“ aufzuzwingen. In Wirklichkeit dient die antiverschwörungstheoretische Rhetorik seit ihrer Entstehung dazu, eine rege Verschwörungstätigkeit zu verdecken. Sie ähnelt der Taktik der Ölmultis, den Klimawandel zu leugnen, obwohl sie seit den 1960er Jahren davon wissen. Sie trocknet den Gegner aus, raubt ihm die Stimme, zieht ihm den von allen geteilten Boden unter den Füßen weg. Die Plumpheit des Verfahrens verwirrt durch die fast punkige Infragestellung dessen, was doch eine wahrnehmbare Selbstverständlichkeit und außerdem eine belegte Tatsache ist. Wer diese Karte zieht, gewinnt Zeit, um die laufenden Operationen zu Ende zu führen und für die Zukunft vorzusorgen. Er bewahrt diese Welt vor Kritik, errichtet eine Nebelwand und bereitet den Boden für seine zukünftigen Schritte. Der Vorwurf der Verschwörungstheorie ist der Wächter der dreisten Lüge.
Unter dem Schutz einer Armee von Polizisten verteidigte der sozialistische Vizebürgermeister von Grenoble am 2. Juni 2006 die umstrittene Eröffnung von Minatec in seiner Stadt, einem neuen Forschungszentrum der Atomenergiebehörde, das den Nanotechnologien gewidmet ist. Den Demonstranten, die Einwände dagegen hatten, entgegnete er: „Den Leuten weiszumachen, dass wir der Bevölkerung ohne vorherige Debatte eine totalitäre ‚Nanowelt‘ aufzwingen würden, ist nicht nur eine verlogene Manipulation, sondern auch eine wohlbekannte Form von politischer Paranoia, die sich auf Verschwörungstheorien und den Hass auf die Eliten, die gewählten Vertreter und Verantwortlichen stützt.“ Wohlgemerkt fand eine Debatte nie statt. Und die Nanopartikel von Minatec sind inzwischen überall zu finden. Die Debatte hat deswegen nie stattgefunden, weil man sie in dem Moment, in dem sie hätte entscheidend sein können, abgewehrt hat. Als noch Zeit gewesen wäre, diese neuen Umtriebe der Quartiermeister der Katastrophe zu zerschlagen.
Etwas näher an unserer Gegenwart, eines schönen Novembermorgens im Jahr 2016, verkündete Narendra Modi kurzerhand die Entwertung aller 500- und 1000-Rupien-Scheine, die 86 Prozent des in Indien im Umlauf befindlichen Bargelds ausmachten. Es ging natürlich darum, Armut und Korruption zu bekämpfen, alle Bürger an der Entwicklung des Landes teilhaben zu lassen und sie endlich vor der Steuer gleichzustellen. Diejenigen also, die darin ein brutales Manöver sahen, um der Anonymität, die dem Bargeldaustausch eigen ist, ein Ende zu machen und eine verstärkte soziale Kontrolle durch Digitalisierung aller ökonomischen Transaktionen einzuführen, sahen sich als Anhänger von „Verschwörungstheorien“ beschimpft. Drei Jahre später kündigte die indische Regierung ihr Programm „Cashless India“ an, das just von eben jenem Oligarchen angeraten wurde, der in den Jahren zuvor die nationale biometrische Datenbank aufgebaut hatte. Das Land rühmt sich seither, die am stärksten digitalisierte Wirtschaft der Welt zu besitzen – ein unvergleichliches Mittel, um – man ahnt es schon – „gegen das Coronavirus zu kämpfen“.
„Was ist der Unterschied zwischen der Wahrheit und einer Verschwörungstheorie? – Acht bis neun Monate“, dieser zynische Witz machte in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Runde. Nun, worauf es ankommt, ist, was man in diesen acht oder neun Monaten macht, wie man also seinen Vorteil ausspielt. Der Chef von Alcatel, ein polytechnischer Beamter des Ingenieurskorps für Brücken und Straßen vertraute einem seiner Berater an: „Unsere Leute, sogar diejenigen, die gebildet sind und sich für Herren halten, können nicht denken. Wenn sie sich einmischen, dann lösen sie nur Katastrophen aus. Man muss für sie denken, ihren Geist beschäftigt halten. Sie plappern alles nach und machen es zur Routine. Während sie damit beschäftigt sind, die Neuerungen, an die sie glauben sollen, zu verstehen und zu rechtfertigen, kann man arbeiten, Entscheidungen treffen und alle vor vollendete Tatsachen stellen.“ (Marcel Bourgeois, Die Augen zum Weinen. 50 Jahre bei den Bossen, 2019) An den Beginn des Buches, in dem er zum ersten Mal die „Verschwörungstheorien“ verunglimpft, setzte Popper den folgenden Satz von Walter Lippmann, dem einflussreichsten amerikanischen Kolumnisten des frühen 20. Jahrhunderts, dem „Schöpfer“ des Neoliberalismus: „Der Niedergang der liberalen Wissenschaft steht am Anfang des moralischen Schismas der modernen Welt, das die aufgeklärten Geister so tragisch spaltet.“ Popper verbarg kaum – für denjenigen, der zu lesen versteht –, was er im Schilde führte. Sein Argument gegen die „Verschwörungstheorien“ kann man so zusammenfassen: 1. Nur weil es Verschwörungen gibt, heißt das noch nicht, dass sie auch erfolgreich sind. 2. Alles ist viel komplexer, als wir es uns vorstellen können. 3. Es gibt eine „Logik der Situation“, die sich, wie der Markt selbst, jeder Kontrolle entzieht. Zusammengefasst: Man kann es nicht wissen, weil man nicht überall sein kann und deshalb niemals sicher sein kann. Der Versuch, eine nachvollziehbare Geschichte der Ereignisse zu schreiben, ist eine fatale Anmaßung. Jeder, der etwas über diese Welt sagt, was diese Welt nicht bereits von sich selbst sagt, überschreitet seine erkenntnistheoretischen Rechte. Außerdem gibt es über diese Welt nichts zu sagen. Man kann sich nur anpassen. Auf jede ohnehin widerlegbare Aussage über den Stand der Dinge antwortet die Rhetorik der Verschwörungsgegner mit einem argumentativen Ablenkungsmanöver gegen die Aussage selbst oder gar gegen denjenigen, der sie äußert – dessen kognitive Verzerrungen, seinen Mangel an Methode, seine unstete Psyche, seine Paranoia. Auf diese Weise schützt sie wirklich diese Welt – und das ist ihre Funktion –, indem sie die Projektile ablenkt, indem sie über psychologische und „epistemologische Schwächen“ doziert. Während wir über die Welt reden, sprechen die Antiverschwörungstheoretiker nur über uns. Von Popper, dem Vater aller Trolle, geht es weiter zum berüchtigten „paranoiden Stil in der Politik“, den Richard Hofstadter 1964 so elegant als Ausdruck schlichter apokalyptischer Ängste intellektuell minderbemittelter Subjekte entlarvt hat. Die Welt ist also eine riesige, unhinterfragbare Positivität. Die einzig mögliche Weisheit ist skeptisch. Wenn es nötig ist, „die Kontroverse offenzuhalten“, über Neonikotinoide, über das Öl oder über die Atomkraft, dann nur, um taktisch zu verhindern, dass sich in der öffentlichen Meinung eine unvorteilhafte Wahrheit herauskristallisiert – das ist zumindest die vor Verachtung triefende Meinung derjenigen, die am Hebel sitzen. „Unser Produkt ist der Zweifel“ war 1969 eine Dienstmitteilung eines der führenden Vertreter der Tabakindustrie überschrieben. So viel komfortabler Zweifel passt gut zum Axiom, dass nur der Markt, der dank des Preissignals allwissend und allgegenwärtig ist, Wahrheiten produzieren kann. Wer kann es wagen zu behaupten, dass diese Welt von Herrschaftsverhältnissen verpestet ist und dies ohne Unterlass vergessen machen muss, geschweige denn, dass ihre Zeit vorüber ist und sie gestürzt werden muss? Die Parade ist unparierbar, zumindest auf formaler Ebene. Auf historischer Ebene hingegen schlägt sie ohne Maß zu: Wenn bisweilen die düstersten Verschwörungen ins Stocken geraten, dann nur deswegen, weil die Gegenkräfte sie rechtzeitig erkannt haben und sich daran machten, sie zu bekämpfen, als sie sich noch in einem embryonalen Zustand befanden – zu einem Zeitpunkt also, als die guten Leute, die sich an den Schein halten, ihre schiere Existenz noch geleugnet haben.
„Hell is truth seen too late“, erinnerte Philip Mirowski, der große Historiker des Neoliberalismus, indem er sich bei Hobbes bedient.
Poppers Argument trägt nur deswegen, weil es Verschwörer gibt und weil sie als solche handeln.
Wenn es Verschwörer gibt, dann einfach deswegen, weil es Verschwörungen gibt.
Wir sind bei weitem nicht alleine, erkenntnistheoretisch. Zu unserer Unterstützung haben wir zahlreiche ergiebige analytische Geister. Man kann ihr plötzliches Verstummen seit dem März 2020 nur bedauern. Der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin erklärte im Dezember 2019 seinen Kollegen in Harvard, der Grund, dass so viele Leute nicht mehr an „die Wissenschaft“ glaubten, liege nicht nur in „pädagogischen Versäumnissen“ oder geistiger Zurückgebliebenheit, sondern vielleicht darin, dass – seit der Atombombe, dem sich daran anschließenden Manhattan-Projekt und seitdem die Forschung sich dem Dienst am Kapital verschrieben hat – „die Wissenschaft“ es in der Welt so weit gebracht hat, dass alle wissen, dass sie zu viele Interessen hat, um noch ehrlich zu sein. Sie hat der Macht so gut gedient, dass niemand mehr von ihr erwartet, dass sie außerdem noch der Wahrheit dient.
Umgekehrt mangelt es nicht an linken Schreiberlingen, die versuchen, die guten Leute aufzuklären, indem sie dicke Bände über Verschwörungstheorien verfassen, die „das System stützen“ und „dem sozialen Kampf schaden“ würden. Wir werden ihnen mit der folgenden lehrreichen kleinen Anekdote das Gedächtnis auffrischen und ihnen eine historische Erbauung zuteil werden lassen: In der Nachfolge von Popper, während des Kalten Krieges, als die Konfrontation zwischen McCarthyismus und Stalinismus dem freien Denken sicherlich nicht förderlich war, mangelte es nicht an liberalen oder sogar libertären Intellektuellen, die versuchten, Verschwörungstheorien und ihre „diabolische Kausalität“ zu dekonstruieren, und jeder Form von politischem Radikalismus vorwarfen, dass er geradewegs in die Gaskammern führt. Einer der ersten Artikel über „die polizeiliche Konzeption der Geschichte“, wie man seinerzeit „Verschwörungstheorien“ nannte, erschien 1954 in der antitotalitären Zeitschrift Preuves aus der Feder von Manès Sperber. Zehn Jahre später erbrachte das amerikanische Magazin Ramparts den Beweis, dass besagte Zeitschrift ohne ihr Wissen von der CIA finanziert wurde.
In einer paranoischen Welt haben die Paranoiker recht.
Die antiverschwörungstheoretische Rhetorik zielt darauf ab, den Eigentümern dieser Welt das Monopol auf Verschwörungen zu sichern.