1. Das Projekt, alles zu regieren
Wenn man heutzutage eine ganze Bevölkerung dazu zwingen will, sich einen „Impfstoff“ injizieren zu lassen, verkündet man nicht gleich ein Gesetz, bevor man dann die Staatsgewalt auf die Rebellen hetzt.
Das wäre nicht modern.
Und es wäre kontraproduktiv.
Stattdessen bietet man den sich dazu bereit erklärenden Jugendlichen einen Gutschein für McDonald’s oder einen Tag im regionalen Wasserpark an.
Man ruft sie an, um ihnen zu sagen, dass man sie im Impfzentrum erwartet und ein Zeitfenster für sie reserviert ist.
Man verleiht den Armen ein „Diplom als Bezwinger von Covid-19“ – ja, ja, das gab es in Meaux!
Um jeden Einzelnen herum wird ein unerbittlicher „sozialer Druck“ aufgebaut, der von der Überschwemmung der Hirne durch die Fernsehnachrichten über das papageienhafte Nachplappern der Kollegenschaft bis hin zum Bombardement in den sozialen Netzwerken reicht.
Dann bespuckt, beschimpft man die Widerspenstigen und Rückfälligen und droht ihnen mit Exkommunikation.
Und schließlich wird das Leben der Unbeugsamen mit Tausenden kleinen, schäbigen Hindernissen, Tausenden zermürbenden Widrigkeiten und Tausenden winzigen Verboten gespickt, die jedoch nicht so weit gehen, sie verhungern zu lassen.
Sie werden unmerklich aus dem gesellschaftlichen Leben entfernt.
Kurz gesagt: Man lässt sie verschwinden.
Natürlich existieren sie noch irgendwo, wie so viele andere winzige Dinge, aber es ist bereits so, als ob sie nicht mehr existieren.
So musste man nicht das Gesetz durchsetzen, um die Norm durchzusetzen. Man musste die Körper nicht direkt zwingen. Man ließ sie aus „freien Stücken“ kommen. Man hat an ihren Bedürfnissen, Gewohnheiten, Ängsten und Wünschen angesetzt, um sie zur Einsicht zu bewegen. Man hat ein ganzes „günstiges Umfeld“ geschaffen. Und das nicht für den einen oder anderen, sondern für die gesamte Bevölkerung und für alle einzelnen Bevölkerungsgruppen, aus denen sie sich zusammensetzt.
Das ist Regieren: strategisch auf das Verhalten einwirken.
„Das Verhalten lenken“ („Conduire les conduites“), wie es Michel Foucault in seinem kanonischen Ausdruck formulierte, wobei die Metapher des Automobils nicht zu überhören ist. Die Fahrer hervorbringen. Und die Fahrer steuern.
Hier dient das Verbale nur dazu, auf das Nonverbale abzuzielen. Ähnlich wie bei der Hypnose. Übrigens löst, wie man weiß, das Autofahren einen leichten hypnotischen Zustand aus.
Die Vernunft tritt hier nicht als Vermittler auf.
Regieren bedeutet weder Vernunft walten zu lassen, damit das Bewusstsein seinerseits den Körper seinem Gesetz unterwirft, noch, es zur Vernunft zu bringen.
Man regiert nur freie Subjekte.
„Ein Individuum kann nur dann wirksam manipuliert werden, wenn es ein Gefühl der Freiheit empfindet.“ (Robert-Vincent Joule und Jean-Léon Beauvois, Kurzer Leitfaden der Manipulation zum Gebrauch für ehrbare Leute, 1987).
Also nicht die Körper zwingen, sondern vielmehr das künstliche Umfeld organisieren, in dem eine Bevölkerung lebt, sich ausdrückt und frei bewegt.
Man konfiguriert einen mentalen Raum, so wie man ein städtisches Milieu entwirft.
Im März 2010 veröffentlichten das englische Institute for Government und das Büro des Premierministers ein Dokument, in dem sie ihre Umstellung auf die „Verhaltenswissenschaften“ festhielten. Der Titel des Dokuments lautet „Mindspace, influencing behaviours through public policy“. Das Dokument beginnt wie folgt: „Die Beeinflussung des Verhaltens der Menschen ist für die Regierung nichts Neues“. Insofern ist das Regieren schon lange nicht mehr ausschließlich die Sache der Regierungen, denn ihre Methoden haben die Welt erobert. Sehen Sie sich die Statistik – die Wissenschaft des Staates – an, wie sie alles eingenommen hat. Im 17. Jahrhundert zählte William Petty mit Mühe die Häuser in Dublin und die Toten im Hôtel-Dieu. Heute zählen einige ihre täglichen Schritte und Big Data zeigt ihnen in Echtzeit die schnellste Route, um ans Ziel zu kommen. So weit geht das, dass man nunmehr auf die Idee kommen kann, das Klima zu regieren wie eine Stadt, die „globale Gesundheit“ ebenso zu regieren wie die „Gemeingüter“. Es geht nicht darum, dass die Regierung total wird, sondern darum, dass alles regiert werden muss.
Diese besondere Art der Machtausübung kann auf die Entstehung der politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert zurückgeführt werden. Ihr zufolge muss aus der Anarchie der individuellen Freiheiten durch das Wirken der unsichtbaren Hand der Märkte eine spontane soziale Ordnung entstehen – ordo ab chao.
Ebenso gut könnte man sie aus der Art und Weise ableiten, wie seit Ende des 19. Jahrhunderts nach und nach die alte autoritäre, disziplinarische, patriarchalische Macht durch das management ersetzt wurde, durch die Ausübung einer „weichen“, indirekten, einflussreichen Macht, deren Vorbild der Haushalt ist und die viel besser als Sie weiß, was gut für Sie ist – wie eine füllige, fürsorgliche Mutter. Denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnete management im Englischen zunächst die Sorge um Tiere, Kinder und nebenbei auch um ein Geschäft. Es hat keine Konnotation von gewaltsamer Disziplinierung. Vielmehr begleitet sie vorausschauend ein organisches Wachstum. Sie gibt weniger Befehle, sondern achtet darauf, dass auf der Ebene der Sachen bis ins kleinste Detail Ordnung herrscht – dass alles brav und ordentlich an seinem Platz ist.
Es ist dieses semantische Feld, das Taylor aufgreift, wenn er schreibt: „Unter wissenschaftlichem Management ist die Disziplinierung auf ihrem Minimum […] Dies ist eine der charakteristischen Eigenheiten des wissenschaftlichen Managements; es ist nicht Sklaverei; es ist Freundlichkeit; es ist Ausbildung.“ Henry Ford übersetzt das 1922 mit seinen Worten: „Unser Ziel ist es, durch materielle Organisation, durch Ausrüstung und durch Vereinfachung der Arbeitsabläufe dafür zu sorgen, dass Befehle überflüssig werden.“ Das Gegenstück zu dieser „spontanen Ordnung“ war damals bei Ford die ebenso spontane Verprügelung jedes Arbeiters, der sich gewerkschaftlich zu organisieren versuchte, durch die Meute von Tausenden von Ganoven und frisch aus dem Zuchthaus entlassenen Muskelpaketen, die das Ford Service Department bildeten. Fronde, Rebellion, Konfrontation, Ausbrüche: Die Formen der Revolte gegen die patriarchalische Autorität beherrscht jeder so ziemlich. Aber wie rebelliert man in einer riesigen Matrix ohne Außen, die alles betäubt, einen erstickt und es „gut mit einem meint“?
„Wie bringt man die Menschen dazu, aus freien Stücken das zu tun, was man von ihnen erwartet?“ So lässt sich die Regierungsfrage formulieren. Das ist die Frage, bei der alle Schlaumeier Einigkeit zelebrieren – der Marketingmanager, der seine Kunden nudged, der Minister, der seine neue Reform verkauft, der Personalchef, der mehr „Agilität“ in das Unternehmen zu bringen versucht, der Vermittler, das moderne Elternteil, das mit seinen Kindern überfordert ist, der Entwickler von Smartphone-Apps, der Stadtplaner, der sein Viertel zu „sanieren“ beabsichtigt, der professionelle Frauenheld, diejenige, die auf die Reaktionen ihrer Instagram-Follower achtet, der Mann, der auf Leboncoin den besten Preis für sein Fahrrad erzielen will, oder der Autofahrer, der von seinen Mitfahrern auf Blablacar gut bewertet werden möchte. Der Zugang zur Welt durch Regieren hat sich überall eingeschlichen und mit ihm sein wesentliches Paradoxon.
Dieses Paradoxon wird 1941 in einem Dialog zwischen Mead und Bateson in New York bei einer „Konferenz über Wissenschaft, Philosophie und Religion in ihrer Beziehung zur demokratischen Lebensweise“ mit seltener Klarheit erläutert. Mead fragt: „Ist die Umsetzung einer festgelegten Richtung nicht ein Aufruf zur Kontrolle? Und setzt die Kontrolle – die gemessene, berechnete, definierte Kontrolle, die Kontrolle, die wirklich ihr Ziel erreicht – nicht allein durch ihre Existenz die Demokratie außer Kraft, indem sie einige Menschen zur Ausübung der Kontrolle erhebt und alle anderen zu Opfern dieser Kontrolle degradiert? […] Indem wir Sozialwissenschaftler auf bestimmte Zwecke hinarbeiten, machen wir uns der Manipulation von Menschen und damit der Negierung der Demokratie schuldig.“ Auf diese alles in allem ehrliche Frage antwortet Bateson mit dem „Vorschlag, jeden Zweck zu verwerfen, um unseren Zweck zu erreichen“. „Wir sind uns zwar einig, dass ein gewisser Sinn für individuelle Autonomie, eine Denkungsart, die in gewisser Weise mit dem verbunden ist, was ich als ‚freien Willen‘ (free will) bezeichnet habe, für eine Demokratie wesentlich ist, aber wir sind uns nicht ganz klar darüber, wie diese Autonomie operativ definiert werden sollte. Was ist beispielsweise die Verbindung zwischen ‚Autonomie‘ und zwanghafter Negativität? Tankstellen, die sich weigern, sich an die Ausgangssperre zu halten – zeigen sie nun einen verfeinerten demokratischen Geist oder nicht? […] Wie würden wir das Labyrinth oder den Problembereich so manipulieren, dass die anthropomorphe Ratte einen wiederholten und verstärkten Eindruck von ihrer eigenen Freiheit erhält. […] Letztendlich ist der andauernde Konflikt ein Kampf auf Leben und Tod darüber, welche Rolle die Sozialwissenschaften bei der planerischen Gestaltung menschlicher Beziehungen spielen sollten. Es ist kaum eine Übertreibung, wenn ich sage, dass es in diesem Krieg ideologisch um diesen einen Punkt geht – die Rolle der Sozialwissenschaften. Wollen wir die Techniken und das Recht, die Völker zu manipulieren, dem Privileg einiger machthungriger, zweckorientierter und planender Individuen vorbehalten, auf die der instrumentelle Charakter der Wissenschaft eine besondere Anziehungskraft ausübt? Werden wir nun, da wir über die Techniken verfügen, kaltblütig die Menschen wie Dinge behandeln? Oder was werden wir mit diesen Techniken tun?“
Der weitere Verlauf der Geschichte und von Batesons Leben haben die bekannten Antworten auf diese Fragen geliefert.
Am anderen Ende seiner geschichtlichen Umlaufbahn gerät das Projekt, alles zu regieren, im Mund von Yuval Harari in Erregung, der im Januar 2020 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos spricht: „Wenn Sie genug Biologie kennen und genug Rechenleistung und genug Daten haben, können Sie meinen Körper, mein Gehirn und mein Leben hacken. Ein System, das uns besser versteht, als wir uns verstehen, kann unsere Gefühle und Entscheidungen vorhersagen, kann unsere Gefühle und Entscheidungen manipulieren und kann letztendlich Entscheidungen für uns treffen. […] Bald werden zumindest einige Unternehmen und Regierungen in der Lage sein, alle Leute systematisch zu hacken. Wir anderen Menschen sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir keine geheimnisvollen Seelen mehr sind. Wir sind jetzt hackbare Tiere“. (Yuval Harari, Wie man das 21. Jahrhundert überlebt)
Der leitende data scientist eines großen Unternehmens im Silicon Valley wirft anonym ein: „Konditionierung im großen Stil ist entscheidend für die neue Wissenschaft des Massen-Engineerings menschlichen Verhaltens.“
Larry Page erklärt 2016 gegenüber der Financial Times: „Unser oberstes Ziel ist das Gesellschaftliche. […] Wir brauchen einen revolutionären und keinen progressiven Wandel.“
Der CEO von Microsoft gerät 2017 vor einer Versammlung seiner Entwickler in Erstaunen: „Es ist verrückt zu sehen, welche Fortschritte in der Tiefe und Breite in unserer Gesellschaft, in unserer Wirtschaft gemacht werden; zu sehen, wie durchdringend unsere digitale Technologie ist.“ Er schließt seine Rede, indem er sie auffordert, „die Welt zu verändern“. Und er erhält Applaus.
Der CEO des chinesischen Unternehmens, das das dortige Sozialkreditsystem entwickelt hat, freut sich, dass es „dafür sorgt, dass schlechte Menschen keinen Platz in der Gesellschaft finden, und sich dann gute Menschen frei und ohne Hindernisse entwickeln können“.
In einem Zukunftsbericht über den Einsatz digitaler Werkzeuge für all die sich ankündigenden, appetitlichen Krisen schwärmt der französische Senat im Juni 2021 vom chinesischen Regierungsmodell. Unter der Prämisse, dass die „Wirksamkeit [der digitalen Werkzeuge] direkt mit ihrer Aufdringlichkeit zusammenhängt“, schlagen die Berichterstatter vor: „Schließlich könnten die digitalen Werkzeuge in den extremsten Krisensituationen eine effektive, umfassende und in Echtzeit erfolgende Kontrolle der Einhaltung der Beschränkungen durch die Bevölkerung ermöglichen, die gegebenenfalls mit abschreckenden Sanktionen und mit mehr Ausnahmen für die Nutzung persönlicher Daten verbunden ist.“
Die Kybernetik entstand als „Wissenschaft der Kontrolle und der Kommunikation“, als Wissenschaft der Kontrolle durch Kommunikation.
Die Kybernetisierung von allem ist das Regieren von allem.
Das Regierungsprojekt kann sich nur deshalb ruhig als Utopie für die Welt formulieren, weil seine menschliche Prämisse bereits in der täglichen Existenz verwirklicht wird.
Seine Voraussetzung ist, dass es Beziehungen nur von Äußerlichkeit zu Äußerlichkeit gibt.
Von Fremdheit zu Fremdheit.
Dass also alles Manipulation ist.
Dass es nirgends eine konsistente Verbindung gibt, sondern nur Bindende und Gebundene.
Weil es lange genug daran gearbeitet hat, uns zu Außerirdischen zu machen, kann es jetzt die Kolonisierung des Weltraums anstreben.
Und das als Zukunftsperspektive ausgeben.