Aus den Briefen von Wolfgang Pohrt
Aus Anlaß der gesammelten Briefe Wolfgang Pohrts einige Passagen daraus. Es geht ebenso dialektisch wie hypochondrisch über die moderne Medizin, ausprobiert an seinem eigenen Leib.
Stuttgart, den 22. September 1997
Lieber Herr Hofmann,
Sie sind nun wieder entlassen, also frei, und Ihre Frankfurter Freunde haben hoffentlich dafür gesorgt, daß Sie nicht hungern mußten. Das Essen in den hiesigen Genesungsanstalten macht Gesunde krank und schwach. Schade, daß Sie mich nicht vorher kurz anriefen. Mir teilten mal zwei Ärzte mit, ich solle mir unverzüglich eine geschwollene Lymphdrüse entfernen lassen, Verdacht auf Bösartigkeit. Ein dritter Arzt fand dann heraus, daß der Knubbel weder bösartig noch eine Drüse war, sondern simpler Knorpel. Seither fühle ich mich in medizinischen Angelegenheiten als Ratgeber kompetent.
Herzliche Grüße
Wolfgang Pohrt
Stuttgart, den 8. Oktober 1997
Lieber Herr Hofmann,
schön, daß Sie wieder bei Kräften sind. Manchmal hilft die Medizin ja doch. An fehlenden 20 Dollar kann man in vielen Teilen der Welt sterben, anderswo kommt das Überleben teurer. Auch hier wurde nach der Krankenhausreform die Kapazität der Intensivstationen erheblich reduziert. Es war schon immer so, daß Reiche länger leben als Arme. Alzheimer sorgt dann für die ausgleichende Gerechtigkeit.
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Herzliche Grüße
Wolfgang Pohrt
Stuttgart, den 16. November 1997
Lieber Herr Hofmann,
es wäre falsch, wenn ich sagen würde, daß ich mir Ihre Tage im Krankenhaus vorstellen kann. Wahrscheinlich können Sie selbst es nicht mehr. Über dies Unvermögen darf man umso froher sein, als man halt irgendwann in das Alter kommt, wo auf die eigene Natur nicht mehr unbedingt Verlaß ist.
Hing der eine Krankenhausaufenthalt mit dem anderen zusammen? Proust erzählt die Geschichte eines Mannes, der wegen eines schwachen Magens nur Diät vertrug. Endlich fand er einen Arzt, der das Magenleiden kurierte. Der Patient konnte ohne Beschwerden alles essen. Er tat es und war einen Monat später tot, weil er obendrein an einer symptomfreien Leberkrankheit litt. Der schwache Magen war sein Schutzengel gewesen, denn er hatte ihn zu genau der Diät gezwungen, die für das Überleben mit dem Leberleiden erforderlich gewesen war.
Ähnliche Fälle gibt es heute. Da stellt man bei Leuten genetisch bedingte Blutarmut fest. Der Defekt wird dank Gentechnik repariert, und Leute, die sich immer etwas schwächlich fühlten, genießen ihre neue Kraft. Aber nicht lange, denn bald stehen sie wegen Bluthochdrucks kurz vor dem Schlaganfall. Andere mit einer Störung der Fettresorption bekommen die fehlenden Enzyme, wodurch nun der Cholesterinspiegel und das Infarktrisiko rasant steigen - erzählte mir ein Arzt aus gegebenem Anlaß. Wenn man Beschwerden hat, gibt es dafür meist nicht eine Ursache, sondern mehrere. Der Organismus ist ein redundantes System, den Ausfall nur einer Funktion würde man kaum bemerken. Man leidet erst, wenn die Kompensationsmöglichkeiten erschöpft sind. Am besten, man wird sein eigener Arzt und lernt, was einem gut tut und was nicht. Streß tut überhaupt nicht gut - einer der Gründe, warum ich Ihren Beruf, der auch mal meiner war, nicht mehr machen möchte. Es kommt der Punkt, wo man für die Artikel mit seiner Gesundheit zahlt, ohne wenigstens den Gegenwert in Geld zu erhalten.
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Herzliche Grüße
Wolfgang Pohrt
Stuttgart, den 20. Juni 2014
Lieber Herr Gremliza,
mein Eindruck ist, dass Ärzte den Blutdruck gerne behandeln, weil es diese wunderbaren Pillen gibt. Sie führen sofort zu einem messbaren Ergebnis, im Alltag von Ärzten wie Patienten eine Rarität. Aber was ist damit gewonnen?
Der Blutdruck ist eine flexible Größe, und wenn der Organismus die Variable hochdreht, gibt es dafür vermutlich eine Ursache und einen Zweck. Der Sauerstoff werde knapp, könnte das Hirn zum Beispiel melden, wir brauchen mehr Druck, damit genug frisches Blut durch die Arterien kommt. Als Folge davon kontrahieren die Gefäße, und der Druck steigt.
Hoher Blutdruck ist ungesund, er belastet Herz und Gefäße. Aber er ist allemal gesünder als letztlich letaler Sauerstoffmangel im Hirn. Der Organismus entscheidet sich also für das kleinere Übel, und wenn man in seinen Regelkreis medikamentös eingreift, nimmt man ihm die Chance, eine Unterversorgung durch Druckaufbau zu kompensieren.
Die Mediziner stellen fest, dass Patienten mit hohem Blutdruck öfter Schlaganfälle erleiden als Probanden mit niedrigem Blutdruck, und sie schließen daraus auf einen Kausalzusammenhang. Es könnte sich beim hohen Blutdruck aber auch um den vergeblichen Versuch des Organismus handeln, einen Schlaganfall abzuwenden, der bei konstant niedrigem Blutdruck mit Sicherheit eingetreten wäre. Und wenn es sich im Einzelfall so verhält, ist die Wirkung des Blutdrucksenkers das Problem, nicht die Nebenwirkung.
Sie sehen schon, wenn sich ein Dialektiker und Hypochonder mit Medizin befasst, kommt er in Teufels Küche. Aber der Organismus ist eben tatsächlich ein dermaßen komplexes System, dass man nie weiß, was aufs Ganze gesehen dabei herausspringt, wenn man eine Schraube verstellt, in diesem Fall den Blutdruck.
Kennen wir das Phänomen nicht aus unserem Fachgebiet? Dachten wir nicht, die Staatsmacht wäre das Schlimmste, speziell in Diktaturen wie Syrien? Und was sehen wir jetzt? Dass die Staatsmacht das kleinere Übel war im Vergleich zu dem Riesenübel, dessen Ausdruck sie gewesen war.
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Dank für den Tipp mit dem Metoprolol Succinat, aber meine Bedenken sind grundsätzlicher Art. Die Medizin will den Blutdruck auf stets gleichem Niveau halten. Warum macht der Körper das nicht selbst? Warum kann er den Blutdruck hochregeln? Vermutlich doch, weil ein hoher Blutdruck unter Umständen das kleinere Übel ist. Zum Beispiel, wenn die zum Hirn führenden Arterien altersbedingt (Verkalkung) nur noch einen Teil ihres ursprünglichen Querschnitts besitzen. Für diesen Fall besteht die Möglichkeit, den Blutdruck hochzuregeln, damit das Hirn trotz engerer Arterien genug sauerstoffreiches Blut bekommt.
Senkt man den Blutdruck durch Medikamante, so greift man in diesen Regelkreis ein.
Ihr
Wolfgang Pohrt
Stuttgart, den 18. Juni 2015
Lieber Herr Gremliza,
Sie haben offensichtlich einen guten Arzt, einen Meister seines Faches, als Diagnostiker ein wahrer Künstler. Aber schon, wenn es um die Remissionskontrolle geht, wird auch dieser Künstler ungern auf moderne bildgebende Verfahren verzichten, welche die Diagnose auch für den minderbegabten Arzt zum Kinderspiel machen.
Und wenn aus dem Diagnostiker der Therapeut wird, ist es mit Ihren Privilegien Essig. Sie sind in einem Massenmarkt gelandet und in den Fängen der großen Industrie. Danken Sie dafür Gott oder wem immer Sie wollen, danken Sie ihren Vorkostern, von denen manche mit dem Leben bezahlt haben dürften für den Erkenntnisgewinn, von dem Sie profitieren.
Der Arzt muss auf konfektionierte Industrieprodukte zurückgreifen, wenn er Sie behandeln will. Ohne die platinhaltigen Verbindungen, die in den USA bereits auf dem Markt waren, als in Deutschland ein Pionier, der in Amerika gelernt hatte, seine familiären Beziehungen zur Metallgesellschaft nutzen musste, um hier mit solchem Material experimentieren zu können, läuft nichts. Auch Ihr Arzt kann vorrätig nur anwenden, was in der Klinikapotheke ist oder von ihr beschafft werden kann, weil es auf dem Markt ist, und Voraussetzung für die Anwendung ist, dass ihm die Guidelines der nach wie vor mit gewaltigem Vorsprung führenden amerikanischen Krebsgesellschaften bekannt sind.
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An meiner Leidensgeschichte mit dem dicken fand ich nur den Schluss Bein interessant, nämlich, dass es stimmt, dass den Ärzten die Antibiotika ausgehen, weil die Evolution schneller ist.
Herzliche Grüße
Ihr Wolfgang Pohrt
Stuttgart, den 31. Juli 2016
Lieber Herr Gremliza,
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Ramipril habe ich in ganz schlechter Erinnerung. Mein Hausarzt verschrieb mir den Blutdrucksenker, als ich ihn wegen transitorischer ischämischer Attacken aufsuchte. Prompt war die Attacke nicht mehr transitorisch, sondern dauerhaft: Mein erster Schlaganfall. Kein Wunder, wenn man den Druck in einer teilweise blockierten Leitung absenkt, riskiert man, dass nichts mehr durchgeht. Ich beschloss aber, die Pillen aufzubewahren, sie sind so schön klein. Sollte ich mal Schluss machen wollen, verspeise ich einfach von den Dingern eine gewaltige Überdosis. Dachte ich. Dieses Frühjahr war es weit. Ich bin nicht mal eingeschlafen.
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Ihr herzlich grüßender Wolfgang Pohrt